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IV Wandervögel

Nach längerer, eingehender Debatte war der Inhalt der ›Malör-Penning-Kasse‹ dem Paramentenverein zugesprochen worden und dortselbst zur Ausschüttung gelangt, während die blecherne Sparbüchse selber sich wieder bei Miekske befand, und die jungen Mädchen sich redlich bemühten, das entstandene Manko wieder zum Ausgleich zu bringen. Sie hatten hierzu des Abends bei der Lampe auch Zeit und Muße genug, denn die Tage kürzten sich merklich, und die Nächte längten sich wie'n abgegriffenes Strumpfband, Grund genug für Miekske Pollmann, die während der Sommermonate eingeschränkte Nähschule wieder in ihrem ganzen Umfange aufzunehmen. Ganz allmählich hatte sich der Spätsommer in den Herbst hineingetrödelt. Der Wind grapste in die Bäume hinein, fauchte und sauste und schüttelte die safrangelben Blätter zu Boden. Dann fegte er Straßen und Felder blank, um dem später zu erwartenden Winter Gelegenheit zu geben, seine keuschen Schneeflocken sacht und milde auf die propere Erde zu betten. Und der Wind kam und blies in die Häuser hinein, und da er es tat, wischte er auch bei Rektors den Unmut von den Dielen herunter und stellte die feindlichen Bettstellagen wieder fein säuberlich nebeneinander, obgleich Herr Hartjes seinen liberalen Standpunkt festhielt, und sie, was die Frau Rektorin war, auch nicht um Haaresbreite von ihrer frömmelnden Richtung abwich; allein die Zeit hat eine lindernde Hand. Die Gesetze der häuslichen Ordnung lassen sich nicht übers Knie brechen. Sie wollen sich ausleben und Betätigung finden.

Und der Wind kam und ging über die Stoppel; er blies auch die Obstbäume an, die an den Chausseen und in den Baumgärten standen. Da bekamen die Äpfel rote Backen und wurden geschüttelt. Nur das Bäumchen, das Joseph von Arimathia zu schütteln gedachte, blieb vor der Hand noch unberührt. Zwar nahm er tagtäglich die Früchte in Augenschein und prüfte sie mit den Blicken eines gewiegten Kenners; allein sie schienen ihm noch nicht eßreif geworden. Und so wartete er und konnte auch warten, wenngleich Luise und Johannes Wesselink schon längst als Versprochene galten und vor Ende des Jahres zu heiraten gedachten.

Und der Wind kam und blies in die politisch-religiösen Wirren hinein. Allein er blies die Maigesetze nicht fort und nicht die Erklärung der preußischen Bischöfe, die vorgaben, sich nicht einseitigen Staatsgesetzen und Verordnungen über kirchliche Dinge unterwerfen zu können, denn sie wollten nur dem Papste geben, was des Papstes, und nicht dem Kaiser, was dem Kaiser gehörte, und so geschah es, daß viele Unkraut säten, wo sie Weizen hatten hinstreuen sollen, daß viele den Weg nicht mehr finden konnten, den sie hätten einschlagen müssen, und wenn Verständige kamen und sagten: »Dort müßt ihr hingehen!« – so fanden sie kein Verstehen mehr und sahen nur in höhnische Gesichter hinein und in verbitterte Herzen. Johannes Wesselink fühlte das vor allen anderen, und etwas wie eine beklemmende Angst flog ihn an, wenn er darüber nachsimulierte, wenn er mit Luise Hand in Hand durch den niederrheinischen Herbst ging, die tuschelnden Stimmen hörte und die merkwürdigen Blicke gewahrte, die wie Disteln und Dornen stachen – und da bangte er für sich und sein Glück und den Frieden seiner engeren Heimat.

Und der Wind kam und wehte neue Wandervögel ins Land, die nicht so ganz unvorbereitet erschienen, denn Miekske Pollmann hatte so etwas von ihrem Bruder Karlo Antonio und einer Rentmeisterstelle durchsickern lassen, und der ›Klevische Volksfreund‹ hatte eine Annonce gebracht, die dem verehrten Publikum einen Tanzkursus für junge Herren und Damen offerierte, von acht Talern Salär sprach und die Erlernung selbst der schwierigsten Pas im Ländler und Kontertanz in sichere Aussicht stellte. Anderen Falles sollte das Eintrittsgeld ohne jede Verkürzung zurückgezahlt werden. Die Turnhalle sei schon gewonnen – und diese Annonce war mit dem klingenden Namen Pauline von Satzenhofen gezeichnet.

Das wirkte. Auf Wochen hinaus wurden die feindlichen Gegensätze gemildert; die sich befehdet hatten, spielten wieder ›Schafskopf‹ und ›Sechsundsechzig‹ zusammen, der umdüsterte Horizont klärte sich zeitweilig auf, und Severin Piepmann, der inzwischen in die verwaiste Posthalterstelle gerückt war. Pfiff wie ein ausgelernter Dompfaff ›Freut euch des Lebens‹, setzte eine Punschbowle an und machte hierbei den Vorschlag, Liberale und Ultramontane sollten bei dieser Gelegenheit allen Hader begraben und ein allgemeines Verbrüderungsfest feiern. Das ging zwar nicht, wenn auch der Punschbowlenabend in aller Fidelität und Einheit verlief, und der Herr Gastgeber in seiner animierten Stimmung erklärte, die schöne Anna Derksen vom Fleck weg heiraten zu wollen, wenn das Mädchen nur wolle. Das ging aber auch nicht, weil Herr Piepmann bereits verheiratet war und über eine halbwüchsige Tochter verfügte, und Jans Prüft sich bereits mit dem Standesamt und Vater Derksen verständigt hatte und bald voran zu machen gedachte, so daß Herr Rektor Hartjes alle Mühe aufwenden mußte, den Herrn Posthalter auf andere Ideen zu bringen und froh war, den Angeheiterten nach dem zehnten Glase Punsch so weit bemuttert zu haben, daß er willig nach Haus ging. Aber die übrige Nacht hindurch hörte ihn der Nachtwächter pfeifen, und das ›Freut euch des Lebens‹ verstummte erst, als der Zeiger der Rathausuhr auf fünf rückte. So war denn gekommen, was niemand voraussehen konnte: die Tanzmamsell und Karlo Antonio Pollmann waren in den Brennpunkt des Interesses gerückt, hatten einen fidelen Punschabend zuwege gebracht und auf Wochen hinaus die unruhigen Gemüter besänftigt. Ja – selbst der vergoldete Turmhahn auf Sankt Nikolai sah die Welt mit anderen Augen an und blinzelte quietschvergnügt über das eingeschleierte Land hin.

Am dritten Tage nach dem Punschbowlenabend blies der Wind noch immer, aber er blies gelinder und wehte die gelbe, schwerfällige Postkutsche an, die von Kleve über Moyland nach der kleinen niederrheinischen Stadt rumpelte. Stäwe Rademaker saß auf dem Bock, dampfte schwere Wolken aus einem Maserholzkopf und spie in regelrechten Intervallen scharfe Spritzer über Bock und Chaussee fort. In Moyland hielt er die Pferde an, um Briefe und Postpakete abzugeben und frische dafür in Empfang zu nehmen.

Fast gleichzeitig sprang ein fixer Mensch aus dem Wagen, der eine brennende Virginia zwischen den Zähnen hielt, sich fester in seinen landfremden Mantel, eine Art von Don Diego, hineindrehte und dann Stäwe befragte, der schwerfällig unter dem Spritzleder hervorkoch: »Wie lange Aufenthalt, Schwager?«

»Tien Minüte, Mynheer.«

» Grazie,« sagte der Fremde, »kann mir also ein bißchen die Beine vertreten,« blieb aber noch stehn und besah sich mit sichtlichem Interesse die Gegend, als sei er gewillt, hier Hütten zu bauen. Dann erst umschritt er die Postkutsche, aber in einem so energischen Tempo, daß lichte Pünktchen von der Virginia absprühten.

Der ganze Kerl hatte ein martialisches Aussehn. Ein flottes Käppi mit ledernem Vorstoß beschattete ein verwittertes, wenn auch interessantes und nicht unschönes Gesicht, unter dessen Nase ein schwarzgewichstes Schnurrbärtchen aufstrebte und fast die Augenwinkel berührte. Weiße Ledergamaschen schlossen den unteren Menschen ab, die ihrerseits wieder einen tadellosen Schnürschuh bis zur Hälfte bedeckten und sich rühmen konnten, an dem schmucken Bein eines Menschen zu sitzen, der es verstand, kavaliermäßig aufzutreten und sich wie 'n flotter Magyar in den kräftigen Hüften zu wiegen. Das tat er auch redlich – und nachdem er wenigstens fünfundzwanzigmal Gäule und Kutsche umkreist und gemustert hatte, blieb er nochmals stehen, ließ den niedergebrannten Glimmstengel aus der rechten Mundecke fallen und praktizierte mit einer gewissen Eleganz einen frischen Rattenschwanz hinein, den er schleunigst in Brand setzte.

» Molto bene,« sagte er leichthin.

Mittlerweile war Stäwe fertig geworden, langte sich das Posthorn zurecht, wobei er gleichzeitig die dicke Bürste von Schnurrbart beiseite strich, und blies dann:

»Ach, du mein lieber Gott,
Muß ich schon wieder fort
Auf die Chaussee –
Auf – die – Chaus – see...«

» Magnifico!« sagte der Fremde, indem er die rechte Hand mit einer vielsagenden Pose hob und den Daumen mit dem Zeigefinger berührte.

» Merci, Mynheer,« bedankte sich Stäwe, »aber nu' rin in die Postkutsch.«

»Warum denn? – Wieso denn?«

»Weil's Zeit ist.«

» Bene – dann also: avanti: – Aber halt! – ich möchte mir zuvor noch erlauben...«

Mit einer chevaleresken Gebärde warf er einen Zipfel seines Don Diego über die Schulter.

»Kennen Sie mich?«

»Ich? – Ne,« sagte Stäwe.

»Sonderbar! – Aber Sie sollten mich kennen...«

Stäwe fühlte die nadelscharfen Blicke des Sprechers, die ihn wie Eiskristalle berührten.

»Nicht?! – Aber Sie sollten mich kennen,« wiederholte der Fremde noch einmal, aber mit getragenem Pathos, stellte den linken Fuß zur Seite und wippte den glimmenden Rattenschwanz zwischen den gekniffenen Lippen. »Bedauerlich – höchst bedauerlich, wo die Welt mich kennt: der heilige Vater, Rom, der große Sankt Peter ... Ich war berufen, den großen Coup zu machen, die Erde aus den Angeln zu heben; anch' io sono ... Aber wie das so ist, der Prophet wird nicht in seinem Vaterlande gewertet.«

»Ich besinne mir nicht,« versetzte der Alte.

»Aber Sie werden's; Sie werden von mir hören, Sie werden mich kennen lernen, Sie werden ... Basta – und somit: Schwager, avanti

Hierauf drehte er sich mit einer unnachahmlichen Geste der Postkutsche zu, warf noch eine Art von Kußhändchen in die Gegend hinein und sagte: » A rivederci!« – dann war er in den Wagen gesprungen.

»Gottverdomie!« brummelte Stäwe in seine Schnurrbartbürste hinein, als er wieder auf dem Bock saß und die Pferde in Trab gebracht hatte, »ich lasse mir mit Haut und Haaren heruntermangieren, wenn das nicht ...«

Wiederum trabten die Postklepper durch die schwermütige Landschaft, die mit Pappeln besetzt war, deren monotones Rauschen die weite Ebene noch weltverlorener und einsamer machte. Dünne Nebel arbeiteten sich aus den verschläferten Wiesen heraus, verfingen sich in dem kahlen Geäst der Bäume und ließen die schwarzen Krähen und Dohlenvögel fast grau erscheinen, die langsamen Fluges über die tagesmüde Erde dahinglitten. Alle strebten dem matterleuchteten Westen entgegen.

Ja – Stäwe hatte recht. Der sonderbare Passagier mit den chevaleresken Manieren, dem schwarzgewichsten Schnurrbart und den katzengrauen Augen, die noch empfindlicher stachen als das scharfe Gehäuse der Kardendistel, war in der Tat Karlo Antonio, der große Karlo Antonio Pollmann, der Bruder von Miekske, der nach einer fast fünfjährigen Abwesenheit wiederum seine Vaterstadt beehrte, um von hier aus die ihm übermittelte Rentmeisterstelle in Verwaltung zu nehmen.

Karlo Antonio war nicht der alleinige Passagier in dem mit unsanften Stößen dahinpolternden Wagen.

Ihm gegenüber saß eine bereits ältere Dame in einer seidenen, etwas fadenscheidigen Fransenmantille, die dazu filierte Handschuhe trug und einen altmodischen Hut aufgesetzt hatte, dessen äußerste Spitze mit grotesk-komischen Schirtingrosen geschmückt war, während gegen die Polster der linken Wagenecke ein zweites weibliches Wesen sich lehnte, das wie traum- und weltverloren ins Leere stierte und zeitweilig die fließenden Wassertropfen verfolgte, die an den beschlagenen Fensterscheiben entstanden. Eine mächtige Strohwanne, von einer schwarztaftenen Schleife gehalten, rahmte ein bleiches Gesicht ein, in dem zwei Augen standen, die an die großen, dunklen Augen eines seligen Traumes gemahnten. Der Rock bauschte sich zierlich, wahrscheinlich durch eine Krinoline veranlaßt, die auch die Ursache war, daß der Ansatz eines zierlichen Beines und ein kleiner, kräftiger Fuß, der in einer Lastinghülle steckte, zum Vorschein gelangte. Honiggelbe Löckchen, sichtlich durch Anwendung des Brenneisens sorglich gekräuselt, hingen seitwärts der Schläfen und gaben dem Gesicht einen altfränkischen Ausdruck, vermochten aber nicht das Unschuldige, Dämmerhafte und Insichgekehrte der ganzen Erscheinung zu stören, die noch immer wie in Gedanken dasaß, die fließenden Wassertropfen zu zählen schien und dann wieder in die melancholische Landschaft hinaussah, als suche sie etwas, als müsse sie etwas finden, das sie mit ganzer Seele herbeisehnte.

Die beiden Damen mußten zusammen gehören, denn häufiger tuschelte die Ältere herüber, wobei jedesmal die Schirtingrosen ihres Hutes in eine zitterige Bewegung gerieten.

»Glaubst du denn nicht, daß unsere Verhältnisse sich bessern könnten, daß wir endlich in der Lage sein werden, einen kleinen Zehrpfennig beiseite zu legen?« fragte sie schließlich. Sie hatte mit einer kaum wahrnehmbaren Stimme gesprochen.

»Schwerlich,« war die lakonische Antwort.

»Dann nicht,« sagte die Alte, sichtlich verdrossen, machte sich an ihrem Pompadour zu schaffen und begann leise zu hüsteln – und da erinnerte sich Karlo Antonio, daß er eine Virginia rauchte.

»Signora, Signorina,« meinte er zu den Damen gewandt und mit verbindlichstem Tone, »wenn etwa meine Zigarre ...« und dabei machte er Miene, den Glimmstengel auf die Straße zu werfen.

Die Jüngere blieb in sich gekehrt und würdigte den Fragesteller kaum eines Blickes, während die Ältere mit etwas spitziger Stimme und süßlichem Lächeln des weiteren auseinandersetzte, daß sie sich durch den Rauch einer Zigarre in keiner Weise behelligt fühle. Im Gegenteil, setzte sie erläuternd hinzu, sie habe immer gehört, daß Rauch konserviere und die Eigenschaft habe, wohltuend auf das Behagliche der Seele zu wirken

» Tante grazie,« meinte Herr Pollmann, lehnte sich bequem ins Polster zurück und fühlte sich, nunmehr berechtigt, den einmal angeknüpften Gesprächsfaden weiter zu spinnen.

»Wir haben wohl ein gemeinschaftliches Ziel?« sagte er leichthin, und dabei nannte er den Namen des kleinen Ortes, den die Post in einer guten halben Stunde erreicht haben mußte.

»Allerdings.«

»Besuch von lieben Verwandten, Signora ...?«

»Das weniger.«

»Nicht?! – Dann vielleicht eine Geschäftstour ...? – Die jetzigen Zeitläufte wirbeln die Interessen bunt durcheinander. Heutigen Tages drängt das Leben auf Ausgleich. Einkäufe, Verkäufe, notarielle Beurkundungen wollen eben gemacht sein.«

»Auch das nicht, mein Herr.«

»Also Kunstinteresse!« konstatierte Herr Pollmann. »Die Schätze der Sankt Nikolaikirche suchen ihresgleichen in der ganzen Umgebung. Was sag' ich: in der ganzen Umgebung? Das ist zu wenig gesagt, das ist gar nichts gesagt ...! – Veramente, Signora: Rom, Mailand, Paris – der Erdball kann uns um diese Altertümer beneiden. Also Kunstinteresse, Signora?«

»Leider – nein,« meinte die Alte. »Unsere bescheidenen Mittel gestatten uns nicht, aus diesem Grunde größere Touren zu machen. Sie müssen nämlich wissen, mein Herr ... Mein Name ist Fanny Baronin von Satzenhofen – und hier meine Tochter ...«

Die jüngere Dame machte eine leichte Verbeugung.

Bei dem Worte ›Baronin‹ war Karlo Antonio vom Sitz gefahren, um sich dann mit einer zeremoniellen Geste wieder niederzulassen, wobei er den Rattenschwanz mit dem verbindlichsten Lächeln von der Welt durchs Fenster spedierte.

»Sie müssen nämlich wissen, mein Herr,« erzählte die Alte, »wir, das heißt die Vorfahren meines seligen Mannes, haben bessere Zeiten gesehen; sie waren begütert, sie waren mehr als begütert, sie waren eine Art von Rotschild, aber mit einer angestammten freiherrlichen Krone im Wappen und brachten es fertig, fünf Stunden hintereinander auf ihrem eigenen Grund und Boden herum zu kutschieren.«

»So, so, so ...!« machte Herr Pollmann.

»Ja – sogar noch der Urgroßvater meines seligen Mannes ... Allein – was soll ich Ihnen noch lange erzählen! – Kutscher, Diener, Livreen, Kammerzofen und Sillerygläschen gingen im Laufe der Tage den Weg alles Fleisches, so daß schließlich mein armer Gemahl sich genötigt sah, als simpler preußischer Steuerbeamter ...«

Mit einem tiefen Seufzer überließ sie die weitere Ausmalung des traurigen Loses derer von Satzenhofen der regen Phantasie ihres aufmerksamen Zuhörers.

» Tristissimo!« sagte Herr Pollmann, »und Sie, Signora, da sind Sie wohl auf den Einfall gekommen ...«

»Auf welchen Einfall ...? – Was hätte mir einfallen sollen ...?«

»Nun ich dächte ... man könnte doch immer vermuten ... man hat doch Exempel, daß selbst Damen aus der allerfeinsten Gesellschaft ... Ich meine, um mich präziser zu geben, daß solche edle Frauen sich genötigt sehn dürften, irgendeine Beschäftigung ... Man muß doch leben, Signora, denn die Ersparnisse eines verstorbenen Steuerbeamten, der dazu noch die zweifelhafte Ehre gehabt hat, in preußischen Diensten zu stehen ...«

»Leider! – wir haben uns genötigt gesehen. Von dem alten, verblichenen Glanz kann man nicht leben, und daher: wir sind Künstler geworden, mein Herr; das heißt nicht ich, sondern hier meine Tochter Pauline.«

»Also artista

»Ja,« meinte die Alte.

»Hm!« sagte Herr Pollmann, »und darf man fragen, welches Fach sich die Baronesse gewählt haben, worin sie brilliert und die Herzen mit fortreißt?«

Über die vergrämten Züge der jüngeren Dame lief ein spöttisches Lächeln.

»Warum sollten Sie nicht fragen dürfen?« versetzte die Alte.

»Also denn: erste Heldin, Signora?«

»Nein.«

»Naive?«

»Auch das nicht.«

»Primadonna, Soubrette ...?«

Die Alte verneinte.

»Nun?«

»Sie ist Anstands- und Tanzlehrerin.«

»Hm!« meinte Herr Pollmann und schraubte seine Hochschätzung um etliche Fingerbreiten herunter.

»Sie erstaunen, mein Herr?«

»Im Gegenteil, auch in diesem Berufe ...«

»Bitte, bitte, ich verstehe in Menschenherzen zu blicken,« sagte die Alte, »und verüble es keinem, wenn er über das Schicksal derer von Satzenhofen ... Man muß sich eben an alles gewöhnen, wenn es auch schwer wird. Ich behalte Contenance, mein Herr, obgleich dem Urgroßvater meines seligen Gatten niemand an der Wiege gesungen hat, daß dereinstmals seine Ur-Urenkelin ...«

»Aber Mutter ...!«

»Sei ruhig, mein Kind; allein ich kann's nun einmal nicht mehr verwinden, daß in unserer Familie mal Wagen, Livreen und wirkliche Kutschpferde waren ...« wuscherte in ihrem Pompadour herum und wischte sich mit einem Taschentuch, auf dem eine siebenfältig geperlte Krone gestickt war, über die Augen.

Karlo Antonio glaubte dem Gespräch eine andere Wendung geben zu müssen und sagte: »Aber, Signora, es kommen auch bessere Zeiten; man muß sich in das Unvermeidliche schicken, man muß den Kopf oben behalten – immer avanti! – und da wollen Sie in hiesiger Kirchengemeinde ...?«

»Ja.«

»Und gedenken Geschäfte zu machen?«

»Wir hoffen.«

»Und Ihr Gasthof – wenn Sie mir diese Frage erlauben?«

»Gasthof?! – Ach, du mein Himmel! – wir müssen uns anderweitig behelfen. Die Mittel, die diesbezüglichen Gelder ...! – Wir haben uns in Kleve erkundigt, und da hat man uns an eine gewisse Bettje Theißen verwiesen.«

» Molto bene,« sagte Herr Pollmann. »Zwar schrullig veranlagt, sehr bescheiden hinsichtlich der klingenden Münze – aber Liebe, große Liebe im Herzen.«

»Ich danke Ihnen, mein Herr. Sie scheinen mir übrigens mit den hiesigen Verhältnissen sehr vertraut zu sein.«

»War ich, Signora, und hoffe es wieder zu werden, obgleich mir die preußischen Zustände wenig behagen. Der vom Zaun gebrochene Krieg, der leider Gottes zu ungunsten der französischen Waffen entschieden wurde, die Drangsalierung der geistlichen Hirten, der ganze sogenannte Kulturkampf – alles Dinge, die einem wahrhaft gläubigen Katholiken die Schamröte ins Gesicht schlagen müssen.«

»Sie scheinen für die deutsche Sache wenig Verständnis zu haben,« ließ sich eine bestimmte, aber angenehme Stimme vernehmen.

»Aber, mein Kind ...!« sagte die ältere Dame.

»Jeder Deutsche sollte auf die Errungenschaften der verflossenen Jahre doch stolz sein; jeder Deutsche sollte doch soviel Ehre besitzen ...«

Mit einer unwirschen Geste drehte sich die junge Sprecherin auf die andere Seite. In ihren stillen, großen Augen brannte es wie von einer tiefen Erregung.

»Ansichtssache,« versetzte Herr Pollmann. »Jedenfalls liegen meine Interessen nicht hier in dem gemaßregelten Deutschland. Die italische Sonne, Rom, der große Sankt Peter...! Ich habe in päpstlichen Diensten gestanden.«

»Ei!« sagte die Alte, »das ist sehr interessant – und Sie haben sich trotzdem entschlossen...?«

» Si, Signora – um die derangierten Verhältnisse eines hier ansässigen Barons ...«

Er sprach nicht weiter.

Mit lautem Gestucker rumpelte der Postwagen in die kleine niederrheinische Stadt ein.

Stäwe blies seine obligate Fanfare; dann knallte er mit der Peitsche, daß es nur so eine Art hatte.

Neugierige drängten sich zur Türe heraus und liefen in Erwartung der kommenden Dinge der Posthalterei zu, denn es bestand kein Zweifel mehr, was für Passagiere eintreffen würden.

»Herr Pollmann kommt!« riefen die einen.

»Die Tanzmamsell kommt!« schrien die anderen, machten lange Beine und erstaunte Gesichter und waren so fix wie die Postklepper, die noch gemächlich äppelten und dann mit monotonem Geklapper auf den Marktplatz einbogen.

Eine feine Dämmerung häkelte sich bereits von Straße zu Straße, hatte aber noch immer hinreichendes Licht, alle Vorgänge deutlich erkennen zu lassen. Nur hin und wieder fiel ein matter, orangefarbiger Lampenschimmer ins Freie hinaus, den irgendein vorsorglicher Manufakturist oder ein sonstiger Ladenbesitzer geweckt haben mochte – eine überflüssige Ängstlichkeit, denn sie hätten auch ohne das noch ihre Pfennige abzählen und einheimsen können. Allein die vom Niederrhein sind subtil veranlagt und übersehen die Dinge lieber doppelt und dreimal. Gut Ding will Licht haben und muß klar sein wie die Sonne des ewigen Gottes.

Vor der Posthalterei hatte sich eine Gruppe von Männern in schwarzen Gehröcken und weißen Westen eingefunden, die offenbar mit der Ankunft der fälligen Postkutsche zu tun hatte.

Daneben stand ein Mann in schwarzer Soutane.

Es war Joseph von Arimathia.

Seitwärts hatte sich ein anderer placiert, der einen hohen Zylinder auf dem Kopf balancierte, und sich damit beschäftigte, weißbaumwollene Handschuhe über die schlenkrigen Finger zu streifen, hierauf eine Stimmgabel hervorholte, sie anknipste und sich alsdann der Männergruppe gesellte.

Und das war Pitt Hoffmann, der im Nebenamt noch den Männergesangverein ›Concordia‹ dirigierte.

Jetzt kam der Wagen gerappelt.

»Prrr!« sagte Stäwe.

Alle Augen wurden größer und alle Gesichter immer gespannter und länger.

Der Schlag wurde geöffnet, und siehe da: ein weißbestrumpftes, zierliches Frauenzimmerbeinchen erschien – Joseph von Arimathia wandte sich ab – und dann ein honettes Persönchen, dem eine ältere Dame folgte, die nach einer Bettje Theißen fragte, und als diese kam, ihr diverse Gepäckstücke einhändigte und noch verschiedene Aufträge erteilte.

»Die Tanzmamsell!« flüsterten die Kinder, stießen sich an und verfolgten die allerliebste Person, als sie sich mit ihrer Mutter und Bettje Theißen eiligst entfernte.

»Die Tanzmamsell...!« – und dann präsentierte sich Karlo Antonio Pollmann auf dem niedergelassenen Trittbrett: als Held, in hechtgrauer Uniform, als päpstlicher Zuave a. D. und ohne den Don Diego, den er abgestreift und über den linken Unterarm gelegt hatte.

Mit scharfen, aber wohlwollenden Augen fixierte er die Männergruppe und die übrigen Leute. Er wußte nicht, was er mit ihnen anfangen sollte. Aber das sollte jetzt kommen.

»Pst!« sagte Pitt Hoffmann, knipste noch mal und gab leise den Ton an; dann benutzte er die Stimmgabel als Taktstock.

»Eins, zwei, drei...!« sagte Pitt Hoffmann, und: mit des Sturmes Allgewalt, brausend, ans Herz gehend schlug es dem Erstaunten aus dreizehn edlen Männerkehlen entgegen.

»Denkst du daran, mein tapf'rer Lagienka...« zog es über den Markt fort, und zwar so hinreißend, daß selbst Severin Piepmann, von Briefen und Postpaketen weg, vor die Tür trat und in höchstgetragener Weise, gewissermaßen als Begleitung, in den würdigen Kantus hineinpfiff.

Bewegten Herzens war Karlo Antonio näher getreten.

»Das ist zu viel, meine Herren!« wollte er sagen, konnte es aber nicht, weil die ›Concordia‹ gerade mit der dritten Strophe eingesetzt hatte. Nichts blieb ihm erspart, er mußte den edlen Gesang bis zur letzten Note auf sich einwirken lassen.

»Geh du mit mir und schließ' die Augenlider
Und scheidend sprich: Soldat, denkst du daran?«

Jetzt war's alle.

»Aus!« sagte Pitt Hoffmann, wischte sich den Schweiß von der Stirne und ließ die Stimmgabel sinken. »Jetzt kommt die Ansprache.«

»Meine Herren, Signori, Maestro...« versuchte Karlo Antonio das Wort zu ergreifen.

Aber er kam nicht weiter.

Joseph von Arimathia hatte sich bereits zweimal geräuspert, die Hände ineinandergelegt und dann mit Bewegung und seelenvoller Stimme begonnen: »Herr Pollmann! Ich begrüße Sie hier auf heimischer Erde; ich begrüße Sie im Namen der Stadt und im Namen der leidenden Kirche. Seien Sie uns herzlich willkommen als gläubiger Katholik, als gewesener Diener des heiligen Vaters, als nunmehriger wohlbestallter Rentmeister in Moyland. Nur durch Gottes Hilfe ist es möglich geworden, Ihnen dieses bedeutsame Amt zu versorgen – und wir hoffen zu ihm, daß Sie dessen eingedenk sind in allen Lagen und Schwierigkeiten des Lebens, daß Sie stets zu finden sein werden, wo es not tut, wo wir Pioniere bedürfen, die gewillt sind, für die heiligsten Güter zu kämpfen, genau wie Ihre Schwester Miekske es immer getan hat und selbst in ihrer bedrängten Lage es vermochte, sich von einer gewissen Kasse zu trennen, die ihr anderen Falles bedeutsame und, ich betone, leibliche Genüsse verbürgt haben würde. Dess' seien Sie eingedenk. Die Kirche und wieder die Kirche! – Das sei Ihr Leitstern fürs Leben. In diesem Zeichen werden Sie siegen, Herr Pollmann. Und somit überreiche ich Ihnen die Bestallung für die Rentmeisterstelle in Moyland. Werden Sie glücklich.«

Und der Männergesangverein ›Concordia‹ schrie »Hurra!« und »Vivat!«, und der Herr Dirigent ließ die bleigrauen Augendeckel herunter, legte die Linke mit dem weißbaumwollenen Handschuh aufs Herz und versicherte auf Leben und Sterben: »Herr Rentmeister, wenn Sie mich nötig haben, wenn Sie mir gebrauchen können – hier bin ich; ich heiße Pitt Hoffmann.«

Karlo Antonio wußte nicht mehr, was er anfangen sollte. Schließlich kam ihm aber doch ein Gedanke; er lüftete sein Käppi und sagte in gehobener, begeisterter Stimmung: » Grazie tante! – Meine Herren! – Signori, Maestro, Abate!– mir fehlen die Worte. Wie's aber in meinem Inneren aussieht, wie ich denke und fühle, das möge hier die päpstliche Zuavenmontierung beweisen, die ich zur Feier des Tages angelegt habe – ein Ehrenkleid, das ich sonst nur an den höchsten Festtagen zu tragen gewohnt bin. Das möge genügen.«

»Genügt uns,« konstatierte Joseph von Arimathia, »und nun gehen wir zu Miekske.«

Und der Herr Postmeister blies und pfiff ihnen nach:

»Denkst du daran, mein tapfrer Lagienka...«

und war dann wieder über die Schwelle getreten.

Auch Stäwe Rademaker lenkte die Postkutsche stallwärts, murmelte aber noch zwischen den Zähnen: »Kuriose Menschen, für so 'nen Kerl solche Fisematenten zu machen! – Dämels...!« und dann war es still, fast totenstill auf dem weiten Marktplatz geworden.

In den Häusern der kleinen Stadt hellten die Fenster auf – eins nach dem andern. Und die Stunden vergingen. Es wurde neun Uhr – es wurde zehn Uhr. Dann rief der Nachtwächter die elfte Stunde an. Da verloschen die Lichter auch wieder. Es war so, als wäre ein stiller Geist durch die Straßen gegangen und hätte sie ausgepustet – eins nach dem anderen.

Nur ein einsamer Lichtschein drang noch aus einem niedrigen Häuschen heraus, das mit seiner Hinterfront an den Garten und die Werkstätte von Johannes Wesselink anstieß. Hier wohnte Bettje Theißen. Und wer durch die Spalte einer herabgelassenen Gardine gespäht hätte, der hätte auch bemerkt, wie da ein allerliebstes Persönchen in bloßen Schultern stand, die honigfarbigen Löckchen auf Papilloten wickelte und sich sorglich zurecht machte.

Bald darauf war auch dieses Lichtchen gestorben.

Die Tanzmamsell war schlafen gegangen.


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