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XVI Stoßt an! Herr Sauerbier lebe! Hurra hoch!

Das war ja die Sünde gewesen ...!

Nichts vergeht! – Heimlich und still, aber totensicher nimmt das Unabänderliche seinen Weg. Alles und jedes, was in der Seele Wurzeln geschlagen, dann scheinbar verwelkt und abstirbt – die leiseste Regung, der geheimste Odem bringt es wieder zum Leben. Nichts vergeht; alles kommt wieder.

Luise stand in ihrem Zimmer und hatte das Fenster geöffnet. Ein warmer Hauch nach Flieder und keimender Erde stieg herauf und legte sich um ihr Fühlen und Denken. So wie sie gekommen war, noch ganz befangen von dem, was mit aller Gewalt auf sie eingedrängt hatte, so stand sie noch jetzt. Wie sollte das enden?! – Pflichtbewußt, sein ...?! – Die Gesetze der Kirche, die menschliche Ordnung ...?! – Alles nur Kartenhäuser, wenn die Leidenschaften sich regen und herrisch ihre angemaßten Rechte verlangen! – Fragt der Sturm danach, wenn er kommt und die jungen Blüten vom Baume bricht?! – Er war eben da, ließ sich nicht scheuchen – und wenn er ginge ... Ja, wenn er ginge ...! – Das war es ja eben: nichts vergeht, und wenn es auch tot scheint – alles kommt wieder.

Dicht unter ihrem Fenster hatte sich ein Heller Lichtbalken schräg über die Erde gebreitet. Er kam aus dem Wohnzimmer, wo ihr Mann noch über seine Pläne gebückt saß, die er morgen dem Kirchenrate vorzulegen gedachte. Seit Wochen schaffte er eifrig – und sie hier oben ... ? – Sie war mit ihrer Seele fern, weit fort von dem Ringen und der Not ihres Mannes und sog mit gierigen Zügen die Luft ein, die aus den schwarzen Wäldern von Moyland herwehte. Tiefe Einsamkeit lagerte über den Gärten. Jenseits des Zimmerplatzes flämmerte ein einsames Lämpchen. Sie wußte: mit der alten Baronin war es eher schlimmer denn besser geworden. Ab und zu schwankte ein eiliger Schatten an der matterleuchteten Gardine vorüber. Sie kannte den Schatten. Sie hatte Mitleid mit den armen Leuten da drüben. Aber das half nichts; sie war ja selber mitleidbedürftig. Wer doch das brutale Wachsein ihres Geistes einschläfern könnte! – Niemand war bei ihr, wie nur das seltsame Flüstern und Raunen, das durch die Nacht zog und heimlich ihre Schläfe umspielte. Immer verlockender kam der Duft der Fliederblüten herüber. Ihre Seele war ratlos geworden. Eine Art von Betäubung ging über sie hin, und da empfand sie den unwiderstehlichen Drang, das Bedürfnis, sich dem Nichts, dem Vergessen, dem Unbekannten zu opfern, ganz unbekümmert darum, was kommen würde. Wirklich die Liebe durchleben ... an seiner Brust erschauern ... ganz Weib sein ... In tiefer Sehnsucht hielt sie die Arme gebreitet ...

Leise, geräuschlos fiel eine Schnuppe am nächtigen Himmel. Fern, jenseits der schwarzen Wälder verschwand sie. – – –

Es war kein Geheimnis mehr – das mit den geknifften Kanzleibogen. Anderen Tages schlüpfte es wie ein Mäuschen über die Dielen, dann wie zehn Mäuschen, dann wie hundert Mäuschen – dann wie gefräßige, fette Ratten, die durch alle Ritzen drangen, in die Häuser hineinsprangen und frech aller Welt in die Augen hineinsahen, als wenn sie sagen wollten: »Seht, Kinder, da sind wir!« – Und die dicke Therese sorgte dafür, daß diese Unheilsträger immer gemästeter und wanstiger wurden, Junge bekamen, um auf diese Art weiter lärmen und quieksen zu können: »Seht, Kinder, da sind wir!« – und das alles wegen des Briefes aus Münster, auf dessen Siegel sich Krummstab und Bischofsmütze befanden. Die Vernünftigen schüttelten die Köpfe, aber die Unvernünftigen, die Verbohrten ...

»Na, Gertzen,« sagte Pitt Hoffmann, »ist das nicht 'ne große Bedeutung und 'ne großartige Sache! – Der Herr Generalvikarius, hat ihm nu endlich die patriotische Blasepfeife entzweigeschlagen, denn wir können nur strenggläubige Klarinetten gebrauchen. Heute abend geht's ab; der Herr Vikarius vertritt ihn. Die Koffer sind schon gepackt, und wenn Stäwe mit ihm losfährt, kann ihm Herr Piepmann noch 'nen extrafeinen Trauermarsch nachpfeifen.«

»Pitt, das freut mir aber kolosal,« erwiderte Gertzen. »Nu muß der Kerl mit der großen Reputatschon wohl von seinem Thronsitz herunter?«

»Das muß er.«

»Aber der Mann hat seine Planens doch schon zu Papier gebracht!«

»Und du ...?« fragte Pitt.

»Ich habe die meinen im Koppe.«

»Dann bringe sie auch man zu Papier,« sagte Pitt Hoffmann mit einer Gönnermiene, als habe er ein kleines Großherzogtum zu vergeben. »Heute nachmittag ist Kirchenratssitzung; da läßt sich ein übriges tun, denn man kann bei so 'ner Sache – und da meine ich mir mit – immer noch 'nen anderen Dreh herausdividieren, denn kiek mal: da auf dem Tisch steht ein Schnäpschen Wacholder.«

»Schön.«

»Und da glaubst du, daß das Schnäpschen für dich eingeschonken wäre?«

»Warüm nicht?«

»Da hast du aber daneben geglaubt,« lachte Pitt Hoffmann, »das hat Mama für mich eingeschonken,« und damit nahm er das Gläschen und schüttete es sich ganz bedächtig hinter die Weste. »Und wie das mit dem Schnäpschen ist, so ist das im umgedrehten Kasus mit dem Turmhelm. Wesselink glaubt, er bekäme ihn, aber dann bist du noch da, nimmst das Gläschen und trinkst es vor seinen leibhaftigen Augen herunter.«

»Pitt,« sagte Grades Gertzen gerührt, »du bist ja ein ganz kolosaler Feldherr mit's Denken, und ich glaube, du kannst, wenn's drauf ankommt, Tote wieder lebendig machen.«

»Ich werde mich hüten, aber für dich einstehn, das werd' ich heute bei der Kirchenratssitzung. Außerdem invitiere ich dich, morgen zu der großen Volksberatung zu kommen. Die ganze ›Concordia‹ macht auch hin, und da wollen wir sehen, wer recht hat – der Papst oder Bismarck, und ob sie die Herrn Kapläne mit ihren Sperrgesetzen auspowern können.«

»Höhö!« lachte Gertzen.

»Was gibt's da zu lachen? – man sollte vielmehr weinen wie die Juden in der babylonischen Wüste Sahara.«

»O, nix nicht!« meinte Grades, »es war nur eine kolosale Erfreuung für mir, wie sie nu die Herren armen Kapläne benennen.«

»Na, wie denn?«

»Sperlinge.«

»Guter Witz,« konstatierte Pitt Hoffmann, »aber so'n Hauptsperling wird morgen reden – und ich werde reden – und Karlo Antonio wird reden – und wenn's not tut, haut er noch mit seinem Zuavensäbel mang die liberale Package. Und wenn alles vorbei ist, dann wird noch im Lokal ein pläsierlicher Abend gefeiert, denn die Hauptsache ist, daß der Mann mit der patriotischen Blasepfeife uns zulängst unter der Nase klaviert hat.«

»Pitt, das gibt ja 'ne Revolutschon!«

»Wenn auch – und du kriegst den Turmhelm. – Mama, zwei Wacholder!« –

Es war kein Geheimnis mehr. – Pitt Hoffmann hatte die ganze Sachlage schon richtig erkannt und prompt auseinander gehäkelt. Mit der nämlichen Post wie Joseph von Arimathia hatte auch Doktor Steinberger ein dringliches Schreiben erhalten. Die Kuvertierung der beiden Briefe war völlig identisch, nur inhaltlich schlugen sie einen ganz verschiedenen Ton an, wenngleich sie auch in jeder Hinsicht vollkommen sachlich gehalten waren. Rechtfertigung in eigener Person, eventuelle spätere Verwendung vorbehalten – mit diesem Inhalt hatte sich Doktor Steinberger abzufinden, und er tat es mit einem stoischen Lächeln. In aller Ruhe traf er seine Anordnungen. Er wollte mit der Abendpost zu einem befreundeten Konfrater nach Kleve reisen, um sich anderen Tages persönlich in Münster zu stellen; was dann weiter kommen werde, müsse die Zeit lehren. Alle Formalitäten, wie Aushändigung der Schlüssel, Übergabe der Kirchenbücher, waren erledigt. Der Mittag ging hin. Unter dem Vorsitz Josephs von Arimathia nahm die anberaumte Kirchenratssitzung einen regelrechten Verlauf. Die Leutchen waren so einig wie selten. Alle gackerten, wie der Herr Vorsitzende krähte, legten wie gesinnungstüchtige Hennen ihre Stimmeier auf die nämliche Stelle, und Joseph von Arimathia bedeckte sie mit seinem Hut und sagte: »Ich danke Ihnen, meine Herren, bitte aber, das Resultat noch geheim halten zu wollen, da ich darüber in meiner Weise zu verfügen gedenke.«

Zur höheren Ehre Gottes geschah das.

Während der Sitzung war der gemaßregelte Dechant auch seinerseits nicht müßig gewesen. Die ihm vor der Abfahrt noch verbleibende Zeit hatte er dazu benutzt, bei ihm liebgewordenen Familien Abschiedsbesuche zu machen. Er ging zum Notar, zu Doktor Horré und zur Familie Hartjes. Sogar bei der alten Baronin, obgleich sie protestantisch war, war er gewesen, hatte ihr Trost zugesprochen und manches liebe und gute Wort an das kranke Herz gelegt. Als er sich verabschiedete und von der Tanzmamsell bis zur Hausschwelle begleitet wurde, da sah ihm die Alte mit feuchten Augen nach und sagte: »Da geht der Friede,« und dann legte sie gottergeben die Hände zusammen und betrachtete in stiller Wehmut die Sevresporzellantasse, über welche die liebe Abendsonne mit einem schmerzlichen Lächeln hinwegglitt. Bettje Theißen aber stand hinter den Scheiben und weinte. – Bald darauf verlieh der Dechant mit Johannes Wesselink, bei dem er ebenfalls angerufen hatte, das Haus, teilte dem Posthalter noch mit, daß er erst vor dem Tore einsteigen würde, und ging mit dem jungen Zimmermeister auf der Klever Landstraße in Richtung auf Moyland.

Ein warmer, laulicher Frühlingsabend lag über den Wiesen, die ihre Grashalme leise auf und nieder bewegten. Das Schaumkraut blühte. Mit zieren Fingern hatte es seine bläulichen Schleier von Fläche zu Fläche gehäkelt – bläuliche Schleier, die sich eng umfingen, ins Ungemessene wuchsen und sich erst bei den fernen Teichen ins Wesenlose verloren. Aus diesem Blütenrausch stiegen vereinzelte Lerchen zum Himmel.

Eine geraume Wegestrecke lang waren die beiden Männer wortlos nebeneinander gegangen. An einer Biegung der Landstraße aber blieben sie wie auf Verabredung stehn.

Der Dechant reckte sich auf. Mit einem wehmütigen Blick glitt sein Auge über die blühende niederrheinische Erde. So stand er lange und in stiller Betrachtung.

»Und von dem soll ich Abschied nehmen ...« sagte er schließlich. Es klang so, als hätte er zu sich selber gesprochen. Johannes Wesselink war dicht an seine Seite getreten. Er empfand – hier war wirkliche Andacht, hier tat eine liebe Seele den Mund auf.

Doktor Steinberger wandte sich.

»Um das trauern auch Sie,« sagte er in tiefer Bewegung und ergriff die Hand des ihm liebgewordenen Mannes. »Die Erde ist schön und gut,« sprach er weiter, »aber viele Menschen sind nicht gut – und die es sein könnten, bei denen ist Wirrnis. Du sollst Heimat und Vaterland lieben und nicht alles Heil von jenseits der Berge erwarten; das sollten die Menschen beherzigen. Aber tun es die Menschen? – Du sollst gute Saat streuen, damit du eine gute Ernte hast; das sollten die Menschen erwägen. Aber tun es die Menschen? – Es ist mir weh und wund ums Herz wegen der Heimat.«

Er schwieg eine Weile, dann begann er wieder aufs neue zu sprechen: »Was uns der Nazarener hinterließ, ist erhaben – ist göttliche Wahrheit. Folget ihm nach! – Aber tun es die Menschen? – Seine Lehre ist eine Lehre der Nächstenliebe und des Friedens. Allein die Menschen tragen den Herrsch- und Regierteufel hinein und bringen somit Not und Kümmernis ins Land, wo doch eitel Liebe und Freude sein sollte. Auch hier ist Not und Kümmernis, und es wird immer schlimmer werden mit den kommenden Tagen. Aber wer ein Herz für die Not hat, der sollte sich nicht scheuen, seine Ellenbogen zu rühren. Sturm und Hagel müssen wir getrost über uns und unseren Acker ergehen lassen, denn es ist eine Fügung des Himmels, wo man aber mit verkehrtem Erdenwert zu tun hat, da soll man nicht hinter dem Berge halten, selbst auf die Gefahr hin, für die gute Sache unterliegen zu müssen. Das Schicksal erhöht den Menschen, wenn es den Menschen zertritt. – Lassen Sie sich nicht beirren, Wesselink. Vertreten Sie vor aller Welt Ihre Ansicht. Widerstandslos gibt man unsere Eigenart auf, und in keinem Lande der Welt ist der Katholizismus so römisch wie in Deutschland geworden. Wahre Religion hat nichts mit Gelüsten und Begierden gemeinsam. Wahre Religion kennt keine Römelei und keinen Religionsfanatismus, und wer es dennoch verficht, derartiges in sie hineinzutragen, der setzt sich in Widerspruch mit der allbefreienden Lehre des Heilands. – Seien Sie stark, Wesselink – und was auch über Sie an Anfeindung hereinbrechen mag, beherzigen Sie die Worte: Du sollst Heimat und Vaterland lieben und nicht alles Heil von jenseits der Berge erwarten.«

Der Dechant schwieg. Wiederum schweiften seine Augen über das blühende Land hin. Die niedrige Sonne hatte ein mildes Feuer darüber geworfen, so daß die Schleier des Wiesenschaumkrautes in fast violetten Tönen aufleuchteten.

Die beiden sprachen nicht mehr. Sie hatten ihre eigenen Gedanken und ließen sich von dem warmen Hauch der heimatlichen Scholle umspielen.

Gemächlich kam Stäwe gefahren; jetzt hielt der Postwagen an.

Noch einmal sahen sich die beiden Männer tief in die Augen.

»Vertreten Sie Ihre Ansicht vor aller Welt,« sagte der Dechant. »Und nun – leben Sie wohl. Hoffentlich sehen wir uns später hier wieder. Auf eine bessere Zukunft – und Gott mit Ihnen!«

Als Wesselink aufsah, kam das Pferdegetrappel schon aus weiter Ferne herüber.

Es war ihm traurig zu Sinn. Er setzte sich auf einen Chausseestein, drückte die gefalteten Hände zwischen die Knie und sah dem Postwagen nach, bis er seinen Blicken entschwunden war. Endlich riß er sich aus seinem grüblerischen Denken heraus, erhob sich und ging mit dem festen Vorsatz, die Worte des Dechanten zu beherzigen, wieder der Stadt zu. – – –

Anderen Tages wehte von der Turnhalle die päpstliche Fahne. Der Aufruf Josephs von Arimathia hatte einen guten Resonanzboden gefunden. Selbst aus den ferngelegenen Ortschaften fuhren Wagen vor, deren Insassen an der wichtigen Versammlung teilnehmen wollten. Große Fragen standen auf der Tagesordnung. Die Nachricht von dem Inkrafttreten des Sperrgesetzes hatte die niederrheinischen Köpfe derart durcheinandergerüttelt und konfus gemacht, daß es in den meisten aussah, als hätten sich etliche Dutzend Maikäfer ein Rendezvous in einer Zigarrenliste gegeben. Ja – es ging wirr und bunt durcheinander!

Der Herr Gendarm Karl Friedrich Franz August Butterweck stolzierte bereits in voller Montur vor der Turnhalle auf und nieder, um kraft bürgermeisterlichen Beschlusses die gesetzliche Ordnung vor, während und nach der Versammlung aufrecht zu halten. Er schwelgte ordentlich im Weiß seiner waschledernen Handschuh und im Bewußtsein der ihm übertragenen Machtbefugnis und Würde.

Franz Hartjes stand noch in Überlegung, ob er hingehen sollte. Als aber Leopold Derksen bei ihm vorsprach und ihm mitteilte, daß aller Wahrscheinlichkeit nach auch Johannes Wesselink, Herr Piepmann, Doktor Horré und Konsorten antreten würden, um gegebenen Falles gegen den ultramontanen Ansturm für Kaiser und Reich eine Lanze zu brechen, stellte auch er sein Erscheinen in Aussicht, ließ seinen Überrock aufbügeln und bearbeitete höchsteigenhändig seinen Zylinder, den er für gewöhnlich nur an Königsgeburtstag aufsetzte, mit Hasenpfote und Bürste. »Wenn mal, denn mal,« meinte er schließlich als Endresultat eines längeren Selbstgespräches und bürstete weiter.

»Also du gehst hin?« fragte Frau Hartjes.

»Ja,« sagte der Rektor mit aller Bestimmtheit, und wie er das sagte, da zog auch schon der Männergesangverein ›Concordia‹ mit klingendem Spiel und der bekränzten Vereinsfahne vorüber, um nach dem Versammlungslokal zu marschieren. Pitt als Dirigent mit weißbaumwollenen Handschuhen und Stimmgabel vorneweg; hinter ihm die vier Musikanten, die bereits beim Schlußball zum Tanz aufgespielt hatten. Seitwärts und am Kopfe des Zuges beschäftigte sich die liebe Jugend damit, auf das Wohl einer waschechten Gesinnung Purzelbäume zu schlagen. Selbst Fränkel Haas mit seinen pomadisierten und krölligen Haaren tat mit, aber nicht aus Überzeugung und Herzenstakt, sondern vielmehr aus Geschäftsinteresse. Er wußte: sein lieber Vater stand in regem Kälber- und Kuhhandel mit den ultramontanen Niederungsbauern, und er glaubte daher, durch seine klerikalen Purzelbäume zur Hebung des väterlichen Geschäftes auch seinerseits in etwa beitragen zu können. Auch Julius Hoffmann hatte in dieser großen Zeit seinen Liebeskummer begraben, purzelte gleichfalls und hielt seinen Erzeuger für einen der Größten des neunzehnten Jahrhunderts, während den Zug die dicke Therese und Miekske Pollmann beschlossen. Therese zu Fuß und mit aufgetakeltem Sonntagshut, Miekske im Korbwagen, von Adele Knipp und Bellecke Kermes geschoben, während andere Repräsentantinnen der Nähschule den Wagen eskortierten und sich möglichst befleißigten, Schritt und Tritt mit der Musikkapelle zu halten. So ging es zum Tore hinaus, und als Herr Butterweck sah, wie die ›Concordia‹ so pompös mit ihrem Vereinsbanner heranzog und in einer fast militärischen Weise ihre kirchliche Gesinnung in den Boden hineinstampfte, da konnte Herr Butterweck nicht anders: er stand stramm und salutierte. Und Pitt Hoffmann kommandierte: »Augen links!« – und als er dann noch Herrn Karlo Antonio in seiner Zuavenmontur bemerkte, kommandierte er nochmals: »Augen links!« und führte hierauf die ›Concordia‹ in die Turnhalle, woselbst er für die Herren Mitglieder etliche Lagen Bier bestellte und sie alsdann auf die Ehrenplätze, unterhalb der bekränzten Rednertribüne, placierte. Fähnchen in den päpstlichen Farben gaben der ganzen Ausstattung einen feierlichen Anstrich, der sich noch grandioser gestaltete, als neben der Tribüne die Vereinsfahne aufgepflanzt wurde. Der Saal war bereits stoppelvoll, als Johannes Wesselink, Leopold Derksen, Doktor Horré, Herr Hartjes, der Notar im Verein mit noch anderen liberal gesinnten Männern erschienen, nicht eben mit freundlichen Blicken der Anwesenden begrüßt, sich aber alsbald im Gedränge der vielen Menschen verlierend. In einer gemütlichen Ecke hatten sie sich zusammengefunden. Auf dem Gesicht von Johannes Wesselink stand eine tiefe Ruhe geschrieben. Er wußte, was er zu tun hatte. Die Worte des Dechanten hatten einen zuversichtlichen, freudigen Widerhall in seinem Herzen gefunden. »Nicht alles Heil kommt von jenseits der Berge,« sagte er fest.

Herr Butterweck war bereits mit Helm, Säbel und Portepee, kurz in kompletter Ausrüstung, auf einen Stuhlsitz gestiegen, um die Situation besser übersehen zu können. Ohne Ansehn der Person, ohne Beeinflussung und Parteilichkeit, aber energisch gedachte er seines Amtes zu walten.

Die ganze Versammlung stand in reger Erwartung. Herr Joseph von Arimathia mußte bald kommen. Die dicke Therese, ihr Schwager Gertzen und später auch Frau Hoffmann hatten sich bis dicht an die Tribüne gedrängelt. Miekske war mit ihrem Gefährt und ihren Ehrenjungfern mehr im Hintergründe geblieben.

»Adele,« warnte sie ihre Nähschülerin, »ich bitte dir, dich verhalten zu wollen und keine Dummheit zu machen. Die Kasse ist für heute geschlossen.« Dabei fing sie einen dicken Brummer von der Wagendecke herunter, worauf ihre kregelen Blicke mit einem glücklichen Schimmer zu ihrem Bruder Karlo Antonio hinüberflogen, der mit seinem Zuavenkäppi und dem markanten Gesicht darunter an der Tür stand, um den Herrn Vikarius in Empfang zu nehmen. Viele Weiberaugen hingen an den interessanten Zügen des stattlichen Mannes.

Ab und zu lief ein verhaltenes Räuspern durch den Saal. Er mußte bald kommen.

Pitt verteilte die Notenblätter unter seine Kumpane, aber mit einer so getragenen Wichtigkeit, daß alle es sehen mußten. Er war sich noch nie so bedeutend vorgekommen wie heute. Unter Mithilfe des zweiten Dirigenten hatte er ein Begrüßungspoem verfaßt, das beim Erscheinen des Ersehnten vom Stapel gelassen werden sollte. Dem Text war die Melodie des Studentenliedes ›Stoßt an! Bonna soll leben! Hurra hoch!‹ unterlegt worden, eine sinnige Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Studentenzeit des Vikars, die er in den Konvikten zu Bonn und Münster verlebt hatte.

Da – ein geheimnisvolles »Pst!«

Alle Hälse machten sich so lang wie die von Gänsen, wenn Futterzeit ist, und sie mit Roggenbrot und Maismehl abgespeist werden sollen. Dann ein Begrüßungsgetrampel – und unter diesem Getrampel erschien Joseph von Arimathia und wurde von Karlo Antonio bis in die Mitte des Saales geleitet.

Er dankte gerührt, sichtlich erfreut über die spontane Beifallsbezeugung. Aber es sollte noch besser kommen.

Die ›Concordia‹ stand auf und stieß dreimal die Bierglaser zusammen. Hierauf erhob Pitt Hoffmann die Stimmgabel.

»Eins, zwei, drei!« kommandierte er leise, und da ging das vierstimmig und aus echt deutschen Männerkehlen durch die Turnhalle:

»Stoßt an! Herr Sauerbier lebe! Hurra hoch!
Er kommet gegangen auf geistlichen Schuh'n
Und tut jetzt gewaltige Taten hier tun!
Hurra hoch!

Stoßt an! Herr Sauerbier lebe! Hurra hoch!
Wo solch ein Hirte die Herde regiert,
Da ist sie wahrhaftig nicht angeschmiert!
Hurra hoch!

Stoßt an! Herr Sauerbier lebe! Hurra hoch!
Wer diesem Hirten im Wachen und Schlaf
Nicht folget, der ist kein geduldiges Schaf!
Hurra hoch!

Stoßt an! Herr Sauerbier lebe! Hurra hoch!
Er führt seine Heide durch Trübsal und Sumpf
Zur himmlischen Weide – denn Zentrum ist Trumpf!
Hurra hoch!

Stoßt an! Herr Sauerbier lebe! Hurra hoch!
Und wäre Papst Pius Höchstselber im Saal,
Er machte ihn sicher zum Kardinal!
Hurra hoch!«

Und »Hoch!« und nochmals »Hoch!« brauste es durch die Turnhalle, und Karlo Antonio Pollmann schwenkte sein Käppi, und die dicke Therese griff an ihren stattlichen Busen, um ihre Rührung zu meistern, und Miekske fing drei Fliegen auf einmal, und Leopold Derksen machte ein Gesicht, als habe er unversehens auf ein Pfefferkorn gebissen, und Doktor Horré hielt sich den Bauch, als habe er Kolik und Seitenstechen gleichzeitig bekommen, lachte aber dazu, daß er blau und rot im Gesicht wurde, während Gertzen. der mit seiner Schwägerin in der Nähe der ›Concordia‹ saß, immer nur von einer ›kolosalen Ovatschon‹ sprach und Pitt Hoffmann die Hand drückte, als müsse er ihm seine Seele auf Leben und Sterben verschreiben – und während all dieser Vorgänge und Ovationen hatte sich Joseph von Arimathia ruhig zur Tribüne begeben, die Hände gefaltet und sich dann zweimal geräuspert.

»Bravo!«

»Das war für das Räuspern,« meinte Herr Piepmann.

»Vielgeliebte, katholische Christen!« also begann Joseph von Arimathia. »Gruß und Segen zuvor! – Meine eigentliche Rede kommt später, und ich stehe nur als erster hier an dieser Stelle, um Ihnen die Hiobskunde ans Herz zu legen, die da lautet: das drohende Gespenst des Sperrgesetzes ist zum Faktum geworden.«

»Pfui!«

»Ja, meine Geliebten in Christo, das ›Pfui‹ ist berechtigt.«

»Bravo!«

»Es schreit zum Himmel auf, was alles passiert ist. Aus dem Volke heraus, gleichsam aus dem Einfältigen heraus, soll es zum Himmel und zum Thron des Allerhöchsten emporschreien.«

»Sehr gut!«

»Und daher habe ich mich entschlossen, bevor ich selber mit dem schweren Rüstzeug der Theologie und des Verstandes anrücke, Männer des Volkes reden zu lassen, weil es unserem lieben Herrgott geradezu angenehm sein muß, aus der Stupidität der Laien zu hören, wie es um seine bedrückte Kirche bestellt ist, denn er sagt selber: Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Also, treten Sie vor, Geliebte in Christo, und sprechen Sie sich Ihren Kummer vom Herzen herunter. Per crucem ad lucem

Unter tosendem Beifall verließ er die Rednertribüne. Pitt Hoffmann war an seine Stelle getreten.

»Meine Herren! – Ich heiße Pitt Hoffmann ...«

»Sehr gut!«

»Ich bin aber nicht, wie der Herr Vorredner gemeint hat, ein Mann aus dem Volke und ein einfältiger Laie, sondern schätze mir höher ein und rechne mich zu den gebildeten Ständen.«

»Wie sich das gehört,« konstatierte Frau Hoffmann.

»Indessen jedoch,« fuhr der Redner fort, indem er seine baumwollenen Handschuhe auszog und sie neben sich legte, »indessen jedoch gehöre ich auch nicht zu der nobelen liberalen Gesellschaft, die immerzu mit Glassanten, unsauberen Redensarten und properen Fingernägels heranrückt, sondern zähle mir vielmehr zu denen, die was Schwarzes unter den Fingernägels besitzen, dafür aber ein reines Herz haben und mit 'nem reinen Mundwerk aufwarten können.«

»Bravo! – Bravo!« skandalierten die Mitglieder der ›Concordia‹ und ließen zu Ehren ihres Präsidenten eine neue Bierlage auffahren.

»Und drum, meine Herren, ist ›Schwarz‹ mein Ehrenkleid, weil es soviel wie ›Zentrum‹ bedeutet, denn ich schieße mit meiner Ansicht immer ins Zentrum. Aus demselben Grunde sagt auch Alban Stolz so lieblich: Ein Ultramontaner ist in den Augen Gottes der vornehmste Mensch, wohingegen ein katholisch Getaufter, welcher nicht ultramontan ist, man 'ne taube Nuß gilt und gar nichts bedeutet. ›Schwarz‹ ist besonders die Farbe des heiligen Todes. Drum müssen wir nur recht viel Tote begraben, weil sonst ein schlechtes Geschäft und purer Unfrieden ins Volk kommt, aber das schlechteste Geschäft und die tollste Wirtschaft haben doch die Liberalen mang die Leute gebrungen. Ich frage mit meinem Freunde Gertzen: warum denn? – Erstens: weil sie heidnische Bildnisse nackig entblößen.«

»Hurra!« und nochmals »Hurra!« ging das durch den Saal.

»Hartjes, das geht auf Sie,« lachte der Doktor.

»Zweitens: weil die Herren Dökters die edle Geistlichkeit viel zu spät zu die Toten berufen.«

»Und das geht auf Sie,« lächelte Hartjes.

»Und drittens: weil die Liberalen Gefallen haben an weibliche Tanzmeisterbeine, und weil das so ist, habe ich auch meinen Julius von 's Tanzen zurückgezogen, und darum sind die Maigesetze und die Sperlinge in die Welt gekommen – und das ist zu beweisen gewesen. Und weil ich's getan habe, kann ich jetzt als gebildeter Mann meinen Appartemeng nehmen. Die Ungebildeten sagen ›Abtritt‹ dazu. Ich bin aber kein Mann aus dem Volke – und habe gesprochen.«

Die letzten Worte waren schon halb in einem donnernden Applaus untergegangen. Hüte wurden in die Höhe geworfen, Taschentücher geschwenkt, und der Männergesangverein ›Concordia‹ stürmte die Tribüne, hob den Redner empor und trug ihn zu seinem Dirigentensitz zurück, indem die Mitglieder schnell eine Strophe zum Begrüßungsgedicht interpolierten und sie lauthals sangen:

»Stoßt an! Pitt Hoffmann soll leben! Hurra hoch!
Wer mit schwarzen Nägeln aufwarten kann.
Der ist der richtige Zentrumsmann!
Hurra hoch!«

Frau Pitt mußte sich halten, um nicht vor Freude ohnmächtig zu werden. Immer neue Bravosalven erschütterten die Turnhalle, und der Tumult legte sich erst, als Grades Gertzen in die Verlängerung rückte und um die Erlaubnis bat, jetzt auch seinerseits sprechen zu dürfen.

»Der auch!« grinste Leopold Derksen, »na, denn man zu.«

Und da stand er schon, schlug sich auf die Brust und begann dann: »Mitbürger, Freunde! – Pitt Hoffmann ist eben Pitt Hoffmann ...«

»Bravo!«

»Und ich schreibe mir Gerhard Gertzen, kann aber so 'ne kolosale Redens nicht halten, wie er kann. Das will ich auch gar nicht, denn es ist schon genug Revolutschon in die katholische Kirche. Aber das will ich nur sagen: unser Turmhelm ist wurmstichig geworden. Ich frage: warum denn? – Weil er Würmers bekommen hat. – Und das freut mir kolosal, weil wir Zimmermeisters hierdurch Arbeit beziehen. Aber wer kriegt sie? Etwa ein ultramontaner Mann mit 'ner heiligen Meinung? – I, Gott bewahre, die Herrens! – Unser seliger Dechant – Gott hat ihn glücklich herausgeschmissen – war anderer Meinung. – Ein liberaliger Mann mit lutherschen Raupens im Koppe bekommt sie, denn er hat seine Planens schon fertig, aber man bloß auf dem Papier, während andere Zimmermeister, die auch Planens besitzen, aber im Geiste, man das Nachkucken haben. Mein Konkurrenzmann hat Reputatschon – und Reputatschon ist eben Reputatschon, dagegen kann unsereiner nicht gegen an operieren. Und ich frage: warum denn? – Weil Reputatschon eben Reputatschon ist und etwas Liberales bedeutet – und davon sind die Sperlingsgesetze gekommen. – Das wollte ich sagen und nehme jetzt gehorsamst meinen Abtritt und nicht meinen Appartemeng, weil ich nur Volk bin und nicht wie Pitt zu die gebildeten Stände gehöre.«

»Gertzen soll leben!«

Unter Beifallsgetrampel ging das noch einmal: »Gertzen soll leben!«

»Quasselkopp!« rief es von einer anderen Stelle.

»Wer meint mir?!«

»Ich!«

Leopold Derksen hatte lachend gerufen.

»Dummheit lacht!« hielt ihm Gertzen wütend entgegen, »aber ich bin der Kerl, weil ich meine Ansicht vertrete und sage: die Sperlingsgesetze sind bloß durch den liberaligen Turmhelm gekommen. Und das ist sehr miserabel, und wenn das der heilige Vater erführe ...«

»Ehre, wem Ehre gebührt!« rief eine kräftige Stimme dazwischen.

Alle Blicke hatten sich auf Joseph von Arimathia gerichtet.

»Ja, Geliebte in Christo, Ehre, wem Ehre gebührt! – Um Ihnen das zu erklären, möchte ich mir vorher eine Frage erlauben. Ich setze den Fall: es ist nicht angängig, eine concordatio inter sacerdotium et imperium, also eine Eintracht zwischen Priesterschaft und Königtum, anzubahnen – auf welche Seite würden Sie sich stellen, Geliebte in Christo?«

»Auf die Seite der Herren Kapläne!« rief das bunt durcheinander.

»Richtig! – und ich setze den Fall: ein kirchliches Bauwerk muß aufgeführt werden. Es find hierzu zwei Meister in Aussicht genommen, ein christlicher und ein nichtchristlich gesinnter. Welchen von beiden würden Sie wählen, Geliebte in Christo?«

»Den katholischen – den preußischen nicht!«

»Richtig! – so hat auch die gestrige Kirchenratssitzung beschlossen. Meister Gerhard Gertzen wird den Turmhelm errichten.«

Na – nu aber!

Ein Heidenspektakel ging los, ein Kuhgetrampel – und bissige Rufe waren dazwischen: »Höhö, Nonnenhannes!« – und dann wurde wieder beifallsfreudig geklatscht und gebrüllt, aber so kräftig, daß der Kalk von den Wänden herabfiel.

»Die Kerle sind wohl verrückt,« meinte der Doktor.

»Gottverdammich!« knirschte Leopold Derksen, »nu mußt du aber sprechen.«

»Noch nicht,« sagte Johannes mit aller Ruhe; sein Gesicht aber war so bleich wie die Wand geworden.

Joseph Sauerbier streckte die Hand aus. Der Tumult verstummte.

»Ich erteile nunmehr das Wort dem Herrn Rentmeister Karlo Antonio Pollmann aus Moyland.«

»Bravo!« – und da stand schon der Redner.

Aber es war nicht der Rentmeister, sondern der Postmeister; er hieß auch nicht Karlo Antonio Pollmann, sondern Herr Piepmann.

»Mein Herr,« fuhr Joseph von Arimathia auf ihn los, »ich habe Ihnen ja gar nicht das Wort erteilt. Sie dürfen also nicht reden.«

»Will ich auch gar nicht, sondern man pfeifen,« sagte Herr Piepmann, »denn was ich hier hörte, kann ich nur durch meine Flötepfeife erwidern. Bosheit muß ausgepfiffen werden. Das Höchste was wir auf Erden besitzen, ist dieses ...«

Und dann pfiff er:

»Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt ...«

»'n netter Beamter!« johlte es ihm von allen Seiten entgegen.

»Bin ich,« sagte Herr Piepmann. »Der Staat will auch seine Rechte behalten, und mit dem Brotkorbgesetz ist das gar nicht so schlimm. Folgt man, pariert man, dann könnt ihr alle leben wie der Kanarienvogel im Rübsen!«

Und dann pfiff er wieder wie'n lustiger Stieglitz:

»Der Papst lebt herrlich in der Welt ...«

»Klebt ihm 'ne preußische Freimarke aufs Maul!« rief ein Concordiamitglied dazwischen.

»'raus! – 'raus!«

»Ruhe! – Ruhe!« kommandierte Herr Butterweck von seinem Stuhlsitz herunter, »sonst muß ich als Schandarm in die Verlängerung springen. Im Namen des Gesetzes ...!«

»'runter! – 'runter!«

»Tu' ich,« sagte Herr Piepmann, »aber ich will noch eben bemerken, daß ich mich unter der bestehenden Ordnung ganz mollig fühle und mein Leben als ein kreuzfideler Liberaler verschleiße.«

»'runter! – 'runter!«

»Danke,« nickte Herr Piepmann, steckte die Hände in die Hosentaschen und pfiff dann:

»Seid umschlungen Millionen ...«

Hierauf verließ er das Podium und nahm unter Beifall und wütigen Gegendemonstrationen seinen früheren Platz ein.

An seine Stelle war Karlo Antonio Pollmann getreten.

» Signori! – Signore ...!« Er schwenkte sein Käppi. »Ich habe den italischen Himmel gesehen ... Azure

»Bravo!«

»Ich habe den großen Sankt Peter gesehen ... I portici sono di marmo

»Bravo!«

»Ich habe den heiligen Vater gesehen ... Superbo

»Hurra!«

»Ja – signori, superbo im Geiste! – allein sein materielles Leben ist trostlos. Der ärmste Lazzarone ist glücklich gegen ihn zu preisen. Der Statthalter Christi liegt auf Heu und Stroh gebettet.«

»Pfui!«

»Das haben die Großen der Erde geleistet!«

»Pfui!«

»Das hat ein Bismarck, ein Viktor Emanuel zuwege gebracht!«

»Pfui!«

»Aber alles wäre anders gekommen, hätte er mir gefolgt, hätte er mir den Oberbefehl über seine Zuaven gegeben. Damals, vor Jahren – ich wäre der Mann des Tages gewesen. Im blutigen Ringen hätte ich das Patrimonium Petri über Wasser gehalten, hätte das Zeichen des Sieges auf den großen Sankt Peter gepflanzt, Viktor Emanuel gefangen genommen und Bismarck in seine Schranken gewiesen.«

Eine frenetische Beifallssalve quittierte spontan für die gesprochenen Worte.

»Meine Herren, ich danke! – Aber der heilige Vater wollte nicht. Er ließ meinen Rat unberücksichtigt. Er war zu milde, er war zu gut, er war zu barmherzig. Der heilige Vater konnte kein Blut sehn.«

»Ach, Gott nicht,« schluchzte die dicke Therese, »der arme heilige Vater!« und dann sah sie Frau Pitt Hoffmann an und dann Miekske Pollmann, was die wohl sagen würden zu der traurigen Sache.

Aber die konnten nichts sagen, die konnten nur weinen.

»Und da reden die Dummen von einem Gang nach Canossa?!« erklang es von neuem. – »Nein, der heilige Vater konnte kein Blut sehn. – Und so werden die Opfer, die edelmütigen Taten des Weltregierers in Preußen gewertet?! Schmachvoll! – Allein die Kirche wird nicht untergehn. Im Gegenteil – in der Verfolgung wird sie geläutert, gekräftigt, mit neuer Schönheit umkleidet. Sie muß völlig unabhängig sein von jeder Staatsgewalt – und drum müssen wir kämpfen gegen Anmaßung und Altkatholiken. Nette Menschen das – und erst ihr Bischof?! – Ein Bischof, aber in Gänsefüßchen zu setzen.«

»Sehr gut!«

» Signori! – Signore ...!«

»Bravo!«

»Ich habe Rom gesehen ... I portici sono di marmo

»Bravo!«

»Ich habe den heiligen Vater gesehen ... Superbo

»Hurra!«

»Und weil ich die gesehen habe, müssen wir kämpfen. Wir müssen unsere Präsenzstärke erhöhn, die Landwehr aufbieten, den Landsturm verdoppeln, geistige Zuavenbataillone formieren – und wenn Sie wollen, werde ich das Kommando übernehmen. Ich bin zu Ihrer Verfügung – ich, Karlo Antonio Pollmann ...«

»Bravo!«

»Wir ziehen mit!« rief die dicke Therese und schwenkte ihr Taschentuch.

»Natürlich!« johlte Leopold Derksen, »aber als Feldwebel mit's dicke Notitzbuch.«

»Maul halten!«

»Hurra, Herr Pollmann!«

»Mit dem feigen Erdulden,« lenkte der Redner allmählich zum Schluß ein, »dem Lieben im Ertragen, dem Töten des menschlichen Willens und mit dem Küssen des staatlichen Prügels, der auf unserem Rücken herumklopft, muß endlich aufgeräumt werden! Zieht die geballte Faust aus der Tasche. Stoßt sie der brutalen Staatsgewalt unter die Nase. Himmel Sakramento! – ultramontan heißt jenseits der Berge. Seid Ultramontane! – Reißt eure preußischen Scheuklappen herunter. Seht zu, was euch not tut. Nicht hier, nicht in Preußen, nicht in Deutschland liegt euer Heil! Jenseits der Berge liegt es unter italischem Himmel, im Schatten des großen Sankt Peter. Wendet eure Blicke nach Rom. – Die Pforten der Hölle werden es nicht überwinden. I portici sono di marmo! – Lieber Deutschland zerfetzt, lieber die Einheit zum Teufel, als ein Krümchen vom Felsen Petri verlieren. Rom ist die Welt – drum wendet die Blicke auf Rom und den großen Sankt Peter!«

Karlo Antonio Pollmann verstummte.

Mit einem dumpfen Schrei war Johannes Wesselink aufgefahren.

»Schwindler! – Betrüger! – Verräter ...!«

Alle Köpfe wandten sich. Ein drohendes Murren war um ihn. Die Niederungsmenschen hatten schon das erbärmliche Wort von früher auf der Zunge, um es ihm entgegenzuschleudern. Aber die Zunge blieb stumm. Vor dem furchtbaren Ernst des aufgefahrenen Mannes, der jetzt so ruhig wie die tiefen Kolke seiner Heimat geworden war, wagte sich die Opposition nicht heraus. Der Augenblick hielt sie im Bann. Ungewollt und in ohnmächtiger Wut mußten sie hören und sollten sie hören ...

»Und Sie, Mensch, dahinten ...! – jedes Wort, was Sie geredet haben, ist eine Infamie, eine große Lüge gewesen! – Sie alle lügen – bewußt und unbewußt, aber Sie lügen! Rom ist nicht die Welt – die Welt ist eure Heimat, der Boden, auf dem ihr steht, das Herz, das euch wohl will! Hört nicht auf diesen! – Richtet nicht eure Blicke nach Rom, wenigstens nicht ausschließlich auf Rom! Seid gute Katholiken hier auf der heimischen Erde! – Und ihr da im Schafspelz – Wölfe im Schafspelz! – stets seid ihr unfaßbar, dreht euch bald nach dieser, bald nach jener Seite; bald seid ihr politisch, bald religiös, stimmt bald in dieser, bald in jener Farbe, schwarz aber kommt immer wieder zum Vorschein. Nicht um die Religion ist's euch zu tun, nicht um die Worte des Heilands – nein, ihr wollt weiter nichts als herrschen und aus dieser Herrschsucht heraus das Reich, den eigenen Herd und die blutig erkämpfte Einheit verkleinern. Was geht euch das Reich an, wenn nur Rom triumphiert?!«

»Unerhört! – Frechheit!« rief Joseph von Arimathia.

»Die ist auf eurer Seite,« hielt ihm Johannes entgegen. »Wir haben doch soeben gehört, was ihr wollt. Laßt uns doch den Frieden im Lande! Hetzt nicht, treibt keinen Keil zwischen die Herzen, und wenn's euch nicht paßt, so geht doch, geht doch – die Tür steht euch offen. Die eigene Heimat sollte euch ausspeien. Ihr tragt falsche Gedanken, verkehrte Lehren in unsere Seelen hinein. Damit macht ihr uns irre von Kind an, damit reißt ihr uns aus dem Leben der Wahrheit, erstickt ihr die Liebe zum Reich und bringt Unfried zwischen die Nächsten. Und wer nicht so will, wie ihr wollt, dem setzt ihr den Fuß ins Genick. Ich hab's an meinem eigenen Leibe erfahren. Der Haß ist mir an die Kehle gesprungen; ihr hetzt mir die Not aufs Dach; ihr reißt mir das Herz auseinander ... Ihr wollt mir die Liebe zur niederrheinischen Scholle verekeln! – Aber ich bleibe, ich laß mich nicht knechten – und wenn ich drüber zum Bettler werden sollte: ich bleibe und kämpfe im Glauben an die seligmachende Wahrheit, im Dienste der Wahrhaftigkeit, der Vaterlandsliebe und in Treue gegen Kaiser und Reich. – Lebt wohl!«

Erhobenen Hauptes, von Leopold Derksen, dem Rektor, Doktor Horré und den anderen liberalgesinnten Männern gefolgt, verließ Johannes Wesselink die Versammlung.

Für einige Augenblicke herrschte eine lähmende Stille in der Turnhalle, dann aber brach der Sturm los, der sich erst legte, als Joseph von Arimathia Schweigen gebot, den Stiernacken reckte und mit mächtiger Stimme in die atemlose Menge hineinrief: »Laßt die religionsleeren Köpfe doch laufen!«

»Bravo!«

»Wir sind eine pusillux grex, eine kleine Schar, aber wir wissen zu kämpfen. Denkt daran bei den kommenden Wahlen. Aber wählt ultramontan, denn alle Zettel werden zweimal geprüft: einmal im Wahllokal, einmal im Himmel. Treten wir daher bis zum letzten Mann an die Urne heran – und wie in den Weihnachtstagen der Schnee erst in schwachen Flöckchen niederrieselt, um immer stärker zu werden und schließlich in ein dichtes Schneegestöber überzugehen, so sollen auch die Flöckchen der Wahlzettel zum Schneegestöber und zur Lawine werden, unter der die Gegner, die gegen das Zentrum stimmen, veratmen. Drum auf zum Kampfe, auf zum Siege!«

»Hört! – Hört!«

»Und wenn es dazu käme, daß eine Kreatur des Staates hier als Pastor fungieren sollte – ich lösche die ewige Lampe aus, zerbreche die brennende Kerze und trage das Sanktissimum aus der Kirche fort, mitten durch die kniende, weinende und jammernde Menge.«

»Bravo!«

»Hoch die triumphierende Kirche!« rief der Sprecher mächtig dazwischen. »Der Fels Petri wird ewig bestehen; die Liberalen und Herr von Bismarck, mit dem Abgötterei getrieben wird, haben keine Macht darüber. Bismarck ist nur ein sterblicher Mensch, wie wir alle! Gegenwärtig ist er krank, und er liegt auf seinem Schmerzenslager da – hilflos wie ein Tropf, wie ein armseliger Bettler. – Gott läßt sich nicht höhnen!«

»Nieder mit Bismarck!«

»Halt!« schrie in diesem Augenblick der Gendarm, sprang vom Stuhl und drang gegen die Tribüne. »Ich löse die Versammlung auf!«

»Was wollen Sie?!« schrie ihn Karlo Antonio Poltmann an.

»Sie haben hier nichts zu sagen!« meinte Pitt Hoffmann.

Die Mitglieder der ›Concordia‹ wurden bedrohlich.

Aber Herr Butterweck ließ sich nicht stören.

»Im Namen des Gesetzes!« rief er bestimmt, »Sie haben die Folgen zu tragen.«

»Werft ihn 'raus!«

Butterweck legte die Hand an den Säbel.

»Im Namen des Königs ...!«

Ein fanatisches Toben war um ihn.

»Ruhe! – Ruhe!« ermahnte Joseph Sauerbier, »wir weichen der brutalen Gewalt, aber ich segne die Hand noch, die uns hinausweist. Der Zweck ist erreicht. – Folget mir alle – folget mir alle! Per crucem ad lucem

Die dicke Therese weinte. Miekske sah hundert Fliegen vor sich und fing wenigstens zehn Stück auf einmal.

Karlo Antonio war wie schützend an die Seite seines Freundes getreten. Mit einem donnernden Hoch auf den Vorsitzenden wälzte sich die nach Hunderten zählende Menge zum Saale hinaus, wobei die ›Concordia‹ sang:

»Stoßt an! Herr Sauerbier lebe! Hurra hoch!
Er führt seine Herde durch Trübsal und Sumpf
Zur himmlischen Weide – denn Zentrum ist Trumpf!
Hurra hoch!«

Die tobende Menge verlief sich. Die Welt lag so ruhig und still da, und die Kastanienbäume in der Allee blühten schöner denn je und hatten ihre milden Kerzen aufgesteckt zum Preise des allewigen Gottes.


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