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XI Alter Sünder!

Es war am Abend vor dem Schlußball, als die dicke Therese von Arimathia bei Frau Hartjes vorsprach, um ein Plauderstündchen im allgemeinen zu halten und dann nebenher und so ganz im besonderen etliche Tagesfragen, Angelegenheiten des Paramentenvereins und diverse Neuigkeiten unter nähere Beleuchtung zu rücken.

Frau Hartjes hatte ihren Besuch auf das Sofa komplimentiert. Die Abendmahlzeit war schon lange beendet. Der Tisch stand gesäubert und war mit einer geblümten Spreite versehen. Die Stehlampe mit dem rosigen Gazeschleier warf einen gemütlichen Schein durch die Stube und war ganz dazu angetan, das anregende Gespräch der beiden Damen mit seinem milden Licht sanft zu verklären. Keine unliebsame Störung drängte sich unvermittelt in die behagliche Stimmung. Der Herr Rektor hatte sich bereits in sein Studierzimmer zurückgezogen, saß bei den Extemporalienheften seiner Quartaner und handhabte in aller Gemütsruhe und mit dem seelischen Gleichgewicht eines weltweisen Mannes den drakonischen Rotstift.

Die beiden fanden somit ein ungestörtes Operationsfeld, suchten es nach Kräften auszunutzen und ließen auch die kleinsten Details nicht außer Obacht. Auch in den entlegensten Ecken gab es noch immer so ein neugieriges Körnchen, das gepickt werden mußte. Die Paramentenangelegenheiten hatten bereits ihre Erledigung gefunden, von Karlo Antonio war man auf Luise, von Luise auf Bettje Theißen gesprungen, hatte die religiöse Bewegung splitterfasernackt entkleidet und war dabei einig geworden, der Regierungsgewalt einen mit Kuhdreck beschmierten Knüppel zwischen die Beine zu schieben, als Therese ihre gallertartigen Finger ergebungsvoll zusammenlegte, ihre Partnerin wehmütig ansah und in die trostlosen Worte ausbrach: »Ich kann mir nicht helfen, Frau Rektor, aber alles hat seine Schwungkraft verloren. Ich glaube, das Jüngste Gericht will kommen. Es ist 'ne Revolution in die Welt, wie mein Schwager Gertzen gesagt hat.«

»Wie meinen Sie das, Fräulein Therese?«

»Je, wie das so ist in die Welt!« sagte die Dicke. »Alles konträrig. Bettje Theißen wird täglich unverschämter und frecher. Ein dreckiger Spatz, der auf einem Roßapfel sitzt, ist eine unschuldsvolle Taube dagegen. Und dann erst das andere Wesen von weiblicher Herkunft ...! – Oben zu kurz und unten zu lang, während eine anständige Frauensperson doch im Gefühl hat, schon des Dekors halber, es in umgedrehter Weise zu machen, ganz partie egal, ob sie sich zur katholischen oder lutherschen Kirche rechnet; denn ich muß es doch immer für anständiger taxieren, sich die Strümpfe bekucken zu lassen, als mit 'nem weiblichen Ausschnitt und 'nem öffentlichen Oberkörper mang die Leute zu gehen.«

»Sie scheinen die Tanzmamsell im Auge zu haben,« sagte Frau Hartjes.

»Allerdings – ja,« meinte Therese, wobei sie das ›ja‹ unterstrich, als sollte es, gesperrt und mit fetten Lettern gedruckt, in irgendeinem klerikalen Käseblättchen erscheinen.

»Und Ihre Beweise?« fragte Frau Hartjes.

»Beweise ...?!« rief die dicke Therese entrüstet, »wo ich als Vertreterin und Jungfrau der ewigen Anbetung vor Ihnen sitze?! – Ich hab's mit eigenen Augen gesehen; ich habe an der Türe gestanden, wie sie mit puren Armen und oben zu kurzer Taille die männliche und weibliche Jugend mit's Tanzen belernte. Was würden Sie sagen, wenn ich mich so hinstellen täte?! – Ich frage gehorsamst, was würden Sie sagen, meine sehr verehrte Frau Präsidentin?! – Zugegeben: sie, was die Tanzmamsell ist, ist da oben man so'n bißchen power beschlagen; aber das tut nichts ... Die männliche Jugend ist auch für das Kleinste erkenntlich – und wenn ich mir dabei in Gedanken in die Lage von Julius Hoffmann versetze ...«

Sie schnappte nach Atem.

»Ach, du Herr Jeses ...!«

»Was ist denn mit dem?« fragte Frau Hartjes.

»Der?!« meinte Therese. »Ich bitte Ihnen, Frau Präsidentin! – So 'ne Augen macht Frau Hoffmann ihr Julius, wenn er durch die Scheiben der Turnhalle hindurchkuckt, Augen, die auf Stielen sitzen, genau wie'n Krebs, wenn ich ihn mit Dillsauce abgekocht habe.«

»Dann allerdings, Fräulein Therese ...«

»Ich hab's schon seiner Mutter gestochen,« redete sich die Erzürnte immer weiter in Harnisch, »aber was so Mütters bedeuten ...! – Sie haben kein Einsehn; aber ich habe ein solches und meine: bei so 'ner Komödie wird der dreizehnjährige Junge ja sündbar. Und wie das mit Julius aussieht, so ist das auch nicht besser mit Fränkel Haas aus die Kesselstraße beschaffen.«

Mit wem?« fragte Frau Hartjes.

»Mit Fränkel, dem Händler Abraham Haas sein Erzeugnis. Ich bitte Ihnen: Fränkel Haas, der Judenbengel mit die krölligen Haare ...! – Ganz verliebt ist der Schlingel. Immerzu will er mit die Tanzmamsell tanzen; und wenn er's tut, dann tut er's mit 'ner verliebten Alertheit, als täte David sich um die Bundeslade bewegen. Wie 'ne bockige Himmelsziege wirft er ihr dabei immer liebliche Blicke entgegen. Na – und die Beine ...! – Mit 'nem richtigen Akki weiß er sie schon in die nobelste Beleuchtung zu stellen, ganz egal, ob er dabei den andern auf die Hühneraugen herumtritt. Und das alles nur deshalb, weil sie in ihrer Ballgarderobe oben zu kurz und unten zu lang ist. Nackige Schultern sind was Böses auf Erden! – und dessentwegen haben sie sich schon duwelliert wie zwei preußische Herren Offiziere.«

»Weswegen?« fragte Frau Hartjes in höchster Erregung.

»Wegen die Tanzmamsell.«

»Und wer denn?«

»Na – Julius und Fränkel. Und er, was Fränkel ist, hat dabei 'nen Ochsenziemer aus Hose und Jacke gezogen, desgleichen der katholische Fechter 'nen Backstein, mit dem er sich vorher präpariert hatte, und so standen sich denn die katholische Kirche und das mosaische Judentum im Kampf gegenüber – Backstein und Ochsenziemer. Aber wie sich das gehört: der katholische Backstein hat dem Ochsenziemer ›Eine‹ übergehauen, daß Fränkels Backe nun aussieht, als habe sich dahinter ein ganzer Paradiesapfel verstochen. Und das alles nur von wegen des weiblichen Edelmanns mit die freien Manieren!«

»Das ist ja entsetzlich!« sagte Frau Hartjes.

»Ist es,« bestätigte Therese.

»Und weiß mein Mann, in seiner Eigenschaft als Rektor, als Erzieher der Jugend, von dieser höchst traurigen Sache?«

»Der?!« fragte die Dicke, »der ist ja selber ...«

Sie wollte noch mehr sagen, schnappte aber rechtzeitig ab, wie ein gewiegter Karpfen abschnappt, der noch im letzten Moment den tückischen Angelhaken erkannt hat.

Allein Frau Hartjes war helle geworden und warf jetzt ihrerseits einen kräftigen Angelhaken ins Wasser.

»Bitte, Fräulein Therese,« fragte sie dringlich, »was wollten Sie sagen?«

»Ich?! – Gar nichts, meine sehr verehrte Frau Paramentpräsidentin.«

»Ich muß Sie aber ernstlich ersuchen ...«

»Wieso denn?« fragte Therese mit einem Gesicht, als habe sie auch nicht das geringste zu verschweigen. »Ich weiß doch gar nicht ...«

»Sie haben aber soeben von meinem Mann gesprochen.«

»So?« meinte Therese, »daß ich nicht wüßte, und wenn ich's getan habe, so ist das man bloß ein pures Versehen gewesen.«

»Nein, nein, Fräulein Therese,« sagte Frau Hartjes und war dabei energisch in die Höhe gefahren, »Sie wollen mir ausweichen, Sie wollen nicht Farbe bekennen. Ich sehe mich daher genötigt, Sie bei Ihrer heiligsten Stelle zu fassen und Sie als Jungfrau der ewigen Anbetung zu fragen: was ist das mit meinem Mann gewesen?«

Die letzten Worte waren mit einer energischen Salbe bestrichen, und da ging das nicht anders: Therese mußte die Angel annehmen, tat's auch, wurde wie'n Fisch auf trockenen Boden geschmissen und sagte: »Na, denn, meine sehr verehrte Frau Präsidentin – der Herr Rektor bekuckt sich ja selber den weiblichen Edelmann mit dem lutherschen Ausschnitt, denn so was ist spanischer Pfeffer für derlei Sorte und regt den Appetit an. Aber ich bitte Sie bei allen Nothelfern und der alleinseligmachenden Kirche ...!«

Wie beschwörend hatte sie ihre fetten Hände in die Höhe gehoben.

»Therese ...!« wollte die arme Frau Hartjes noch rufen, allein ihre Kräfte versagten. Über ihre blanken Augen liefen düstere Schatten. Sie sah noch etwas Rosiges in ungewissen Konturen aufleuchten – und das war der Gazeschleier über der brennenden Lampe. Sie sah einen unbestimmten, weißlichen Flecken – und das schien ihr Brautkränzlein zu sein, das in seiner ganzen Unschuld und Jungfräulichkeit aus dem verschlossenen Glasspind hervorlächelte. Aber was war das?! – Hingen nicht blutige Tröpfchen an den einzelnen Blüten ...?!

Die Armste wußte es nicht; sie hatte überhaupt kein Verständnis mehr für die Einzelheiten des äußeren Lebens.

War sie überhaupt noch in ihrem eigenen Hause ...?!

Vom nahegelegenen Rathaus setzte die Uhr ein.

»Neun Uhr,« sagte Therese von Arimathia in tiefer Beklemmung.

Ja – es war neun Uhr unter dem Monde geworden, und der Herr Rektor saß noch immer in seinem Studierzimmer und korrigierte die lateinischen Extemporalienhefte seiner Quartaner. Mit seiner Frau hatte er noch immer keinen dauernden Frieden geschlossen. Das erlösende Wort war bis heute unausgesprochen geblieben. Eine Art von Resignation hatte sich seiner bemächtigt.

Hier zwischen seinen Bücherregalen jedoch fühlte er sich wie ein König in einem glücklichen Lande. Da saß er dann so recht bequem in seinem behaglichen Rohrstuhl, um sinnend und ruhevoll die große Heerschau über Vergangenheit und Zukunft zu halten. Und da standen sie alle in schlichten Bänden, die ihm das Leben versüßten: die klassischen Alten, im Urtext und in der Übertragung von Donner, die es verstanden hatten, die geistvollen, unruhigen Sprünge aus seinen Studentenjahren in das Flachland stiller Erbauung zu lenken. Er hatte aus ihnen geschöpft, wie ein Durstiger aus einem kristallklaren Quell schöpft, und hatte Erquickung gefunden. Sophokles, Euripides ...! – da standen sie in Halbfranzbänden in der untersten Reihe, und er nahm sie zur Hand, wenn breiter, strahlender Sonnenschein über die Dächer flutete, wenn ein großer Gedanke seine Seele bewegte. Aber des Abends, so in den Dämmerstunden herum, wenn die Fledermäuse verliebte Schwenkungen machten und Frau Petronella während der Abendmahlzeit versucht hatte, mit seinem Fuß in Berührung zu kommen, dann langte er sich, bevor er zur Ruhe ging, eine etwas anders geartete Lektüre vom Büchergestell. Aber klassisch, antik blieb er unter jeder Bedingung, sei es nun, daß er sich an Plautus' Komödien oder an des lustigen Ovid Metamorphosen erbaute. Ja, ja, ja – dieser Publius Ovidius Naso ...! – wie der zu plaudern vermochte! – Und war er ganz besonders bei Laune, griff er in einen sehr entlegenen Winkel und brachte ein ganz schmales Bändchen, und zwar des Petronius Arbiter Gastmahl des Trimalchio, zum Vorschein und spazierte in dessen Schilderungen herum, als wenn er durch ein Schlaraffenland ginge. O, o, o! – er hatte es schon faustdick hinter den Ohren – der ehrsame Rektor! – Aber das war jetzt anders geworden, seit Monaten anders geworden.

Die leichtgeschürzte Muse war ihm zuwider, asketische Anwandlungen überkamen ihn, und wäre der Eurotas in der Nähe vorbeigeflossen, eigenhändig hätte er sich Schilf und Röhricht am Ufer geschnitten, um es den spartanischen Jünglingen gleich zu tun und sich von Verweichlichung und niederen Leidenschaften nicht mehr knechten zu lassen. Mann sein, dem Weib imponieren, im richtigen Moment seine Selbstbeherrschung bewahren – das hatte er sich als Richtschnur seiner Lebensweise vorgezeichnet, und zwar von dem großen Moment an, wie ihm Petronella wegen der gesäuberten Themis eine so unliebsame Szene gemacht hatte. Unvergeßlich war er sich selber geblieben: wie er da stand, wie er den Cornelius Nepos emporhob und dann mit der ganzen Bitterkeit seines gequälten Herzens in den Spiegel hineinwarf. Das war eines Helden würdig gewesen; er fühlte sich jetzt noch gehoben, wenn er dieses erhabenen Augenblicks gedachte. Eine gewisse Schwungkraft, eine Art von Selbstbewußtsein war in ihm, und wenn rückfällige Anwandlungen kamen, wenn Frau Petronella, in richtiger Erkenntnis der Dinge, sich mit ihm aussöhnen wollte – er blieb seinem Grundsatz treu und schluckte auch die süßeste Lockung, gleichsam wie eine bittere, aber heilsame Pille herunter. So auch heute ...

Schon zu wiederholten Malen hatte er so eine unangenehme Pille verschlungen, hatte sich aber tapfer gehalten und war nunmehr damit beschäftigt, die Hefte seiner Quartaner unter Rotstift zu nehmen.

Bis jetzt war er zufrieden mit dem Stand seiner Klasse und lächelte vergnügt vor sich hin, als sich plötzlich sein Spitzmausgesicht merklich entstellte, und er in die Worte ausbrach: »Aber was soll das?! – Julius, wo hast du deine Gedanken gelassen? – Schon wieder ein Verstoß gegen den Accusativus cum infinitivo! – und hier: › ut‹ mit dem Indicativ ... Das ist ja himmelschreiend, entsetzlich!«

Mit einem energischen Ruck setzte er ›mangelhaft‹ unter das lateinische Machwerk.

»Man weiter ...«

Die folgenden Extemporalien gingen.

»Gott sei gedankt!« sagte der Rektor.

Die letzte Arbeit war ihm unter die Finger gekommen. Das Heft duftete zwar so'n bißchen nach Pomade und Knoblauch, war aber sonst proper gehalten.

»Der Primus,« sagte Franz Hartjes, denn auf dem Deckel lächelte ihm ›Fränkel Haas‹ in flüssiger Kurrentschrift entgegen. Darunter war ein zierlicher Schnörkel gezogen. Mit einem gewissen Wohlbehagen machte sich der Gestrenge daran, das Heft seines Lieblingsschülers auf sich wirken zu lassen. Wie immer, so gedachte er auch heute ›lobenswert‹ unter die Arbeit setzen zu können, wurde aber aus allen Himmeln gerissen, als er schon bei den ersten Zeilen über einen Schnitzer stolperte, der daumensdick war und einen Kopf hatte, als wäre er ein kleines Meerungetüm, eine Art von Knurrhahn gewesen, eine Erkenntnis, die ihn fassungslos machte, als er gleich darauf über einen zweiten Knurrhahn hinweg mußte, der mit einem noch dickeren Kopf aufwarten konnte.

»Auch du, Brutus Haas!« seufzte der Rektor und bekam den Rotstift fester zu packen. »Und hier,« seufzte er abermals, »keine Spur mehr von den einfachsten Grundsätzen der Syntax! – Und hier auf dem Löschblatt: Pauline, Pauline, Pauline ...! – Was heißt das?! – Was bedeutet ›Pauline‹ ...? – Ungenügend.«

Mit einer tragischen Geste legte er den Rotstift beiseite, erhob sich und streckte die Hand über das vor ihm liegende Heft aus.

»Ich will doch nicht hoffen ...« sagte er mit einer gewissen Erregung, »aber ich kann mir nicht helfen: ich lese immer ›Pauline‹. – Fränkel Haas, wer ist diese ›Pauline‹?! – Die Angelegenheit muß eruiert werden. – Ich glaube, sie hat drei Stunden Arrest im Gefolge. – O, o, o! – Fränkel, respice finem

Fuchsteufelswild packte er des Decimus Junius Juvenalis zweite Satire beim Wickel und begann aus dem Stegreif zu toben:

»Über die Sauromaten hinaus und über das Eismeer
Möchte von hinnen man fliehn, wenn solche Dinge man ansieht ...!«

Der Herr Rektor war zum Schultyrannen geworden, allein dieser Zustand währte nicht lange. Er legte die Hefte zusammen, setzte die neben ihm stehende Pfeife in Brand und glitt mit einem halben Blick über die sauber ausgerichteten Bücherregale. Das wirkte besänftigend. Der catonische Eifer verflog, und der gutmütige Franz Hartjes kam wieder zum Vorschein.

Mit sanftem Gemüt und sanften Schlappantoffeln durchmaß er die Dielen seines Studierzimmers nach Länge und Breite, wobei er sich Beobachtungen hingab, die das Gebiet seiner asketischen Lebensweise berührten. Er war ordentlich stolz auf seine Erfolge, und wenn ihm auch zeitweilig der feine, sinnliche Duft Ovidischer Poesie in die Nasenlöcher hineinkitzelte – kraft seines Heldentums verstand er es, diesen aufdringlichen Duft zu ignorieren, fühlte sich als ein Mann, dem die Leidenschaften nichts mehr anhaben konnten, und zitierte, gewissermaßen um sein eigenes Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, die bedeutungsvollen Herderschen Verse aus Polykarp, wobei er den Fuß anhielt, dafür aber sein Weichselrohr kräftig auf und niederbewegte:

»Tapfer ist der Löwensieger
Tapfer ist der Weltbezwinger,
Tapfrer, wer sich selbst bezwang.«

Den letzten Vers wiederholte er noch einmal, aber würdiger, bestimmter wie zuvor und mit einem getragenen Pathos, wobei er gleichzeitig mit dem Knopf der langen Hornspitze auf sein blankes Schemischen tippte.

»Ich,« sagte Franz Hartjes.

Er hatte sich also selber ein glänzendes Zeugnis ausgestellt, war zufrieden damit und ließ sich wiederum und in aller Gemächlichkeit in seinen Rohrsessel nieder.

In voller Seelenharmonie blies er kregele Rauchwölkchen aufwärts, blinzelte ins Licht und gab sich angenehmen Träumereien hin, die ihn ganz sachte und mit epischer Behaglichkeit in seine Jugendjahre versetzen.

So mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als ein feiner Dämmer vor seinen Blicken stand, der stetig an Ausdehnung gewann und ihm den Kopf wie schlaftrunken auf die Weste herabdrückte.

Die Pfeife war seinen Händen entglitten.

Draußen bewegten sich leise Schritte nach oben. Dann war es ihm so, als würden in der Schlafstube nebenan etliche Schubladen gerückt. Gleich darauf vermeinte er, das fast geräuschlose Öffnen der Zimmertüre zu hören – und dann ...

Eine zärtliche Stimme klang ihm entgegen.

»Franziskus ...!«

Jählings fuhr er aus seinem lethargischen Zustand. Ein würgendes Gefühl, das mit einem seltsamen Schauer gepaart war, hatte den armen Philologen ergriffen.

Wie aus tiefem Traume erwachend, riß er die Augen auf.

Frau Petronella war leise ins Zimmer getreten. Da stand sie wieder: die Lust und Misere seines Lebens. Diese ewigen Nadelstiche, diese Plackereien, diese ständigen Eifersuchtsszenen – er sah sie leibhaftig vor sich, aber er sah auch, wie die weiche Fülle der vor ihm Stehenden noch immer Reize aufweisen konnte, die nichts mit den Ahnungen fröstelnder Herbsttage gemein hatten.

Frau Petronella war in ihrer Frisierjacke erschienen, hatte alles Gehörte und alle Bitternis beiseite geschoben und war mit dem Vorsatz gekommen, ihren Gatten in möglichst schonender Weise von dem breiten Wege des Lasters auf den schmalen Pfad der Erkenntnis zurückzugeleiten, und daher ...

Frau Petronella war mit elegischen Ausdruck näher getreten.

»Franziskus, willst du nicht schlafen gehen?« fragte sie weich und mit einer fast seidenen Stimme.

»Danke; ich will mich noch an der tragischen Muse eines Sophokles erbauen,« sagte Herr Hartjes und versuchte mit den Blicken aus dem gefährlichen Bannkreis seines Weibes zu kommen.

»Laß doch die alten Griechen und Römer. Sie lenken dich ab – und du hast Pflichten, heilige Pflichten, die du nicht abschütteln kannst wie Schneeflocken. Sieh – ich bin ja zur Versöhnung geneigt. Die Kirche gebietet ein gemeinschaftliches und erbauliches Leben zwischen den Eheleuten.«

»So?«

»Ja.«

»Dann muß ich leider bedauern ...«

»Franziskus!«

Ihre Stimme bekam einen herben Anflug. Die Wangen röteten sich, während sie mit nervösen Fingern an ihrem Haar nestelte.

»Dir fehlt was, du bist anders geworden, was mir nicht gefällt,« sagte sie leise, aber mit aller Bestimmtheit. »Um dich zu erbauen, brauchst du nicht zu den alten Heiden zu fliehen. Du hast einen besseren Zufluchtsort – ein christliches Herz, das dich liebevoll aufnehmen dürfte.«

Sie war bis in den vollen Bereich der Lampe getreten.

Der milde Schein des Lichtes wurde zu einer blendenden Helle, die sich wie verklärend über ihren sanften Nacken und die wohlgerundeten Arme legte. Eine sommerliche Reife ging von ihnen aus – und dazu der regelmäßige Mund, die noch immer schöne Biegung des Halsansatzes und die weiche Fülle des frauenhaften Körpers ...! – Ja, Frau Petronella hatte noch Reize, obgleich sie bereits in die Jahre gekommen und von einer gewissen Korpulenz nicht mehr frei war. Sie hatte schon etwas, das zu blenden und zu fesseln verstand. Und dann die wirklich ausgesprochene Milde in ihren schuldlosen Augen ...!

Der arme Rektor stand Tantalusqualen aus. Mit entsagendem Heimweh sah er auf den glänzenden Stern der Verlockung, den er kraft seines eigenen Willens in alle Fernen geschleudert hatte. Ob er ihn herabholen sollte? – Ob er stark bleiben würde? – und er ertappte sich dabei, wie er sich bereits erwägenden Betrachtungen hingab und gesonnen schien, die Feder zu ergreifen, um den vorgeschlagenen Pakt zu betätigen. Er brauchte nur seine Finger zu strecken ...

Eine Minute verging.

Frau Petronella glaubte schon, triumphieren zu können.

Sie hatte die Hand leicht auf seine Schulter gelegt; aus ihrer Nähe kam wieder jener sonderbare Hauch her, der ihm so oft gefährlich geworden war und seine besten Vorsätze vernichtet hatte, als wären sie nichts weiter wie umgelegte Halme gewesen.

Ein verzehrender Durst hatte sich seiner bemächtigt ... und die Lampe brannte so heimlich und strahlte so ein friedliches Licht aus.

Ein knisterndes Geräusch unterbrach die trauliche Stille.

Frau Petronella hatte sich über ihn gebeugt.

»Komm,« sagte sie ruhig.

Er sah sie mit großen Augen an.

»Ich bitte dich, lieber Franziskus.«

Er horchte auf die verführerische Stimme. Sie dünkte ihm wie Sirenengesang. Sollte das den Zusammenbruch seiner jetzigen Lebensweisheit bedeuten? Er rang mit unfaßbaren, seltsamen Empfindungen, die ihn nicht loslassen wollten. Schon fühlte er sich von unentrinnbaren Netzen umsponnen, als sein Blick auf ein unscheinbares Büchlein fiel, das unter den Extemporalienheften hervorsah.

»Mann sein, sich nicht knechten lassen von den Launen des Weibes,« dieses Glaubensbekenntnis schoß ihm wie eine Erleuchtung durch die erregten Sinne.

Er riß sich auf und ergriff den Cornelius Nepos.

»Ich entsage,« rief er mit Aufbietung der ihm noch verbliebenen Willenskraft, indem er den Band wie beschwörend emporhielt, »denn hier steht geschrieben, wie sich illüstre Männer zu verhalten haben.«

»Und du kommst nicht?« fragte sie drohend.

»Nein – ich verzichte auf alles und jedes. Ich will keinen Vergleich, ich will keinen häuslichen Frieden; ich entsage und werde hier auf dem Sofa kampieren.«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Frau Petronella hatte alle Fassung und Selbstbeherrschung verloren.

»Also – du willst nicht?!« fragte sie mit zuckenden Lippen.

Wie ein starrer Römer die Enden seiner Toga, so warf Herr Hartjes die Zipfel seines bereits etwas schadhaften Schlafrockes beiseite, als sei er gewillt, die beiden grimmigen Anticatonen Cäsars vom Stapel zu lassen. Ja – Herr Hartjes war wirklich zu einem starren und unerbittlichen Römer geworden.

»Nein,« entgegnete er unter Selbstverleugnung seiner innersten Gefühle und Regungen.

»Und da willst du mir weis machen wollen, da willst du dir einreden, daß du mir lediglich aus versetztem Ehrgeiz so kommst?! – daß lediglich die Geschichte mit der verfluchten Themis unserer Versöhnung im Wege steht?!«

»Ja.«

»So schleudere ich dir den Namen ›Pauline‹ entgegen!«

»Was – wer – wie ...?!«

»Pauline!«

»Doch nicht meinem Quartaner Fränkel Haas seine Pauline?!«

»Alter Sünder!« rief sie verächtlich, »ich werde dir schon deine interessanten Sprünge vertreiben. Pfui!«

Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, war sie mit einer gehörigen Portion Galle im Herzen, mit ihrer Frisierjacke und ihrer stattlichen Fülle in die Schlafstube gegangen.

»Kuckuck!« machte die Kuckucksuhr.

Herr Franz Hartjes drehte sich um und um. Mit beiden Händen griff er an die hämmernden Schläfen.

»Kuckuck! – Alter Sünder! – Pauline ...!«

Er wußte nicht mehr, was um ihn vorging. Allein er hatte ein reines Gewissen, und mit diesem reinen Gewissen legte er sich der Länge nach aufs Sofa und bettete sein armes Dulderhaupt auf die mit Glasperlen gestickte Schlummerrolle, die ihm Frau Petronella noch bei seinem vorletzten Namenstag spendiert hatte.

Sein Kopf war wie ein wimmelnder Ameisenhaufen. Das kribbelte und krabbelte – und war ein unausstehliches Wirren und Schwirren!

»Kuckuck! – Alter Sünder! – Pauline ...!«

Er sah ein großes Drehbrett vor Augen. Der Zeiger schnurrte im Kreise herum. An Stelle der Gewinne waren die Worte angebracht: Kuckuck – alter Sünder – Pauline.

Der Zeiger blieb auf ›alter Sünder‹ stehen.

Herr Hartjes tat einen tiefen Seufzer und rezitierte:

»Tapfer ist der Löwensieger ...«

Er kam nicht weiter; aber er lächelte – und durch das Studierzimmer ging bald darauf ein sanftes, harmonisches Schnarchen.

Gute Nacht!


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