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Zehntes Capitel.
Rück- und Nachwirkungen.


Frau Lina hatte sich nach dem schmerzlich frohen Abschiede von ihrem Ludwig nicht entschließen können, nach Cassel auch nur zu Besuch zu kommen, viel weniger überzusiedeln. Sie zog sich für den Sommer auf ihren nachbarlichen Weiler zurück, und lud Hermann ein, ihr die Mutter, wenigstens auf einige Tage, zu ihrer wechselseitigen Beruhigung zu bringen, ihren herzlichen Dank für die Befreiung Ludwig's zu empfangen, und sein Pferd selbst abzuholen, das, von Ludwig überritten, in der Behandlung des Thierarztes sei.

Jetzt konnte Hermann seiner guten Wirthin das Geschick ihres Schwiegersohnes nicht länger verschweigen. Sie vernahm es mit jener Fassung, die ältern Leuten, bei nicht mehr allzu lebhaften Empfindungen, leichter wird. Auch zogen nur allzu bald betrübende Begebenheiten in Homberg die befreundeten Gemüther in Mittheilnahme.

Zwar über Dörnberg vernahm der Freund beruhigende Nachrichten. Der flüchtige Oberst hatte beim Oberforstmeister oder Forstinspector von Buttlar seine Uniform gegen einen Anzug vertauscht, wie solcher zum Namen »Peter Müller« paßte, unter welchem er mit einem Anlehn der Aebtissin von zwanzig Friedrichsd'or glücklich über die Grenze ins Fuldaische entkam. In derselben Richtung war ihm Ludwig gefolgt, und seine Hinterbliebenen sahen nun mit mehr Hoffnung als Beruhigung seinen Nachrichten entgegen, die freilich auf geheimen Wegen so schnell nicht zu erwarten waren.

Kaum aber hatte sich Hermann mit dieser guten Auskunft und nach heiterm Abendbesuche bei Frau von Stölting und der holdseligen Cordula, in der Frühe des Tages, zu Pferde gen Cassel auf den Weg gemacht, als sich in Homberg der Schreck verbreitete, daß in der Nacht ein Polizeicommissar angekommen sei, das Damenstift aufzulösen.

Wirklich wurden unter der Beschuldigung, daß die Stiftsfrauen die Fahne des Aufruhrs gestickt und dreitausend Thaler zum Aufstande beigetragen hätten, die sämmtlichen Papiere des Stifts in Beschlag genommen und die Frauen Aebtissin, Dechantin und von Metzsch unter starker militärischer Bedeckung nach Cassel abgeführt.

Wie der Wagen an der Wohnung der Frau von Stölting vorüberkam, eilte die erschütterte Freundin, die vorher am Stift abgewiesen worden, an den Schlag, um den Damen Lebewohl zu sagen. Marianne Stein hätte gern noch einmal ihr »Herzblättchen« Cordula umarmt; sie wurde aber nicht aus dem Wagen gelassen, auch fürchtete die Mutter einen zu lebhaften Eindruck auf die Kranke. Doch diese, von dem Heulen und Weinen der Menschen, besonders der Armen, auf der Straße beunruhigt, hatte sich vom Dienstmädchen an das Fenster führen lassen, und war im Augenblicke, wo sie, mit dem linken Arm auf die Führerin gestützt, beim Anblick der bewaffneten Bedeckung und der aus dem Wagen vorgebeugten Dechantin schreckhaft bewegt, mit einem raschen Griffe das Fenster öffnen wollte, unter schmerzlichem Aufschrei in die Arme des Mädchens zurückgesunken. Während der Bemühung desselben, die Erblaßte mit Essenz zu beleben, fand die Mutter einige Minuten später ihr Kind im Armsessel an einem Herzschlag hingeschieden. – – –

 

Das Verfahren gegen die Stiftsdamen ging kurzer Hand. Obgleich nachgewiesen wurde, daß die Fahne vom Baumbachshof herbeigebracht worden, Fräulein Karoline sich auch freimüthig als Verfertigerin bekannte, und aus den Stiftsrechnungen keine ungerechtfertigte Ausgabe nachzuweisen war, so blieb doch das sehr bedeutende Vermögen des Stiftes eine große Verlockung. Es wurde unter Aufhebung der Anstalt mittels Decrets für verfallen erklärt, obgleich es, zum größten Theil im Ausland angelegt, nicht eingezogen werden konnte. Die Aebtissin wurde durch Verwendung ihres bei Hof angesehenen Bruders mit Verhör verschont; die Dechantin aber, im Besondern noch einer Correspondenz mit ihrem Bruder Minister, dem le nommé Stein, beschuldigt, wurde unter unfreundlicher Behandlung in Begleitung von Fräulein Metzsch nach Mainz abgeführt.

Im Uebrigen wurde der Aufruhr in seinen Theilnehmern nicht ohne Rücksicht und schonenden Anstand behandelt. Der König war nicht rachsüchtig, und von den Ministern gab sich keiner zu unermüdlichen Anklagen und widerwärtigen Verfolgungen her. Nur die durch ihre Flucht anerkannten Unternehmer und Hauptanführer des Aufruhrs wurden für Verräther am Vaterland und König erklärt, und unter Beschlagnahme ihres Vermögens in Contumaz verurtheilt. Die Ortsbeamten, die zum Aufstande geläutet oder aufgefodert, wurden vor Gericht gestellt. Die Unterthanen aber, sofern sie sich binnen acht Tagen in ihrer Heimat einfanden, erhielten Amnestie und sogar die Sensen, Gabeln und sonstigen Geräthe, womit sie sich bewaffnet hatten, wieder zurück. Zum Schluß wurde den Ministern aufgegeben, alle jene Beamte, die sich durch Muth und Entschlossenheit gegen die Insurrection hervorgethan hätten, zum Behuf ihrer Belohnung auszumitteln.

 

Nun trat denn auch der neue Orden der westfälischen Krone als glänzende Auszeichnung der Getreuen hervor.

Dieser Orden trug seinen Namen von einer Krone mit dem Blumenschmucke acht goldener Fleurons auf blau emaillirtem Band mit der Devise: »Charakter und Aufrichtigkeit«. Auf und in Mitte der Krone standen Adler und Löwe mit dem Rücken zusammenstoßend unter einer Krone verbunden; rechts vom Löwen das westfälische Pferd, links vom Adler der casseler Löwe – alle überragt von dem gekrönten kaiserlichen Adler mit der Inschrift: »Il les unit«.

Mit dem goldenen Ring einer sich in den Schwanz beißenden Schlange hing die Decoration an einem dunkelblauen, gewässerten Bande. Die Großcommandeurs trugen sie über dem Kleid von der rechten Schulter zur linken Hüfte mit einem silbernen Stern auf der linken Brust, die Commandeurs um den Hals, die Ritter im Knopfloche. Das besondere Costüm der Ordensglieder war rehfarben – couleur-ventre de biche.

Jerôme selbst gefiel sich so in diesem Anzug und Schmuck, daß er zuweilen darin zur Sonntagsparade erschien: im deutschen kurzen Waffenrocke von rehfarbenem Sammet, mit enganliegenden Beinkleidern derselben Farbe, in altdeutschen Ritterstiefeln mit klirrenden Spornen, ein Ritterschwert an breitem Bandelier über die Schulter gehängt, das große blaue Ordensband daneben. Um aber etwas Apartes zu haben, oder auch um durch das vorgeschriebene Barett von schwarzem Sammet nicht zu unansehnlich zu erscheinen, liebte er es, statt dessen den gewöhnlichen dreieckigen militärischen Federhut aufzusetzen, der sich freilich zur altdeutschen Tracht, couleur-ventre de biche, seltsam genug ausnahm.

Gar bald verbreitete sich zu diesem heitern Aussehen die erste possirliche Aeußerung des Kaisers Napoleon, die er bei der Vorlage der Zeichnung zur Genehmigung des Ordens gethan haben sollte. Nach ruhiger Betrachtung hatte er mit leisem Kopfschütteln gesagt: »Il y a bien des bêtes dans cet ordre là!«

Ein scharfsinniger Zuhörer dieser bei einer Parade erzählten Anekdote bemerkte, der Kaiser habe ganz übersehen, daß sein Adler mit dabei sei – »Il les unit« heißt es ja doch!

Der Kaiser Franz würde 'was Anderes gesagt haben, flüsterte ein Schalk. »Es sind halter lauter Viecher ohne Hörner auf dem Orden«, würde er gesagt haben. Und ich hätte ihm geantwortet: »Majestät, lassen wir unsern guten König Jerôme dafür sorgen, daß die richtigen Leute unter den Orden kommen!«

 

Solche Aeußerungen geschahen jetzt wieder mit größter Vorsicht; denn die Polizei war nach dem Aufstande verschärft und unter besonderer Generaldirection hergestellt worden. Jerôme, auf seinen frühern Gedanken zurückgekommen, hatte dieselbe dem alten Bongars zu seinem Commando der Gendarmerie übertragen, und dieser sich zum Generalsecretär einen Polizeimann von Ruf angenommen, einen Herrn von Schalch – er selbst ein Schweizer, sein von aber von unbekannter Herkunft –, ein schöner Mann bis auf seine tellerförmige Glatze. Wie methodisch er zu Werk ging, zeigte sich dadurch, daß er gleich als Basis polizeilichen Verfahrens ganz Hessen in drei Classen von Einwohnern theilte: in französische, altdeutsche und zweideutige Patrioten.

Bei alledem, daß Jerôme sich bald wieder zu zerstreuen anfing und »wieder lustig« zu sein nicht vergessen hatte, es daher auch gern sah, daß sein Jugendgenosse, Graf Fürstenstein, seine Vermählung mit der Comtesse Adelheid von Hardenberg mit glänzendem Aufwande beging, hinterließ doch das hessische Ereigniß, wenngleich verunglückt, doch einen nachhaltigen Eindruck auf sein Gemüth. Er benahm sich, wenigstens anfangs, mit mehr Ernst und würdiger Haltung. Die deutsche Sprache und Partei war allerdings seiner Gunst nicht näher gerückt; daß er aber die Bewegungen in Deutschland fortan mehr beachtete und richtiger erkannte, bewies ein Brief, den er allerdings erst später an den Kaiser schrieb, den wir aber hier einschalten, weil er uns aus der Betrübniß über die unglückliche Wendung der Dinge in Hessen und in Oestreich prophetisch auf die große, siegreiche Erhebung des ganzen Vaterlandes hinweist.

Jerôme schrieb:

»Ich weiß nicht, was Ew. Majestät über den Geist in Deutschland berichtet wird; aber wenn man Ihnen von Unterwerfung, Ruhe, Schwäche schreibt, so ist das Lüge und Täuschung. Die Gährung ist auf dem höchsten Gipfel, die thörichtsten Erwartungen sind wach; man nimmt sich Spanien zum Beispiel. Wenn es zum Krieg kommt, wird alles Land von der Oder bis zum Rhein in hellen Aufruhr losbrechen. – – – Die Verzweiflung der Völker, die nichts mehr zu verlieren haben, weil man ihnen Alles genommen hat, darf Besorgniß erregen. Nicht blos in Westfalen und den Frankreich unterworfenen Ländern ist das Losbrechen zu fürchten, sondern in den Gebieten aller Rheinbundsfürsten; diese selbst werden das erste Opfer sein.«

Doch die bessern Einsichten Jerôme's verbesserten auf die Dauer nichts an dem Carneval seiner Regierung, und gerade gegen die Zeit hin, die er voraussagte, schilderte ein Augenzeuge in seinem schlagenden Französisch die westfälische Wirthschaft mit den Worten:

»Les contribuables ne payent pas, les fonctionnaires se relâchent, les militaires se rebutent, les ministres s'endorment, le Roi s'amuse, – la boutique va à tous les diables.«

(»Die Steuerbaren zahlen nicht, die Beamten erschlaffen, das Militär verliert den Muth, die Minister schlummern ein, der König vergnügt sich, – die ganze Wirthschaft geht zum Teufel!«)


Inzwischen war endlich auch ein lange erwartetes Schreiben von Ludwig eingelaufen oder vielmehr eingeschlichen. Die Kürze desselben und die auffallend unsichere Handschrift erschreckten Lina, noch ehe sie nur den Inhalt kannte.

Ludwig schrieb:

»Ich bin hier in Prag nach mancher Gefahr, Mühseligkeit und Angst leidlich wohl angekommen. In Fulda traf ich Herrn von Dörnberg; wir reisten nach den Umständen bald zusammen, bald getrennt, und sind hier im Rothen Hause eingekehrt. Der Erste, der mir auf der Treppe begegnete, war unser Kapellmeister Reichardt, im Begriff, zu seiner Rückkehr nach Halle einen Platz auf der Post zu bestellen. Er will nun meinethalben noch ein paar Tage bleiben. Ach, wie zuckt unser Herz von Freude und Wehmuth beim Anblick eines Bekannten in der Verbannung! Wir ließen uns, Dörnberg und ich, sogleich beim Kurfürsten melden, und wurden sehr gnädig empfangen. Der Herr war bereits von Allem genau unterrichtet, und als Dörnberg sich darüber verwunderte, weil der vertraute Anhang des Fürsten auf der Flucht sei, lächelte er und fragte nach einer Weile, wie zufällig, ob wir einen gewissen Herrn Wilke kennten? – Ich versetzte: Ja, königliche Hoheit, wie man ein unaufgelöstes Räthsel kennt. Er ist Gendarmeriescribent bei Bongars. – Der Herr sah mich scharf an, schwieg aber mit einer Miene, die mir auf einmal Licht über den jungen Mann gab, der unserm lieben Hermann bisher eben ein so unheimliches Räthsel war. Am Ende ist er westfälischer Scribent und kurfürstlicher Agent zugleich. Ein guter Platz für Letzteres gerade bei der Polizei, und eine gute Schule zu einem künftigen Diplomaten! – – Bei unserm Weggehen erlaubte ich mir, eine warme Fürsprache für die armen Familien einiger unglücklichen Flüchtlinge und Gefangenen, die inzwischen vielleicht erschossen worden, allerunterthänigst vorzubringen. Der Herr schwieg einen Augenblick, dann sagte er mit geheimnißvoller Miene: Das verstehen Sie nicht, lieber Heister, – die Staatsklugheit erfodert hier, daß ich allen Schein von Theilnahme an dem westfälischen Aufruhr vermeide.

»Liebe Lina, was ich in diesem Augenblick empfand, kann ich dir nicht beschreiben. Ach, den ganzen weiten Weg meiner angstvollen Flucht hatte mich doch der Kummer um die Unglücklichen nicht verlassen, deren Elend ich vielleicht mitverschuldet. O Gott, o Gott! Wie ich nach Hause kam, weiß ich nicht. Aber – es fröstelt mich jetzt, und ich habe so arges Kopfweh, daß ich mich zu Bett legen will, um mich erst recht auszuruhen. Da ich aber dem kurfürstlichen Cabinetsrath einen Brief an dich versprochen habe, den er mit eigenem Schreiben besorgen will, so sende ich bis auf Weiteres diese Zeilen ab, die dich wenigstens wegen meiner beruhigen können. Ach, was ist Verbannung und Fremde für eine schwere Kost! Aber Reichardt wird herüberkommen und mich schon erheitern.

»Nächstens mehr, unvergeßliches Herz!

Dein Ludwig.«

 

Nur einige Augenblicke stand Lina, den Brief in den herabhangenden Händen, niedergebeugt, dann richtete sie sich langsam auf, mit dem Blick nach oben, als ob sie sich der Angst und Ahnung gewachsen fühlen wollte, die aus dem Brief so schwer über sie kamen. Sie eilte zu Frau von Stölting nach Homberg hinüber, sich mit der mütterlichen Freundin zu berathen, – nicht außer sich, wie man zu sagen pflegt, sondern ganz gesammelt, wie eine edle Frau, wenn ihr nicht zu leiden, sondern zu leisten auferlegt wird.

Der Arzt saß eben bei der trauernden Mutter, und Lina rief:

Ha, welch' eine Mahnung des Himmels erscheinen Sie mir! Lesen Sie den Brief, Doctor!

Er las; sie sah ihm gespannt ins Gesicht, bis er vom Papier betrübt zu ihr aufblickte. Da rief sie mehr bejahend als fragend:

Nicht wahr, ich muß nach Prag?

Leise nickend, antwortete er:

Es wird gut sein, werthe Nachbarin! Unserm edeln Freunde wird eine liebreiche Hand gar wohl thun, die ihn pflegt; Herz und Auge der Gattin wird die schlaflosen Nächte hüten und die kritischen Momente nicht übersehen, die ihm bevorstehen. Aber der Weg ist weit, liebe Frau, – Sie müssen eilen!

Gewiß muß ich eilen! Gehen Sie, bestellen Sie mir einen Wagen hinüber! Ich fahre noch in dieser Stunde. Sie, Mutter, geben unserm Hermann Nachricht, und er wird alles Andere besorgen; denn ich lasse Alles liegen und stehen, wie es ist.

Sie umarmte Frau von Stölting und eilte fort.

Ehe der Freund jedoch die betrübenden Zeilen der Frau von Stölting erhielt, lief unmittelbar an ihn ein Brief Reichardt's ein, der ihn von dem gastrisch-nervösen Fieber, das Ludwigen mit aller Heftigkeit befallen habe, eiligst in Kenntniß setzte, um Lina davon auf die geeignetste Weise zu benachrichtigen.

Bis aber Hermann mit der guten Mutter Lina's nach dem Weiler kamen, war Lina selbst schon weit fort unterwegs nach Prag. Die Mutter nahm Besitz vom kleinen Gut, und es blieb nun für Alle nichts übrig, als mit Ergebung das Weitere zu erwarten und sich eines guten Ausgangs zu getrösten.

 

Welche angstvollen vierzehn Tage mußten aber überstanden werden, ehe ein nächster Brief ankam, – schwarz gesiegelt! Er war von Luise Reichardt, die auf Lina's Durchreise, von Halle aus, die Freundin nach Prag begleitet hatte. Ludwig war am einundzwanzigsten Tage seiner Krankheit unterlegen. Luise meldete zugleich, daß sie und der Vater die erschütterte Lina, sobald es ihr Zustand erlaube, mit sich nach Giebichenstein nehmen würden, das inzwischen in bewohnbaren Zustand gesetzt, der trauernden Freundin den wohlthuendsten Aufenthalt, wenigstens auf die Dauer der guten Jahreszeit, verspreche. Lina fühle sich von Hermann's Aeltern und Schwester, bei denen sie auf der Durchreise sich eine Nacht ausgeruht habe, aufs innigste angezogen, und sehne sich nach dem Umgang mit ihnen.

Dieser letzte Umstand versöhnte den Freund einigermaßen mit dem betrübenden Gedanken, die geliebte Freundin auf so lange und so weit entfernt zu wissen. Und allerdings – Frühling und Sommer auf dem herrlichen Landsitze, edle Musik, die da zu Hause war; liebevolle Menschen, denen sich Lina seelenverwandt fühlte; ein Kreis ausgezeichneter Männer, die von Halle herüber ab- und zugingen: gab es einen angemeßnern Aufenthalt, eine traulichere Zuflucht für eine junge Witwe, wie Lina, um sich von bittern Erlebnissen zu erholen, und das Herz für die Welt zu erheitern? – –

Gewiß, gewiß! gestand sich Hermann ein, und setzte in Gedanken hinzu:

Und keine geeignetere Zurückgezogenheit, um auch zwischen Erinnerung und Hoffnung die Gesellschaft mit einem Trauerjahr abzufinden, und dann –

Doch sein Herz klopfte heftiger bei dem, was er weiter dachte, und ein beschämender Vorwurf stieg in seiner Brust auf, als er bei solchen Wünschen den Flor auf dem Tische liegen sah, den er um Ludwig am Hute tragen wollte.


Unsere Erzählung schwebt auf beruhigten Wellen wie ein Schiff, das nach langer, zuletzt etwas stürmischer Fahrt im Ausblick auf den Hafen kreuzt, und der Flut zum Einlaufen harrend die Segel einzieht. Das umliegende Gestade zeigt noch großartig formirte Felsen, anmuthig bewachsene Buchten; aber die Passagiere haben die Ruhe nicht mehr, sie ins Einzelne zu betrachten. Auf andere Erwartnisse gerichtet, werfen sie nur den flüchtigsten Blick auf die nächsten hohen Ufergestaltungen, an denen sie auslaufend vorüberkamen, und die sie nun rückblickend zu vergessen denken.

Der Kreis von hervorragenden Menschen, mit denen Hermann seit seiner vorjährigen Frühlingsankunft in Verbindung kam, hat sich, von der Abreise des Kapellmeisters Reichardt an, nach und nach zu lösen angefangen. Der Nächste, der ihn nun noch verließ, war der Staatsrath Johannes von Müller. Er hatte sich, wie es schien, von der lebensgefährlichen Krankheit, die ihn nöthigte, das Staatssecretariat des Ministeriums aufzugeben, nie gänzlich erholt. Aber neben den fortdauernden körperlichen Leiden und nagenden Geldverlegenheiten begleitete ihn auch noch unaufhörlich der Kummer seines verzagten Herzens um die Täuschung aller Hoffnungen, mit welchen Napoleon's dämonisches Uebergewicht ihn, sogar persönlich, eine Zeitlang geblendet hatte. So war er ein hinfälliges Gefäß geworden, dem der nächste Stoß mit Zerbrechen drohte. Dieser Stoß traf ihn nun auf der edelsten Seite seiner jetzigen Existenz, als vereinzelte Unruhen da und dort im Lande – in Marburg und in Halle – sich regten, an denen sich auch die Studenten einigermaßen betheiligten. Der König ließ den Generaldirector des öffentlichen Unterrichts rufen, und überhäufte den armen Müller unter den heftigsten Vorwürfen mit Drohungen gegen die Universitäten. Toutes vos universités ne valent rien – rief er –, je les brûlerai toutes.

Müller wankte nach Hause. Eine gallichtnervöse Krankheit ergriff und warf ihn rasch in Todesgefahr. Was half es, daß Baron Reinhard als französischer Gesandter und Müller's Freund ins Schloß eilte, und den König unter den lebhaftesten Vorwürfen mit Napoleon's Ungnade bedrohte. Der Leibarzt Zadig, den Jerôme zur Behandlung des Erkrankten schickte, ward dort zurückgewiesen. Doch ein Strahl der Zukunft Deutschlands fiel noch in die letzte Stunde des großen Historikers: der Arzt Harnisch theilte ihm die erste Nachricht vom Siege des Erzherzogs Karl über Napoleon bei Aspern mit. Müller starb, und ward am letzten Maitage mit militärischen Ehren begraben.

Ein Bataillon des dritten Linienregiments gab eine Salve an der Wohnung, und begleitete den vierspännigen Leichenwagen mit gedämpften Trommeln. Diesem folgten in dem von drei Marschällen und dem Superintendenten geführten Zuge die Minister, der Gouverneur, die Staatsräthe, das Präfecturpersonal und über dreißig Equipagen. Minister Simeon sprach seinem lieben Papa Müller die Leichenrede, indem er eine beredte Schilderung der einfachen Persönlichkeit und der vielfachen Verdienste desselben mit den Worten schloß:

»Die Gelehrsamkeit verliert in ihm einen ihrer treuesten Günstlinge, die schönen Wissenschaften einen Mann, der ihnen neuen Glanz mittheilte, der König einen eifrigen Diener, wir, meine Herren, einen Freund, einen Collegen; aber sein Andenken und seine Werke werden ihn uns wiedergeben. Der Mensch, der, aus dem Leben scheidend, einen Theil seines Geistes unter den Mitmenschen zurückläßt, und durch nützliche und bleibende Werke die Thränen lohnt, die wir um ihn vergießen, – er stirbt nicht ganz.« – –

Dem verzagtesten Manne folgte sehr bald der tollkühnste von Hermann's Bekannten. Der Oberstlieutenant Emmerich, in die Verschwörung verwickelt, die einen Monat nach Müller's Tode in Marburg ausbrach, wurde standrechtlich verurtheilt, und ward unter starker Bedeckung an dem frühesten Sommermorgen hinaus auf den Forst geführt. Die Sonne ging über dem Zug des Söhrewaldes aus, als der zweiundsiebzigjährige Greis, sein thönernes Pfeifchen rauchend, noch einmal ruhig umherblickte. In dem wallenden Nebel des Gebirgsabhanges zog noch einmal flüchtig die Erinnerung an die lustigen Abenteuer seines langen Lebens vorüber. Und wie sein Pfeifchen ausgeraucht war, sagte er gegen die Soldaten gerichtet, die mit dem Pulver und Blei des Kriegsurtheils ihm gegenüber standen:

Ein schöner frischer Morgen, Kameraden! Eine charmante Dame hat mich einmal den Frühstücksmann genannt: nun, so früh wie heut hab' ich sonst nur im Feldlager und in Capagnen gefrühstückt. Ihr habt angerichtet, Bursche? Damn! Ich wollt', ihr hättet einen richtigern Mann zu bedienen, als den alten Parteigänger Emmerich. – Aber, es macht doch heut schaurig kalt. Wohlan! Capitän, geben Sie Feuer! – –

 

Eines gewaltsamen Todes starb denn einige Jahre später auch der frühere Kriegsminister Morio als Großstallmeister des Königs. Er war, ohnehin etwas barsch – wir lassen es hingestellt sein, ob etwa durch frühere, ihm noch zugetragene Geschichten eifersüchtig –, noch brutaler geworden, und behandelte seine Untergebenen sehr hart. Die Polizei in den hintern Höfen führte er mit der Peitsche, berichtet ein Zeitgenosse, und theilte rechts und links Hiebe mit einem so würdevollen Phlegma aus, daß es zum Lachen war. Ein Hufschmied, Namens Lesage, fand aber diese Behandlung und eine ihn mittreffende Gehaltsbeminderung so wenig spaßhaft, daß er eines Morgens dem Großstallmeister, wie er eben die königlichen Wagen untersuchte, eine Kugel durch den Rückgrat schoß, und die zweite gegen sich selbst verfehlte. Der König war tief betrübt, und ehrte seinen alten Liebling mit einem pomphaften Begräbniß, zu welchem Blangini einen Trauermarsch componirte, auswärtige Garnisonen herbeigezogen und Kanonenschüsse gelöst wurden. Der Bischof hielt unter Mozart's Requiem das Seelenamt, Simeon die Leichenrede.

 

Noch bei einem Dritten seiner Freunde erschien am Ende dessen westfälischer Laufbahn der ehrliche alte Simeon, diesmal aber nicht mit edeln Worten, sondern mit freimüthigem Handeln.

Den Gegnern des Grafen Bülow war es endlich, während einer abermaligen Abwesenheit des Ministers in Paris, doch gelungen, diese Säule des Deutschthums im Königreiche zu stürzen. Man brachte einen aufgefangenen Brief des Generalsecretärs Provençal an Bülow mit Nachrichten aus Cassel unter Jerôme's Augen. Daß Provençal darin seinen Chef den »Ersehnten« – le desiré de la nation – nannte, verletzte Jerôme an seiner eifersüchtigen Seite.

Was? Ich allein bin das Verlangen des Volks! herrschte er Provençal an.

Bülow selbst wird bei seiner Rückkehr huldvoll empfangen, erhält aber zu Hause durch Bongars den Befehl, Cassel zu verlassen und sich auf seine Besitzung Essenrode bei Braunschweig zurückzuziehen. Er reist unter Gendarmeriebedeckung ab. Die Polizeispione, von allen Seiten an ihn gehegt, dringen noch vor dem Hause auf seinen Wagen an, um diesen und die Koffer nach Correspondenzen zu durchspähen, mittels deren man ihm vielleicht den Proceß machen könnte. Da erscheint Simeon, schilt die Spürhunde hinweg, und begleitet seinen Collegen im Wagen aus der Stadt. Die Bureauchefs werden in Untersuchung gezogen und, da sie gegen den ehrenwerthen Minister nichts aussagen können, entlassen.

Hermann gehörte nicht mehr zu den Employés im Ministerium; er besann sich aber keinen Augenblick, seine Stelle bei der Direktion des Economats niederzulegen, und folgte seinem Gönner nach Essenrode.

Hier lebte er einen heitern Sommer im trauten Umgang mit der liebenswürdigen Familie seinen alten Studien, bis er mit Empfehlungen des Grafen nach Berlin ging und sich an der neugegründeten Universität habilitirte.

Und später, als nach der großen, glücklichen Erhebung des Vaterlandes Graf von Bülow nach Preußen zurückberufen wurde, war einer seiner ersten Besuche bei Freund Hermann. Als er mit seiner Gemahlin dort eintrat, saß der Herr Professor mit – Lina am Flügel. Sie sangen, jetzt mit vollen Stimmen:

Mit dir, mit dir ist Seligkeit das Leben,

und ein kleiner Ludwig Teutleben zappelte dazu am Arme der Großmutter Wittich – wenn auch nicht gerade im Takt.

Und als das »selige« Paar jubelnd aufsprang, den überraschenden Besuch zu begrüßen, sagte Frau von Bülow mit ihrer alten liebenswürdigen Schalkheit:

Also, lieber Freund, haben Sie doch endlich die rechte Lina gefunden, die Ihnen – »jut« ist?

Ja, Gräfin, ja! rief er. Und – sehen Sie, da ist auch schon wieder Einer – »im Flügelkleide«.

Er hob ihr seinen Knaben entgegen.

Nun, nun, lachte sie, wie lange wird's dauern, daß er »in die Mädchenschule jeht«.

Und sodann, gnädige Gräfin, die hohe Schule der Frauen bezieht. Möge er darin bestehen, wie sein Vater!

Der eitle Mann meint, weil er da die erste Prämie erhalten hat, lächelte Lina, und nahm ihm, mädchenhaft erröthend, den Knaben ab.

Schöne Frau Professorin, fiel Herr von Bülow ein, ein Kind ist keine Prämie, sondern eine Dividende!

Ja, Excellenz, erwiderte sie etwas feierlich, – eine Dividende der Familie; aber auch eine Nummer auf die große Dividende der deutschen Zukunft, auf die Dividende der Verheißungen unsers Königs – » an sein Volk«. Sehen Sie, Graf, diese unruhige Nummer wird das große Loos des freien und einigen Deutschlands mitgewinnen helfen!

Sie hob den Knaben feierlich empor. Graf Bülow faßte eines seiner Händchen, und sagte mit seiner schalkhaften Feinheit:

Ja, liebe Freundin, der Bursche sieht recht wacker aus: er kann sehr alt werden!



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