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VI Was die Göttin der Gerechtigkeit nicht alles zustande bringt!

Die Tage trödelten sich langsam bis in die Mitte der Woche hinein. Sie liefen alle mit erfrorener Nasenspitze einher; seit Menschengedenken war nicht solches Wetter gewesen. Früher denn sonst setzte die Kälte ein und machte sich wie ein Bäckermeister zu schaffen. Sie puderte Mehlstaub umher, überzuckerte die alte Marktlinde von unten bis oben und bestreute die Fensterscheiben mit Kandisblumen, daß es nur so blinkte und blitzte. Mit Sinter Klas hatte es noch gute Weile, man dachte noch gar nicht daran, und trotzdem versuchten schon Knaben und Mädchen, in den zugefrorenen Gossen die Bahn zu schlagen.

Als das Miekske Pollmann bemerkte, tat sie eine doppelte Portion Kohlen in ihren altmodischen Kanonenofen, rieb sich behaglich die gichtischen Hände und meinte: »Jetzt kann ich meinen ersten Brat-Äppel-Kaffee geben, denn jetzt schmeckt es am besten ...« Und der Herr Rektor Hartjes stand nach dem ersten stärkeren Frosttag vor der steinernen Themis, die über der Rathaustür thronte, und sah betrüblich nach oben. Dort war ein Unglück passiert. Die Kälte hatte sich in die feuchten Spatzennester, die hinter dem Spruchband saßen, gefressen, hatte dort die frostigen Ellenbogen gestemmt und ein Stück der in Stein gemetzten Inschrift heruntergebrochen. Von dem ›Fiat justitia, pereat mundus‹ war nur noch das ›pereat mundus‹ übriggeblieben, und das schmerzte den klassisch gebildeten Mann, und da gerade das Oberhaupt der Stadt vorüberging, sprach er ihn an und meinte: »Herr Bürgermeister, alle Spatzennester müssen herabgeholt werden, sonst können wir noch das Schlimmste erleben.«

»Soll geschehen,« versetzte Herr Backers.

»Außerdem,« fuhr der Rektor fort, »beleidigt es mein heiligstes Empfinden, daß sich im verflossenen Sommer ein Schwalbenpaar mit ihrem Kugelnest unmittelbar über die Büste der Frau Justitia angebaut hat. Die altheidnische Legende weiß nun zwar von einem Manne namens Poliphem zu berichten, dessen Stirn mit einem mächtigen Auge geschmückt war. Er durfte sich also einäugig nennen, und war ein seltsam Begebnis, daß aber in altheidnischer Zeit eine dreibrüstige Person gelebt haben sollte, habe ich nicht zu ergründen vermocht und plaidiere dieserhalb dafür, daß auch das Schwalbennest, und zwar aus ästhetischen Gründen ...«

»Auch das wird gemacht,« sagte Herr Backers, und so geschah es denn, daß noch an demselben Tage Polizeidiener und Nachtwächter mit Leiter, Bürste und Wassereimer anrückten, um die mißhandelte Themis von Schwalben- und Spatzennestern zu säubern. Selbstverständlich ließ es sich Herr Hartjes nicht nehmen, jede freie Stunde, die ihm verblieb, der Überwachung des Reinigungswerkes zu widmen. Auch noch kurz vor dem häuslichen Silentium der Schüler stand er in eifriger Konferenz mit Polizeidiener und Nachtwächter, belehrte hier und dort, gab sachmäßige Anweisungen, und zwar unter Berücksichtigung aller Details, bis es schließlich dazu kam, daß er den Vesperkaffee verpaßte.

Um diese Zeit hatte Miekske Pollmann ihre beste Nähschülerin ausgesandt, um für ihre morgige Visite in aller Form die Gäste zu bitten. Mit Pelzmützchen, Kaninchenmuff und Seelenwärmer ausgerüstet, machte Adele Knipp ihre Sache denn auch sehr gut. Ihr Näschen sah aus wie 'n glühendes Köhlchen. Nachdem sie schon über eine Stunde herumgeklingelt hatte, sprach sie auch jetzt bei der Frau Rektorin vor.

Vollbusig und in Erwartung ihres Mannes saß Frau Petronella Hartjes beim Vespertisch und klimperte ungeduldig mit einem Löffelchen gegen die Porzellankanne, als Adele Knipp das Haus des Rektors beehrte.

»Tag, Frau Präsidentin.«

»Tag, mein Kind – was gibt es denn Schönes?«

»'ne moije Empfehlung von Miekske Pollmann, und Miekske Pollmann läßt die Frau Präsidentin morgen nachmittag vier Uhr zu 'nem Köppje Kaffee mit Erdeicheln, Musekötteljes und Bratäpfel bitten.«

»Danke. Wer kommt noch?« fragte Frau Hartjes.

»Die Posthalterin Piepmann mit Tochter, dann Fräulein Therese von Arimathia.«

»Wer weiter?«

»Frau Hoffmann.«

»Hat sie angenommen, Adele?«

»Ja – Frau Hoffmann gibt sich die Ehre.«

»Wer sonst noch?«

»Bettje Theißen.«

»Die kommt,« konstatierte Frau Hartjes. »Wenn die auch nicht käme, dann fielen Ostern und Pfingsten zusammen; man weiter. Wer ist sonst invitiert?«

»Die beiden Damen mit die komischen Namen.«

»Die Tanzmamsells ...?!«

»Ja,« sagte Adele. »Die Jüngere wollte zwar nicht, als aber die Ältere hörte, wer alles hinkommen täte, da sagte sie zu der anderen Dame: Da siehst du, Pauline ... Wir haben zwar noch ungemein mit's Auspacken und den Arrangements fürs Tanzen zu schaffen – aber man weiß uns zu schätzen. Und wenn man bedenkt, daß sogar eine Frau Präsidentin ...«

»Die Tanzmamsells haben ein feines Benehmen,« fiel Frau Hartjes dazwischen. »Das gefällt mir an ihnen – und von diesen ehrenwerten Damen bist du nun zu mir gekommen?«

»Ja,« meinte Adele.

»Aber warum denn zuletzt?«

»Weil Miekske Pollmann gesagt hat: Das Beste kommt immer ans Ende. So ist es auch auf der Hochzeit zu Kana gewesen.«

»Auch ein feines Benehmen,« nickte Frau Hartjes, »und somit kannst du Fräulein Pollmann sagen, daß es mir eine Herzensfreude sein würde, ihrer Einladung Folge zu geben. Nun geh schön, und wenn du dem Herrn Rektor begegnest ...«

»Der steht noch immer am Rathaus,« versetzte die Kleine, »und kuckt zu, wie sie der komischen Person die Möschennester aus den Armen 'rausnehmen.«

»Also schon wieder!« konstatierte Frau Hartjes, »und ich habe ihm doch heute morgen verboten ... Nein, diese Männer ...!«

Sie wollte noch mehr sagen, faßte sich aber und meinte: »Also ich komme – und 'ne schöne Empfehlung an Fräulein Pollmann, Adele.«

»Danke!« knickste die Kleine, dann ging sie, wäre aber beinahe über den Rektor gestolpert, der, mit einem Pack Hefte und einer revidierten Ausgabe des Cornelius Nepos unterm Arm, eiligst das Zimmer betrat, sein Päckchen auf den Tisch schob, Hut und Mantel beiseite legte und sich dann an den Ofen begab, um sich dort die durchfrorenen Finger zu wärmen.

»Guten Tag, Petronella,« sagte er in heiterer Laune und rieb dabei vergnügt die Hände zusammen. »Nein, dieses Wetter, dieses herrliche Wetter da draußen! Knusperig, herzhaft ...! Man wird wieder munter, gelenkig – man wird wieder zum Jüngling.«

»So?!« meinte Frau Hartjes.

»Ja, Petronella, und wenn ich so alles bedenke: wir zwei beide, wir könnten doch in unserer Jugendfrische zusammenleben wie Philemon und Baucis.«

»Wer war Philemon?«

»Ein glücklicher Grieche,« sagte der Rektor.

»Und sie?«

»Eine glückliche Griechin,« dozierte Herr Hartjes, »beides liebevolle Menschen aus der altgriechischen Sage – hellenische Menschen, die sich auf die ars amandi verstanden.«

Zärtlich glitten dabei seine Augen über die opulenten Formen seiner stattlichen Gattin.

»Ach, was – mit den Griechen ...!« versetzte Frau Hartjes. »Das sind alte Heiden mit 'ner Heidenwirtschaft gewesen, und ich mag solche nun einmal nicht leiden. Aber ich will dir was sagen, Franziskus« – sie war näher getreten und fixierte ihn mit ihren stechenden Blicken von oben bis unten – »du scheinst mir auch auf die sauberen Sprünge der alten Griechen kommen zu wollen.«

»Aber wieso denn?«

»Hast du nicht den lieben langen Tag vor dem nackten Fraumensch am Rathaus gestanden?«

»Petronella, nur Kunstinteresse ... Ich spreche meinen Quartanern gerade von den hellenischen Göttern – und da bekanntlich auch Themis ...«

»War das nicht auch eine Griechin?«

»Allerdings ...«

»Na – also.«

»Aber ich sollte doch meinen ...«

»Schweige, Franziskus! – Nicht nur, daß diese Weibsperson nicht mal wie 'ne anständige Frau ein Korsett an hat – nein, sie ist ja dekolletiert bis zu den Hüften herunter, und da hast du die Dreistigkeit, bei hellichtem Tage, im Angesicht deiner Schüler und Mitmenschen ...«

»Petronella, ich sage dir ja: nur Kunstinteresse. Themis war die erste Gemahlin des Jupiter, aus dem Geschlecht der Titanen. Sie ist die Göttin der Gerechtigkeit und trägt Binde und Wage – beides Zeichen ihres heiligen Amtes.« »So,« meinte Frau Hartjes mit funkelnden Augen, »sie trägt Binde und Wage...«

»Ja,« warf sich der Rektor forsch in die Brust, »und weil mir diese durch die Spatzennester gefährdet erschienen...«

»Willst du mir weis machen wollen,« fiel Frau Hartjes zungenfertig dazwischen, »daß du nur aus Kunstinteresse...«

»Frau, ich habe meine gewichtigen Argumente...!«

»Die verfangen bei mir nicht. Derartige Beweistitel haben wackelige Beine, und jede Frau, die noch ein gewisses Gefühl für Pflicht und Moral hat...«

»Aber Petronella!« rief der Rektor und schlug verzweifelt die Hände zusammen, »du mußt doch endlich begreifen...«

»Hier ist nichts zu begreifen,« versetzte sie wütend, trat auf ihn zu und meinte mit einem so recht bitteren Lachen: »So seid ihr Duckmäuser aber alle zusammen genommen – und du bist der Schlimmste von allen! Das Feinste haben sie im eigenen Hause, und doch gehen sie hin und besehen sich so 'n griechisches Fraumensch. Schämen solltest du dich vor Gott, vor mir und deinen Quartanern. Spatzennester...?! – Es ist ja zum Lachen! – und dabei noch die Stirne zu haben, einem mit Kunstinteresse und hellenischer Bildung zu kommen. Wahrhaftig – du bist mir schon der rechte Philemon! – sei aber gewiß, ich bin nicht gewillt, die sehr zweifelhafte Rolle der Baucis zu spielen. Und daher: ich werde dir schon die griechischen Sprünge vertreiben. Heute abend...«

Da war's alle mit dem sonst so gutmütigen und friedfertigen Rektor.

»Weib?!« donnerte er los, ergriff das Paket Hefte und warf es über den Tisch fort, daß die Blätter nur so herumvoltigierten. Dann faßte er den Cornelius Nepos und streckte das Buch in die Höhe, wie Moses vor Zeiten die Gesetzestafeln gefaßt haben mochte, als ihm die Pflicht oblag, sie seinem störrischen Volke zu zeigen. »Weib, ich hab's satt! – Meine Galle läuft über wie das Ölkrüglein der Witwe von Sarepta. Schon wegen meines verstorbenen Freundes Ingelaat hast du mir einen Heidenspektakel gemacht; nun kommst du mit der göttlichen Themis und schiebst mir Dinge unter, die mich in den Augen meiner trefflich geleiteten Rektoratschule herabsetzen müssen. Nicht in meinen herrlichsten Träumen sind mir solche Gedanken gekommen.«

»Na – deine Träume ...!« sagte Frau Hartjes.

»Weib!« schrie der Rektor zum anderen und hielt dabei seinen Cornelius Nepos um etliche Zollbreiten höher, »nur die Spatzennester sind es gewesen!«

»Nein,« replizierte Frau Hartjes, »der schamlose Busen!«

»Die Spatzennester!«

»Der schamlose Busen!«

»Spatzennester, Schwalbennester ...!« hielt ihr der Rektor flammenden Auges entgegen, »und selbst gesetzten Falles, es wäre der Busen der göttlichen Themis gewesen: ich hab's satt und genug und lasse mich von dir nicht mehr länger kuranzen. Tu, was du willst. Klinke mich aus bis in den untersten Keller, meinetwegen hundert Jahre und mehr noch, denn lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende; ich verzichte auf alles. Hier, Petronella« – und er bekam das hochgehaltene Buch fester im Griff, zog es herunter und schlug mit der Linken auf den etwas schadhaften Einband – »hier, Petronella, ist das Buch aller Bücher, der Cornelius Nepos: Liber de excellentibus ducibus exterarum gentium – das Buch, welches handelt von allen berühmten Männern und Führern aller Nationen und Zeiten: von Miltiades über Pausanias, Sohn des Kleombrotos, aus dem spartanischen Königshause der Agiaden, bis zu Hamilkar Barkas und Hannibal herunter. Und so etwas von Miltiades und Hamilkar Barkas ist mir in die Knochen gefahren. Sie sind Helden gewesen – Helden und Männer. Ich habe gelernt und gelesen – und bin endlich zur Einsicht gelangt, daß ich es ihnen gleich tun muß, daß ich das knechtische Joch des Weibes über Bord zu werfen habe, um mich als Held und Mann zu gerieren. Fort mit der kaudinischen Schmach und dem Debakel von Kannä! Mann will ich sein, wie die glorreichen Männer es waren! Exempla trahunt! – ich folge ihnen nach – und somit Petronella: ich esse heute abend bei Marie Janssen ›Im Ridder‹.«

Klatschend flog der Cornelius Nepos gegen den Rahmen des Spiegels und von hier aus zu den Heften und Löschblättern, die fast den halben Boden des Zimmers bedeckten.

Und der Rektor selber ...?!

Stolz wie Hannibal, als sich dieser zum syrischen König begab, ging er in die selbstgewählte Verbannung – zum ›Ridder‹, drehte sich aber zwischen Tür und Schwelle nochmals herum und sagte, ohne mit den Wimpern zu zucken: »Und was dich selbst anbetrifft, Petronella – meinetwegen kannst du Grades Gertzen bestellen.«

Jetzt war er wirklich gegangen.

Frau Hartjes hatte sich in einen Sessel geworfen; sie war sprachlos und saß da wie die Geschichtsschreiberin Klio. Und das paßte auch wirklich, denn sie stierte, umgeben von zerstreuten Blättern und Papierschnitzeln, ins Leere, überdachte das Vergangene und grübelte darüber nach, was die kommenden Tage ihr bringen würden; nur fehlte der Gänsekiel. Dafür hielt sie aber das Kaffeelöffelchen gefaßt, das sie während der ganzen Auseinandersetzung mit ihrem Manne nicht aus den Händen gegeben hatte, als müsse sie dieses unscheinbare Ding jeden Augenblick als Griffel benutzen, um das rebellische Verhalten ihres rechtlich angetrauten Helden zu buchen und in die richtige Beleuchtung zu stellen.

Allein, wie sie auch grübeln mochte, sie hatte den Faden verloren, sie konnte den erforderlichen Dreh nicht mehr finden – aber das wußte sie: das Heft war ihr heute aus den Händen genommen; sie war besiegt, und ihr Gatte war Sieger geblieben, und diese Erkenntnis machte sie sprachlos, gefühllos und unfähig, ihre Vespermahlzeit herunterzubringen.

Und sie saß da noch immer, als das Dienstmädchen Licht brachte und schweigend die verstreuten Quartanerhefte einsammelte und mit einem vielsagenden Blick beiseite legte.

Und sie saß da noch immer, als es bereits spät Abend geworden, sich bekannte Schritte im Hausflur vernehmen ließen, ihr Mann eintrat und an sie die Frage richtete: »Ist der Zimmermann Gertzen hier gewesen?«

»Nein.«

»Und meine Schlafgelegenheit ist noch immer da oben?«

»Dann werde ich auf dem Sofa in meinem Studierzimmer kampieren. Alea jacta est! Verstehst du?«

Herrisch stülpte er sich den Hut wieder auf, als er das sagte; dann verließ er die Stube, aber mit einem Schritt, wie ihn der reckenhafte Punier an sich gehabt haben mochte, als er die Schlacht am Trasimenischen See gewonnen hatte.

Jetzt war der Bann gebrochen.

Frau Petronella reckte sich auf. Sie hatte richtig gesehen. Jeder Held, auch der stärkste, ist mit einer Achillesferse behaftet, denn sie, die Frau Rektor, hatte wohl gemerkt, wie der Zeiger der Uhr ging. Trotz seines aufgesetzten Hutes und trotz seines Heldentums hatte ihr Mann so komisch geäugelt.

Das belebte ihre desolate Verfassung.

»Der kommt wieder,« sagte sie mit einer fast triumphierenden Stimme, klingelte das Mädchen herbei, ließ den Tisch abräumen und begab sich nach oben. –

Der andere Morgen kam mit seinen glitzernden Eisblumen und den Myriaden von Rauhreifsternchen, die im Gezweige der alten Marktlinde hingen. Auch die frisch gesäuberte und von ihren Spatzennestern befreite Göttin der Gerechtigkeit war ganz überzuckert und strahlte einen überirdischen Glanz aus, so daß die Leute stehn blieben und das Bildnis mit wohlgefälligen Augen beschauten.

Auch der Rektor war unter ihnen, erklärte den Zweck der Säuberung und setzte des längeren auseinander, daß die steinerne Person eine Titanide gewesen, mit in die christliche Anschauung hinübergenommen sei und bis auf den heutigen Tag dazu berufen wäre, Gesetz und Recht zu verkörpern »denn es ist eine von jeher bestehende Satzung,« fügte er erklärend hinzu, »daß sich die menschliche Gesellschaft von der höchsten Instanz bis zu irgendeinem Mitglied der Familie herunter auch nicht die geringsten Übergriffe gefallen lassen darf, denn: suum cuique.«

»Ganz mein Pangschang,« meinte Leopold Derksen, der ebenfalls zu den Zuschauern gehörte, »sonst ist die ganze Prostemahlzeit for gar nichts. Ein königlich preußischer Obergefreiter muß sein Recht haben, desgleichen dito die Kirche, aber keinen Hammerschlag mehr nicht.«

»Richtig,« nickte Herr Hartjes, »sie darf nicht alles bekommen.«

»Auch meine Meinung,« bestätigte Derksen, »zum Beispiel Pitt Hoffmann, denn er gehört gewissermaßen doch auch zur Kirche und singt die Toten zu's ewige Leben – und das kostet Moneten, mehr wie die ganze Begraberei wert ist, und das darf die da ... wie heißt doch das Fraumensch?«

»Themis,« sagte der Rektor.

»Richtig – das darf die da nicht wollen, denn nur der Lebendige hat recht. Und meine Tochter hat recht, weil sie 'nen Jungen gekriegt hat, und Johannes Wesselink hat recht, weil er fünfhundert Taler vorgeschossen hat desgleichen dito die beiden, ich meine Anna und Jans, weil sie sich heiraten wollen – und in vierzehn Tagen ist Hochzeit – und das haben wir der da ... wie heißt doch das Fraumensch, Herr Rektor?«

»Themis.«

»Richtig, Herr Rektor – das haben wir der da zu danken, und drum vertrete ich die Meinung, daß wir alle zwei beide mit 'nem forschen Hurra hochleben lassen. Zuerst Ihnen, Herr Rektor, weil Sie das Frauenzimmer haben reinigen lassen, desgleichen dito das Frauenzimmer selber, weil sie das Recht in die Welt gesetzt und keinen Pangschang dafür hat, daß Pitt Hoffmann so heidenmäßig teuer die Toten besingt und in die Grube hineinkomplimentiert. Drei Taler pro Kopf – bei Ingelaat sind's sogar fünf Taler zehn Groschen gewesen – ist 'ne übermäßige Summe. Und darum, Mitbürger, bringe ich den zwei beiden ein Hoch aus. Sie sollen leben: Hoch, hoch, hoch!«

Und die anderen stimmten ebenfalls ein und riefen ein über das andere Mal: »Hoch, hoch, hoch!« daß es man so über den Marktplatz fortrollte, als hätten die Klever Füsiliere eine regelrechte Salve mit allen Schikanen vom Stapel gelassen.

Und Derksen trat auf den Rektor zu, der sich äußerst geschmeichelt fühlte, klopfte ihm vertraut auf die Schulter und sagte: »Sehen Sie, Herr Rektor, das ist so was für 'ne Achundvierziger-Obergefreiten-Seele, das ist ganz mein Pangschang, und ich würde mir über alles Erwarten fühlen, wenn Sie mir bei der Hochzeit von Anna die außerordentliche Ehre anerweisen täten, zu kommen, denn Sie sind ein Mann von Gerechtigkeitsgefühl, gerade wie die da ... wie heißt doch das Fraumensch?«

»Themis.«

»Richtig, Herr Rektor. – Sie fühlen wie die da, desgleichen dito wie Johannes Wesselink, der leider nicht hier ist, weil er sich noch bis Ende der Woche in Elten befindet; aber das schadet nicht weiter, denn wenn er zurückkommt, dann werde ich ihm alles erzählen, was Sie für ein nobeler Mann sind und nicht so denken wie Pitt Hoffmann, der es selbst noch den Toten aus der Nase herauszieht, denn: jedem das Seine! – aber wie sagten Sie doch vorhin, Herr Rektor?«

»Suum cuique.«

»Ganz meine Meinung – und da werden Sie auch wohl dafür sorgen können, Herr Rektor, daß Johannes Wesselink sein testamentliches Recht und seine Luise bekommt, daß da nicht andere Finger herummausen können. Und dessentwegen lasse ich Sie nochmals leben, Herr Rektor.«

»Bravo!« riefen die andern.

Und »Hoch, hoch, hoch!« ging das wieder.

»Ich danke Ihnen allen,« sagte der Rektor, »ich danke Ihnen allen aus ganzem Herzen, weil ich sehe, daß Sie meine kulturellen Bestrebungen zu unterstützen geneigt sind,« und da er ein sehr bescheidener Mann war, gedachte er sich auch ganz bescheiden den weiteren Ovationen zu entziehen – allein das ging nicht so einfach.

Alle zogen mit: Leopold Derksen, der Nachtwächter, die halbe Rektoratschule – und als der lärmende Zug an der Posthalterei vorbeikam, steckte Severin Piepmann den Kopf zum Fenster heraus, spitzte den Mund und pfiff das Signal, das die Hornisten auf dem Exerzierplatz bliesen, wenn feindliche Reiterei gemeldet wurde.

»Hei!« sagte Piepmann, »was los?!« Dann gellte es in den schrillen Tönen einer Pickelpfeife über den Markt fort:

»Gib acht, du preußische Infanterie,
Da kommt die feindliche Kavallerie –
Karree! – Karree! – Karree...!«

»Karree! – Karree! – Karree...!« antworteten die Rektoratschüler in der nämlichen Weise und schwenkten die Mützen. Mit hellem Gepfeife ging es vorüber.

Auch Pitt Hoffmann, der mit dem Zimmermeister Gertzen auf der Türschwelle stand, gedachte mit einzustimmen. Als er aber gewahrte, wem die Ovation galt, hielt er den Mund und sagte verächtlich: »Da bringen sie den liberalen Rektor nach Hause. Wenn er nicht die vornehme Frau hätte, man sollte ihm aus seinen liberalen Ideen 'nen Strick drehen und ihn lebendig ersäufen.«

»Das wäre die beste Satisfaktschon für die katholische Kirche,« meinte Gertzen, indem er sich langsam mit seinem Zimmermannsdaumen einen Tropfen von der Nasenspitze fortwischte, »und ich frage: warum denn? – Weil er immerzu mit meinem Konkurrenzmann dakohr ist, und Wesselink auch nicht in der besten Reputatschon steht bei allen christkatholischen Menschen. Ich frage: warüm denn? – Weil er testamentlicher Erbe geworden, die luthersche Schule baut und mir immerzu in meinem Handwerk herumpickt wie'ne Krähe mit 'nem grindigen Schnabel.«

»Je,« sagte Pitt Hoffmann und macht dazu eine wichtige Geste mit seinen schlenkrigen Fingern, »das ist ja nun wohl deine eigne Sache. Warum kannst du ihm nicht in die Verlängerung springen?«

»Ich?« fragte Gertzen und wischte abermals einen klaren Tropfen von seiner Nase herunter, »wo dieser Mensch in so 'ner kolosalen Reputatschon steht bei allen Behörden?! Der Landrat, der Postmeister – alle fressen ihm ja aus der Hand, als wären da man so schiere Goldkörner zu finden. Selbst der Herr Dechant Steinberger hat einmal gesagt: Der Turmhelm muß nächstens herunter. – Warüm denn? – Weil er Holzmaden hat von oben bis unten. – Und wer soll ihn bauen? – Ich? – Im Gegenteil; der Kerl mit der großen Reputatschon soll ihn bauen. – Warüm denn? – Das frag' ich mir immer; aber wenn dieser Tort mir angetan würde, dann mache ich Revolutschon und mangiere aus purem Ärger nur noch Sägemehl und Hobelspäne herunter.«

»Abwarten,« meinte Pitt Hoffmann.

»Warüm denn?«

»Ich bin auch noch da.«

»Das seh' ich.«

»Und habe auch noch ein Wörtchen zu reden.«

»So?«

»Ja – und der Männergesangverein ›Concordia‹ ist auch noch da, desgleichen deine Schwägerin Therese Vogels, vom Herrn Vikarius mal gar nicht zu reden, und da wollen wir sehen, wer den Turmhelm baut – denn Geschäft ist Geschäft, und jeder will seine Brotschnitten haben.«

»Pitt – und da glaubst du, daß der Kerl mit der kolosalen Reputatschon ...«

»Gertzen – ich heiße Pitt Hoffmann! – und wenn das nicht mal hilft, dann lasse ich noch meinen Freund den Herrn baronischen Rentmeister Karlo Antonio Pollmann kommen, der schlägt man so mit seinem Zuavensäbel dazwischen ...«

»Donnerwetter!«

»Das hilft,« sagte Pitt Hoffmann, »und zum richtigen Beschluß trinken wir noch einen Wacholder zusammen.«

Hierauf invitierte er seinen Besuch, näher zu treten und rief dann: »Mama, zwei Wacholder!«

Inzwischen war der Triumphzug bis vor die Haustür des Rektors gekommen, hatte hier in zwei Reihen Posto gefaßt, und zwar in der Absicht, den Gefeierten zu guter Letzt noch in pompöser Weise defilieren zu lassen. Bevor sich Hartjes aber hierzu entschloß, war er willens, seinem dankerfüllten Herzen nochmals Luft zu machen und sagte: »Meine Herren! – Es war allerdings in altgriechischen Zeiten eine eingebürgerte Sitte, berühmten Rhetorikern und Künstlern, sei es auf dem Gebiete der Malerei, sei es auf dem Gebiete der Plastik, inferner den Siegern bei den olympischen Spielen brausende Ovationen zu bringen und Palmen zu streuen; daß man aber in einer modernen Ära, also in unseren Zeitläuften, einem schlichten, wenn auch königstreuen Philologen, der allerdings sein Staatsexamen magna cum laude gemacht hat, eine derartige Ehre antut, das, meine Herren ...«

Er wurde unterbrochen.

»Was gibt's hier?« fragte eine energische Stimme.

Gleichzeitig hatte sich das appetitliche Gesicht der Frau Rektor aus dem geöffneten Fenster geschoben.

»Je, Madam,« sagte Derksen und nahm selbstgefällig seinen Quäkerbart zwischen die Finger, »wir haben Ihrem Herrn Gemahl die Ehre erwiesen.«

»Warum denn?«

»Weil das mal so unser Pangschang ist, denn er hat uns bürgerlichen Leuten das Recht wiedergegeben, wie das von jeher Gebrauch war – und weil er die schmutzige Dame ... wie heißt doch die Dame, Herr Rektor?«

»Themis,« flüsterte ihm der Gefragte mit einer gewissen Beklemmung ins Ohr.

»Richtig, Herr Rektor – weil Ihr Herr Gemahl diese schmutzige Dame wieder zu Ehren gebracht hat, desgleichen dito sie hat waschen lassen von oben bis unten.«

»Was für 'ne Dame denn?« fragte Frau Hartjes.

»Na – die vor dem Rathaus.«

»Ihr seid wohl verrückt!« wetterte Frau Hartjes mit feurigen Augen und schlug dabei das Fenster zu, daß fast eine Scheibe herausgeknallt wäre.

»Herr Rektor,« kratzte sich Derksen bei dieser Wendung der Dinge etwas betreten hinter den Ohren, »nun gehn Sie man stolz und allein in die Höhle der Löwin. Ich ziehe mit die andern nach Hause, denn zwischen eheliche Dinge soll man die Finger nicht stechen. Das ist niemals meine große Nummer gewesen – und das habe ich auch immer so bei meiner selig Abgestorbenen also gehalten.«

»Das will ich,« sagte der Rektor mit aller Bestimmtheit, verabschiedete sich und trat mit dem Hut auf dem Kopf in den Hausflur.

»Die nunmehr gereinigte Dame wird Ihnen beistehn!« rief ihm Derksen noch nach, dann zog er mit der ganzen Gesellschaft wieder dem Markt zu.

Mittlerweile war es Essenszeit geworden. Während der Mahlzeit herrschte zwischen den Eheleuten ein frostiges Schweigen. Der Rektor schätzte das Gefühls- und Stimmungsthermometer seiner Gattin auf achtzehn Grad Kälte.

Frau Hartjes rührte den Löffel nicht an, ebensowenig die leckere Bratwurst mit Rotkohl.

Als sie das Zimmer verließ, streckte der Vereinsamte die Hände zur Decke.

»Themis! – Themis! – Themis ...!« meinte er seufzend, dann warf er sich verbittert aufs Sofa.

So kam er trotz seiner Triumphe nicht durch. So ging es nicht weiter, das fühlte er. Theorie und Praxis sind grundverschiedene Dinge. Sie sehen zwar sehr schön aus, stehen aber meistens wie Hund und Katze zusammen. Und daher: all seine hellenischen, römischen und karthagischen Götter und Helden hatten erfrorene Füße.

Die Frau Rektorin aber stand mit sich in schwerer Beratung, ob sie, der verärgerten Stimmung wegen, den Kaffee bei Miekske absagen solle. Sie schwankte hin und her, erwog die Gründe, die dafür und dagegen sprachen, war endlich schlüssig und meinte: »Ich gehe – denn ich darf Miekske doch die Schande nicht antun.«

Hierauf zog sie ihr ›Bestes‹ an und machte sich fertig. –

Draußen war die Kälte so bissig wie ein ekliger Dorfspitz geworden. Bei Miekske stand der mächtige Kanonenofen im herrlichsten Pottlot. Und Adele Knipp, die sich mit einer Kollegin angeboten hatte, beim Kaffee zu helfen, schob immer neue Schippen voll Kohlen in die Ofentür hinein, daß bald eine behagliche Wärme sich austat und mollig die große Nähschulstube durchkroch, die Miekske zum Empfangssalon umfrisiert hatte.

»So,« sagte Miekske, »nun kannst du die feine Porzellanschüssel mit die Paradiesäppel hereinbringen, Adele, denn sie müssen nun aufgesetzt werden. Gleich kommen die Damen.«

Das tat auch Adele.

Und Miekske setzte sich hin, legte die zappeligen Hände zusammen und wartete in getragener Stimmung auf die kommenden Dinge.

»Knitter – knatter!« machte der Ofen.


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