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Neunzehntes Kapitel.

Das Dachstübchen und die Violine.

Die Wohnung, welche Karl und seine Familie einnimmt, ist in einem ziemlich hübschen, neugebauten Hause, an den Ufern des Kanals, allein die beiden kleinen Gemächer, aus denen das Ganze besteht, sind im obersten Stockwerk des Hauses gelegen und dergestalt unter dem Dach, daß man nur im ersten Zimmer aufrecht gehen kann; das seiner Zeit an die Mauern geklebte Papier ist größtenteils lose und abgerissen; Alles an diesem Aufenthalt athmet Elend, und obgleich Béranger sagte: » Dans un grenier qu'on est bien à vingt ans« (Mit zwanzig Jahren ist's uns auch unter dem Dache wohl), so hat doch ein Dachboden nichts Anziehendes, und selbst mit zwanzig Jahren, wenn man hier bleibt, geschieht es nur, weil man's nicht anders machen kann.

Leonie fühlt einige Thränen in ihren Augen, als sie in ihre neue Wohnung tritt, doch schnell trocknet sie dieselben wieder und beschäftigt sich mit der Einrichtung; die kleine Laura seufzt und sagt ganz leise zu ihrer Mutter: »Die andere Wohnung war mir viel lieber!« Karl setzt sich in eine Ecke und bemüht sich, seinen Sohn zu lehren: » En avant, Fanfan la Tulipe

Leonie setzt sich wieder ans Sticken und Festoniren; mit dem frühen Morgen nimmt sie ihre Arbeit zur Hand; sie wünschte mit ihrer Nadel ihr Hauswesen unterhalten zu können; allein sie sitzt sich beinahe zusammen und sieht mit Schrecken, daß sie mit ihrer Arbeit nie den Bedürfnissen ihrer Familie genügen könne. Karl geht etwas weniger aus, weil er ohne Geld zum Verschleudern sich auswärts nicht mehr so sehr belustigt. Zu Hause spielt er die Violine, das ist seine Lieblingsbeschäftigung; obgleich er nicht sehr geschickt ist und häufig falsch spielt, ruft er doch aus: »Ich hätte Musiker werden sollen ... das war mein Beruf ... allein man wollte mich in die Handlung stecken ... man hatte Unrecht ... ich werde nie meinen Sohn zu einem Beruf zwingen! ... er mag Advokat oder Arzt, Künstler oder Soldat werden, ich lasse ihn Alles lernen und gebe ihm freie Wahl.«

Leonie antwortet nichts, traurig blickt sie jedoch auf ihren Sohn, dessen Kleider sehr abgetragen sind, und erhebt die Augen zum Himmel.

Wenn Karl ausgeht verfehlt er nicht beim Nachhausekommen sich zu erkundigen, ob sich Mongerand gezeigt habe: »Nein, dem Himmel sei Dank!« erwidert dann Leonie.

»Dem Himmel sei Dank! das ist bald gesagt ... allein er ist mir Geld schuldig ... und ... – Mein Freund, das wird er Dir nie wieder geben ... betrachte es als verloren! – Verloren! ... wir wollen sehen ... Ich muß mich mit ihm verständigen ... ich weiß nicht, wo er sich versteckt, daß ich ihn nicht mehr finden kann ... O! sei ruhig, Leonie, ich habe keine Lust mehr, mit Mongérand zu gehen, ich bin zu aufgebracht auf ihn; und wenn ich ihn zu treffen wünsche, so ist es, um ihm den Kopf zu waschen. – Das sagst Du, Karl, allein ich kenne Dich! ... Du bist ein zu guter Kerl, wie Deine Freunde sagen, um irgend einem lange böse zu sein; wenn Du Mongérand wieder siehst, wirst Du ihm schnell verzeihen; besser ist's. Du sprichst gar nicht mehr mit ihm.«

Kaum sind vierzehn Tage verflossen, seit man die Mansarde bewohnt, als Karls Mutter zu leben aufhört. Leonie, welche bis zu ihren letzten Augenblicken bei ihr geblieben war, trug immer Sorge, ihr die traurige Lage, in welche ihr Gatte sie gebracht, zu verbergen, und so stirbt Madame Darville, wenigstens ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Um ihrem Sohne nützlich zu sein, hatte sie Schulden gemacht. Das Mobiliar, welches sie hinterläßt, ist kaum hinreichend, diese zu decken. Karls Lage wird also durch diese Begebenheit um nichts geändert.

Seit Leonie, zu ihrem Entsetzen, ihre Kinder vom Elend bedroht sieht, dachte sie schon mehr als einmal au ihren Bruder, an jenen Adrian, der schon sehr jung in fremde Länder reiste. Adrian hatte seiner Schwester stets eine zärtliche Anhänglichkeit bewiesen, und Leonie sprach bei sich selbst: »Hätte mein Bruder Glück gemacht, käme er reich zurück! o meine Kinder, da würde es euch, deß bin ich ganz sicher, an nichts mehr fehlen.«

Doch auch diese Hoffnung wird ihr geraubt; Adrian hatte durch einen Schiffbruch sämmtliche Früchte seiner Spekulationen verloren; er war ohne einen Heller in Havre eingetroffen und hatte sich schnell den Antheil, der ihm von seines Oheims Formerey Nachlaß zukam, überschicken lassen. Mit dieser Summe hatte er sich augenblicklich wieder eingeschifft, sogar ohne nach Paris zu kommen und seine Schwester zu besuchen. Der Ehrgeiz des jungen Seefahrers war durch den geringen Erfolg seiner Unternehmungen gekränkt, und er hatte sich das Versprechen gegeben, seine Verwandten nicht wieder zu sehen, oder aber sich nur als Besitzer eines unabhängigen Vermögens vor ihnen zu zeigen.

Zwei Monate verstrichen, und Karl hörte nichts von Mongérand; Vanstouck, sowie alle Freunde vom Café entfernen sich bei seiner Annäherung, weil man an der Miene eines Mannes beinahe immer erkennt, wenn er die Andern nicht mehr freihalten kann. Nachdem er eines Morgens lange Zeit auf seiner Violine herumgekratzt, geht er aus, um seiner Gewohnheit gemäß auf den Boulevards umherzuschlendern. Die kleine Laura, welche hinabgegangen war, etwas zu holen, kam mit ganz vergnügter Miene heim, indem sie sagte: »Ach! ich bin recht vergnügt ... jetzt werden wir uns hier nicht mehr so sehr langweilen ... unser guter Freund ... unser Nachbar von dort unten ... Du weißt wohl, Mama, der junge Mann, welcher uns Kuchen gab ... – Herr Justin? – Ja, Herr Justin, nun gut, der wohnt auch in diesem Hause. – Wer hat Dir's gesagt mein Töchterchen? – Ich habe ihn so eben gesehen ... er ist da eingetreten! unserer Thüre gegenüber auf dem Boden. – Wahrscheinlich besuchte er einen Bekannten. – Aber so höre doch, er sagte mir, indem er mich küßte: wenn ihr mich braucht, ich bin wieder euer Nachbar. – Das hat er Dir gesagt ... sonderbar! – Soll ich ihm sagen, daß er zu uns komme?«

Leonie antwortet nichts, sie besinnt sich, allein Laura ist bereits auf der Hausflur, wo sie ruft: »Herr Justin, kommen Sie zu uns, Mama ist es recht.« Eine Minute darauf erscheint der junge Arbeiter auf der Thürschwelle, wo er schüchtern stehen bleibt.

»Nun denn! Herr Justin, warum treten Sie denn nicht ein?« sagte Leonie mit einer Verbeugung. »Fürchten Sie sich vor unserer neuen Wohnung! ... ach! Sie sehen wohl, daß wir bei dem Tausche nicht gewonnen haben!«

Justin macht einige Schritte, indem er seinen Hut zwischen seinen Händen hin- und herdreht. Er bleibt vor Leonie stehen und murmelt: »Wahr, Madame, diese Wohnung ist recht abscheulich für Sie!«

»Für mich nicht mehr, als für meinen Mann; was wollen Sie? man muß das Mißgeschick ertragen! Hätte ich keine Kinder, würde ich dem Elend trotzen! für sie möchte ich jedoch ...«

Leonie hält inne, wendet die Augen ab und zerdrückt einige Thränen, hierauf fährt sie mit sicherer Stimme fort: »Ist es wahr, daß Sie auch in diesem Hause unser Nachbar sind?«

»Ja, Madame, seit gestern; ich bewohne das Zimmer Ihrer Thüre gegenüber. Es gefiel mir nicht mehr in dem Hause, das Sie nicht mehr bewohnten ... die Gewohnheit, Sie arbeiten zu sehen ... ich suchte Sie immer an Ihrem Fenster ... kurz, als das Zimmer hier neben frei wurde, habe ich es schnell gemiethet ... Und ... Sie sind nicht böse, Madame, daß ich meine Wohnung neben Ihnen aufgeschlagen habe.«

»Warum sollte ich böse darüber sein; ich habe die Theilnahme, die Sie uns während der Krankheit meines Mannes bezeugten, und Alles, was Sie damals für uns thaten, nicht vergessen.«

»Ach! Madame, wenn ich Ihnen wieder zu Etwas nützlich sein könnte, wäre ich so glücklich, so vergnügt ... Für Sie wünschte ich so sehnlich ...«

Justin gerieth ins Feuer; Leonie hebt die Augen zu ihm auf; er erröthet und kann nicht mehr weiter reden; Leoniens Blicke hatten etwas Ehrfurchtgebietendes, Strenges, das dem Arbeiter die Rede abgeschnitten hatte; in der jungen Frau stieg eine Ahnung des geheimen Beweggrundes von Justins Ergebenheit auf.

Ein augenblickliches Schweigen tritt ein. Justin ist verlegen, Leonie ernsthafter, doch gibt sie Justin ein Zeichen, Platz zu nehmen, dieser bleibt aber fortwährend stehen.

»Warum fetzen Sie sich nicht, Herr Justin?« fragt Leonie nach einer Weile, ihre Arbeit wieder ergreifend.

»Madame, ich würde fürchten, Sie zu belästigen, und dann muß ich an die Arbeit gehen. – Sie sind Kunstschreiner, glaube ich? – Ja, Madame. – Lebt Ihre Mutter noch? –Ja, Gott sei Dank, ich habe noch eine Mutter und zwei Schwestern, welche mich zärtlich lieben! – Das gereicht Ihnen zum Lob ... Sie sind arbeitsam, geordnet, Sie werden es zu Etwas bringen! ... Doch Sie müssen uns besuchen, wenn mein Gatte hier ist; es wird ihn freuen, mit einem so gefälligen Manne, wie Sie sind, Bekanntschaft zu machen.«

Justin zieht das Gesicht in leichte Falten, endlich entgegnet er: »Ich überschätze mich nicht, Madame, ich bin nur ein Arbeiter ... und ich weiß, Sie haben nicht immer unter dem Dache gewohnt; meine Gesellschaft würde ohne Zweifel Ihrem Herrn Gemahl nicht anständig sein.«

»Sie irren sich! ... Ach! ich wollte dem Himmel danken, wenn er nie andere gehabt hätte! ... ein Arbeiter, wie Sie, ist mehr werth, als alle die Freunde, die er besaß!«

Leonie seufzt bei diesen Worten, und ein neues Schweigen tritt ein. Justin, immer stehend, mit gesenkten Augen, möchte sich verabschieden und doch nicht fortgehen; endlich nähert sich ihm der kleine Felix und sagt, sich an ihn anklammernd: »Haben Sie heute Kuchen?«

»Nein, heute habe ich keinen,« versetzte Justin »morgen aber ...«

»Mein Sohn,« sagt Leonie mit strenger Miene, »es ist sehr unartig, von den Personen, welche hieher kommen, Kuchen zu fordern; Du scheinst ein Leckermaul. Herr Justin, es würde mir unangenehm sein, wenn Sie ihnen immer etwas mitbrächten ... und Sie werden mich nicht erzürnen wollen?«

»Nein, gewiß nicht, Madame; allein ich hoffte, Sie würden wohl so gütig sein, es mir zu erlauben ... Ihre Kinder sind so hübsch ... ich liebe sie so sehr ...«

»Nun gut! Sie müssen heirathen, Herr Justin, Sie werden als Familienvater bei Frau und Kindern gewiß recht glücklich sein.«

Justin erwidert nichts, allein er erblaßt; hierauf geht er plötzlich, ohne die Augen zu Leonien aufzuschlagen, fort, stotternd: »Ich grüße Sie, Madame.«

Nach Justins Abgehen nimmt Leonie, der es leid ist, daß sie mit ihrem Sohne strenge sprechen mußte, denselben auf ihren Schooß, liebkost ihn, bedeckt ihn mit Küssen und sagt: »Armer Kleiner, sei nicht betrübt! Dein Papa wird Dir Kuchen geben. – Papa gibt mir nie welche ...«

»Ich, ich habe nichts gefordert!« fällt Laura ein, sich an den Arm ihrer Mutter hängend. – »O! Du bist auch schon sechsthalb Jahre alt ... bist schon gescheit! – Ach! das ist einerlei, ich habe doch auch gerne Kuchen! – Arme Kinder! die ich so glücklich hätte sehen mögen! deren kleinsten Wünschen zuvorzukommen, mir ein Vergnügen gemacht hätte! so muß ich Euch denn Alles entbehren lassen, was das Glück eures Alters ausmacht! darf mich nicht weiden an eurer kindischen Freude beim Anblick von Spielerei und Naschwerk! ... schon Entbehrungen! schon die Armuth kennen ... o mein Gott, mein Gott!«

Leonie brach in heftiges Weinen aus, indem sie ihre Kinder küßte. Laura sieht die Zähren der Mutter und ruft: »Du hast Kummer, Mama ... vielleicht weil wir Kuchen verlangten! ... o! weine nicht mehr! wir werden nie mehr verlangen ... ich verspreche Dir's!«

Leonie antwortet nur durch Küsse. In diesem Augenblicke kommt Karl nach Hause; er scheint übler Laune.

»Was hast Du denn, mein Freund?« fragt ihn seine Frau.

»Der Dummkopf von Pförtner sagt mir so eben, daß die Hausbewohner sich über mein Violinspielen beklagen ... Ist man jetzt nicht mehr frei? ... Es belustigt mich, Musik zu machen! Die Dame unter uns behauptet, ich wecke sie mit meinem Instrument zu früh auf ... Ohne Zweifel ein Zieraffe. Ich sagte zum Pförtner: Wenn die Dame da unten nicht zufrieden ist, braucht sie nur zu kommen und es mir selbst zu sagen. – Ach! Karl, machen wir uns die Nachbarn nicht zu Feinden! Du kannst ja Deine Violine später vornehmen. – Ich nehme sie im Gegentheile bälder. – Diese Dame ist vielleicht bejahrt, krank? – Nein, ich habe darnach gefragt. Es ist eine noch junge Frau, welche allein wohnt, irgend eine galante Dame! ihretwegen mag ich mir keinen Zwang anthun! Ueberdies will ich meine Kinder in der Musik unterrichten, das steht mir, glaube ich, wohl frei!«

Damit langt Karl seine Violine vom Nagel und fängt an, einen Contretanz zu spielen, wobei er den Takt mit dem Fuße stampft. Erst als er den Bogen nicht mehr bewegen kann, hört er auf. Beim Nachhausekommen von seinem Abendspaziergang ergreift er sein Instrument aufs Neue, umsonst fordert ihn Leonie auf, nicht so stark zu spielen; Karl wird hartnäckig; und da seine Kinder daran gewöhnt sind, beim Klang seines Instrumentes einzuschlafen, ist er keineswegs geneigt, es so bald aufzugeben, als man mehrere Schläge an ihrem Stubenboden hört.

»Hörst Du?« sagt Leonie. – »Was? – Die Nachbarin klopft! – Gilt mir ganz gleich; sie darf nur tanzen. – Aber mein Freund, es ist vielleicht Mitternacht vorüber ... Wir wissen die Stunde hier nicht mehr ... – Nein, nein, es ist nicht Mitternacht! ... Ueberdies belustigt mich das Violinspielen! ... Und dann ... werde ich sehr fest! – Wenn es nur wenigstens zu etwas gut wäre! ... Ich, ich fühle meine Kräfte täglich mehr schwinden! – Leg Dich ins Bett, ich spiele Dir eine Polonaise, damit Du einschläfst.«

Leonie wollte sich niederlegen, als man an ihre Thüre klopft.

»Nun, das ist ein sehr später Besuch!« sagt Karl. »Sollte es der junge Nachbar sein, von dem Du mir heute gesprochen hast? – O! ich denke nicht, daß er sich um diese Stunde zeigt! ... Wer ist da? – Machen Sie auf ... es ist die Nachbarin von unten. – Ach! die Nachbarin!« sagt Karl lachend, »sie hat gesehen, daß ihre Stöße mit dem Besen nichts nützen, sie kommt selbst.«

Leonie öffnet. Eine Dame im Nachtkleid, mit ziemlich eleganter Haube und einem Armleuchter in der Hand tritt mit den Worten ein: »Gewiß, mein Herr, Sie thun es aus Bosheit; mit so viel Hartnäckigkeit hat noch nie Jemand Violine gespielt ... Es ist Mitternacht vorüber, und ...«

Statt der Dame zu antworten, stößt Karl einen Schrei der Ueberraschung aus, Leonie ebenfalls, indem sie hinzusetzt: »Madame Rozat!«

Nun betrachtet die Nachbarin beide genauer, hält ihr Licht vor und schreit ihrerseits: »Was seh ich! ... Herr und Madame Darville! ... hier! ... in diesem Dachboden! ... in dieser Mansarde wollt' ich sagen! ... Ach! mein Gott! ist's wohl möglich! ...«

»Ja, Madame,« versetzt Leonie, der Madame Rozat einen Stuhl bietend, »wir sind es wirklich! ... das Schicksal ist uns nicht günstig gewesen, und, wie Sie sagten, wir bewohnen beinahe einen Dachboden! ...«

»O! aber nur für den Augenblick!« ruft Karl, »man ist mir viel Geld schuldig, und wenn man mir's bezahlt hat, nehmen wir ein anderes Lokal.«

»Wahrhaftig, ich kann's gar nicht glauben!« fährt Madame Rozat, Platz nehmend, fort. »Ach, mein Gott! ... Leute, welche ein Etablissement hatten! ... und in so kurzer Zeit! ... das sitzt mir auf die Nerven!«

»Aber Sie selbst, Madame,« nimmt Leonie, welche den Beileidsbezeigungen der Madame Rozat ein Ziel setzen möchte, das Wort, »wie kommt es, daß Sie jetzt allein wohnen? – Wissen Sie denn nicht, daß ich von meinem Manne geschieden bin? – Geschieden von Ihrem Manne! ... – Ja, Gott sei Dank! seit beinahe sieben Monaten ... Ach! es scheint mir, als wäre ich seit dieser Zeit im Paradies! ... – Sie haben einander verlassen? und Rozat schmeichelte Ihnen immer! – Ha! ha! ... Trauen Sie dem, was man vor den Leuten thut, Herr Darville! Ach! ich habe schöne Dinge erlebt! ... Herr Rozat ist ein ungeschlachtes Wesen! ... der niederträchtigste Charakter, falsch, heimtückisch, boshaft, brutal! ... ja brutal! ... nachdem er mich vor den Leuten geküßt hatte, kneipte, ja schlug er mich, wenn wir allein waren! ... Ach! jenen Schafen der guten Gesellschaft, welche jeden Augenblick bereit scheinen, ihrer Frau zu Füßen zu fallen, darf man nicht trauen; überhaupt affektirt man anmuthige Manieren beinahe immer nur, um Erbärmlichkeiten dahinter zu verstecken. Kurz, wir haben uns getrennt; schon lange hätten wir es thun sollen! ... Mein Sohn ist im Collegium, Herr Rozat bezahlt die Pension; auch ist er gehalten, mir eine zu bezahlen, und ich lebe auf sehr angenehme Weise; ich empfange meine Freunde, gebe kleine Thee- und Punschgesellschaften; da ich jedoch gerne schlafe, bitte ich Sie, Herr Darville, halten Sie mich mit Ihrer Violine nicht wach! ... es ist zu unangenehm!«

»Seien Sie ruhig, Madame,« versetzt Leonie, »jetzt, da mein Mann weiß, daß Sie unsere Nachbarin sind, wird Sie seine Violine nicht mehr stören.«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen. Ach, mein Gott! es thut mir sehr weh ... daß Sie so unglücklich sind! ... Wenn man die Leute kannte, und findet sie hernach wieder ... das thut einem leid! Es wundert mich sogar, daß Sie Contretänze spielen können! ... Ist's jetzt Ihr Erwerbszweig? – Nein, Madame, es geschieht zu meinem Vergnügen. – Ach, Gott! wo ist die Zeit, in der Sie Ihrer Frau so schöne Ohrenringe schenkten! ... ich erinnere mich noch; ... doch ich will mich schlafen legen, denn ich bin müde und habe morgen viel zu thun, ich gebe eine kleine Abendgesellschaft. Adieu, mein Herr und Madame, ich habe die Ehre, Sie zu grüßen ... Bemühen Sie sich nicht, ich bitte Sie; ich habe ein Licht.«

Madame Rozat ist fort, und Leonie kann nicht umhin, auszurufen: »Wie beleidigend das Mitleid dieser Frau ist ... und man muß es erdulden! ...«

Karl gibt keine Antwort, er hängt seine Violine an die Wand und legt sich, ohne ein Wort zu sprechen, zu Bett; der Anblick der Madame Rozat ist ihm gleichfalls nicht erquicklich gewesen.

Leoniens Gesundheit nimmt von Tag zu Tag ab, und doch will sie unablässig arbeiten und wachen, damit es ihren Kindern wenigstens nicht am Notwendigen gebreche. Da Justin seine Nachbarin nicht mehr durch das Fenster erblicken kann, weil die seinigen den ihrigen nicht mehr gegenüberliegen, erlaubt er sich, zuweilen des Morgens nach dem Befinden zu fragen, indem er die Vorthüre halbwegs öffnet.

»Treten Sie doch ein, Herr Justin!« ruft dann Karl dem jungen Arbeiter zu; dieser aber schützt immer seine Arbeitszeit vor, welche ihm keinen Aufenthalt gestatte, und macht sich schnell davon, ohne Platz nehmen zu wollen. Ist Karl nicht da, so tritt Justin, nachdem er den Kopf hereingestreckt, sachte ins Zimmer, nähert sich Leonien, bleibt aufrecht vor ihr stehen, und während er jeden Augenblick wiederholt, daß er fortgehen müsse, bleibt er, in Betrachtung versunken, vor seiner Nachbarin.

Eines Morgens, an welchem Justin schon lange da ist, Leonien anblickend, wenn sie die Augen auf ihrer Arbeit hat, die seinigen jedoch senkend, so wie sie zu ihm aufsieht, sagt letztere lächelnd: »Vergessen Sie Ihre Arbeitsstunde nicht?«

Justin seufzt tief auf und antwortet: »Es ist wahr, Madame, wenn ich hier bin, ... kann ich nicht mehr fortgehen! ... da Sie mir's aber sagen ... – Nicht um Sie fortzuweisen, Herr Justin, geschah's, sondern weil ich bemerkte, daß Sie nie Zeit haben zu schwatzen, wenn mein Mann da ist, während Sie sich gerne aufhalten, wenn er abwesend ist: ich gestehe Ihnen, das kommt mir sonderbar vor!«

Justin erröthet und murmelt zwischen den Zähnen: »Madame ... weil ... ich wage Ihnen die Ursache nicht zu sagen ... ich fürchte Sie zu erzürnen! ... – Ich denke nicht, Herr Justin, daß Sie mir etwas zu sagen haben, was eine ehrbare Frau nicht hören dürfte; erklären Sie sich daher! ... – Nun wohl, Madame, ich liebe Ihren Herrn Gemahl nicht! ... – Sie lieben ihn nicht!« fährt Leonie lächelnd fort; »und was hat er Ihnen denn gethan? ... – Gethan hat er mir freilich nichts ... allein es ist stärker als ich ... ich liebe ihn nicht! ... denn ich sehe wohl, er macht Sie nicht glücklich ... wie Sie es sein sollten! ... Sie, Madame, geschaffen, in Wohlhabenheit zu leben, bewohnen einen Dachboden, und martern sich ab mit Arbeiten, um ihre Kinder zu ernähren! ... während er vom Morgen bis zum Abend nichts thut als Spazierengehen oder Violinspielen! ... ach! das zu sehen, thut mir weh! ... und es kostet mich viel Ueberwindung, ihm nicht zu sagen, was ich denke! ...«

»Mein Herr,« versetzt Leonie mit ernster, verweisender Miene, »wer sagte Ihnen, daß mein Mann mich unglücklich mache, daß unser Unglück seine Schuld sei? Wer hat Ihnen erlaubt, über sein Benehmen abzusprechen? Wenn ich arbeite, so gefällt es mir wahrscheinlich; haben Sie je eine Klage, einen Vorwurf gegen meinen Gatten über meine Lippen kommen hören?«

»O! nein, Madame, aber ... – Dann, mein Herr, sind Ihre Vermuthungen mehr als unbescheiden! ... Uebel von meinem Manne sprechen, heißt es auch über mich thun! ... ja es ist noch mehr! denn Beleidigungen, die mich persönlich beträfen, könnte ich verzeihen, während ich diejenigen nie entschuldigen werde, welche Karl treffen!«

»Mein Gott! Madame, ich fühl's, ich hatte Unrecht, es Ihnen zu sagen ... allein wünschte so sehnlich, Sie glücklich zu sehen! ...«

»Genug, Herr Justin! Ihre Arbeit ruft Sie, säumen Sie nicht länger!«

Justin hat Thränen in den Augen, er macht einige Schritte gegen die Thüre, kommt aber zu Leonie zurück, indem er stammelt: »Madame! ... ich bitte Sie um Verzeihung! ... ich bin nur ein Arbeiter ... habe keine Lebensart, sonst hätte ich Ihnen das nicht gesagt ... Ach! Madame, ich wäre untröstlich, wenn Sie böse gegen mich bleiben!«

»Nun gut! ich will's vergessen, Herr Justin, allein Sie werden mir ein Vergnügen machen, wenn Sie nur bei uns eintreten, während mein Mann zu Hause ist.«

Justin antwortet nichts, er küßt die Kinder, grüßt Leonie und geht sehr niedergeschlagen von dannen, bedenkend, daß er sie nun nicht mehr nach Gefallen sehen und betrachten könne.

Inzwischen kam der Winter heran und Leonie kann ihrem Sohne die warmen Kleider, deren er bedarf, nicht anschaffen; sie ist äußerst betrübt und bringt einen Theil der Nächte mit Arbeiten zu; Karl schlägt sich vor die Stirn, stampft mit dem Fuß auf den Boden, haut mit der Faust nach dem Kamin, nennt sich Nichtswürdiger, Elender, Galgenstrick, geht dann spazieren, sieht eine Stunde den Hanswursten auf der Straße zu und betrachtet die politischen Karikaturen. Madame Rozat hat seitdem keinen Fuß mehr zu ihrer ehemaligen Bekannten gesetzt und richtet es sogar so ein, daß sie ihr nicht mehr auf der Treppe begegnet, wahrscheinlich, weil es derselben zu wehe thäte, in Folge ihres außerordentlichen Mitgefühls.

Als Karl von einem seiner Spaziergänge nach Hause kommt, wird er von seinem Pförtner gestellt: »Der Herr spielt die Violine! ... demzufolge ist der Herr Musiker, wie ich vermuthe?« redete ihn der Pförtner an, ohne seine Schlafmütze abzunehmen, weil er mit einem Bewohner der Mansarden spricht.

»Nun denn! weiter?« versetzte Karl ungeduldig, »hat sich Madame Rozat aufs Neue beschwert? – Nein, nein, mein Herr! o! davon ist keine Rede mehr! ... einer meiner Freunde ... Bedienter hier neben in der Straße Saint-Louis; ich sage hier neben, es ist aber auch wirklich nicht zu weit, wenn man durch die Straße de la Tour geht ... – Nun! kommen Sie zur Sache, Herr Bertrand! – Also mein Freund, der Bediente Braillard. Sie haben ihn vielleicht manchmal in meiner Loge gesehen ... ein Kleiner ... Magerer ... – Ei! nein, ich kenne Braillard nicht ... aber was will er? – Hier ist's: er kam diesen Morgen zu mir und sagte, daß die Tochter seines Herrn sich heirathen werde! ... das Fräulein hat volle neunundzwanzig Jahre, ist nicht hübsch, und Sie sehen wohl ein, daß man sie nicht ungerne unter die Haube bringt, um so mehr, als das Fräulein trotz ihrer Häßlichkeit darauf zu halten scheint, einen schönen Mann zu bekommen; es sind jedoch Leute, die etwas haben, und Sie wissen wohl, daß es Leute gibt, die nichts haben und sich doch verheiraten! – Aber was geht mich das Alles an, Herr Bertrand! ... – Ah! Herr Braillard sagte mir also: in zehn Tagen wird man das Fräulein verheirathen und morgen gibt man bei uns einen kleinen Verlobungsball, in welchem mein Herr seinen Schwiegersohn seiner ganzen Familie vorstellt: es wird sehr glänzend werden, ein wahrhafter Gesellschaftsball, und ich bin im Aufsuchen einer Violine begriffen, um die ganze Nacht zum Tanze aufzuspielen; die ganze Nacht, d. h. es wird vielleicht um zwei oder drei aufhören! ... man weiß nicht gerade ... Kennst Du einen Spielmann? fragte mich Braillard. Ich sagte anfangs nein! dann denke ich an Sie, mein Herr! Ei, aber sage ich zu Braillard, sieh, in der That, wir haben im fünften Stock einen Geiger von erster Stärke, denn man hört ihn im ganzen Hause, wenn er anfängt, und ich glaube, der würde für euch passen! ... Nun gut, sagte mir Braillard, mach' ihm den Vorschlag für morgen! ... um acht Uhr Abends muß man im Hause sein! ... man zahlt fünfzehn Franken. Ich sage: Das ist nicht zu viel, aber es ist ordentlich! denn da eingehalten wird, ist's wahrscheinlich, daß man für den Musikanten sorgt, und ein guter Schluck bei Nacht ist nicht unangenehm. Da habe ich's übernommen, es dem Herrn vorzuschlagen, und ich denke, es wird ihm nicht unlieb sein, zu ...«

»Nein, ich spiele Andern nicht zum Tanze auf!« entgegnete Karl ärgerlich, und geht alsbald die Treppe hinauf, während der Pförtner ausruft: »Schaut! das ist doch zu närrisch! ... die fünfzehn Franken nicht verdienen zu wollen; und sein kleines Mädchen hat zerrissene Schuhe! ... das hab' ich wohl gesehen, ich! ... Wem spielt er denn zum Tanze auf? den Ratten und Mäusen wahrscheinlich!«

Karl tritt in seine Wohnung; seine Frau hat verweinte Augen; seit einigen Tagen macht ihr die Gesundheit des kleinen Felix Sorge; er ist weniger heiter und spielt nicht mehr; sie hält ihn in ihren Armen, sie fürchtet, er möchte frieren, und die kleine Laura bläst in die Finger und läuft, um sich zu erwärmen, im Zimmer umher. Karl ist von diesem Bilde des Elends gerührt, er setzt sich in eine Ecke, indem er bei sich selbst spricht: »Uebrigens! ... wenn ich ihnen aufspiele ... fünfzehn Franken ... ist schon etwas! ...«

Er nähert sich seiner Frau und sagt: »Mit Deiner Nadel verdienst Du keine fünfzehn Franken in einem Tag, nicht wahr? ... – Ach! ... nur mit vieler Anstrengung verdiene ich fünfzehn Sous ... Warum fragst Du mich aber das? ... – Weil ... so eben ... hat der Pförtner mit mir gesprochen ... kurz, man schlägt mir vor, einer Gesellschaft eine ganze Nacht Tanzmusik zu machen, und man bietet mir fünfzehn Franken dafür ...«

Mit ängstlicher Spannung blickt Leonie ihren Gatten an, denn ihre Kinder frieren, und sie ist der Ansicht, kein Geschäft sei zu schmählich, um ihnen das Nöthige zu verschaffen.

»Nun denn! mein Freund,« sagte sie endlich, »was hast Du geantwortet? – Du kannst Dir wohl denken, daß es mich nicht belustigt, den Fiedler zu machen ... ich lernte die Violine zu meiner Erholung und nicht, um Andern zum Tanze zu spielen ...«

»Ja,« versetzte Leonie traurig, »ich fühle, wie viel Unangenehmes es für Dich haben würde ... allein wenn das Unglück uns niederdrückt, ist man häufig recht froh, wenn man die Talente als Hilfsquelle hat, die wir uns zu unserem Vergnügen aneigneten. Kurz, Du hast ... – Ich hab's ausgeschlagen.«

Leonie sagt nichts mehr und drückt ihren Sohn fest an ihr Herz. Karl hat Hunger, er öffnet eine Schublade und findet nur trockenes Brod. Er ruft aus: »Wo ist denn das Mittagessen? – Man hat mich heute nicht bezahlt ... wir haben nichts weiteres. – Teufel! ... ein erbärmliches Mahl ... Schurke von Mongérand! ... hm! ... wenn ich ihn träfe! ... ich weiß nicht, was ich ihm thäte ... mich in der Verlegenheit zu lassen ... nachdem er noch borgte bei meiner ...«

Karl endigt seinen Satz zwischen den Zähnen, er kaut einige Zeit an seinem Brod, dann steht er auf und ruft aus: »Wohlan, ich bin entschlossen, ihnen Tanzmusik zu machen! ...«

Leonie erhebt den Kopf, ihre Augen beleben sich wieder, und sogleich beginnt sie: »Aber der Pförtner, wenn Du's ihm abgeschlagen hast ... – O, sein Freund Braillard kann noch nicht wieder gekommen sein ... Laura, gehe, sage zum Portier, ich nehme bestimmt seinen Vorschlag für morgen an. – Geh, Laura, geh schnell, mein liebes Kind!«

Laura geht hinab und Karl fährt fort: »Es ist mir nicht unlieb, daß ich nicht sogleich eingewilligt habe ... man muß nicht thun, als warte man auf so etwas. Uebrigens kennen mich die Leute, zu denen ich gehe, ohne Zweifel gar nicht! ... und wie Du sagst, man muß aus seinem Talent Nutzen ziehen.«

Laura kommt zurück; es war noch Zeit, Braillard war gerade bei seinem Freund Bertrand; beim Empfang von Karls Antwort sagte er: »Also ist die Sache abgemacht, auf morgen Abend Punkt acht Uhr,« damit schrieb er die Adresse seines Herrn auf ein Papier, welches Laura ihrem Vater überbringt.

Karl liest: » Herr Tigré, ehemaliger Rauhhändler,« er schiebt die Adresse in die Tasche, indem er sagt: »Sehr gut! von dem Herrn Tigré habe ich nie sprechen hören.« Leonie athmet wieder auf; ein Strahl von Glück geht in ihren Zügen auf; ihre Kinder sind heiterer, weil sie sie lächeln sehen, Karl übt sich den ganzen Abend in neumodischen Stücken: diesmal jedoch ermüdet der Klang des Instruments seine Frau nicht.

Am folgenden Tage beschäftigt sich Leonie mit der Toilette ihres Mannes, sie will nicht, daß er schmutzig in der Gesellschaft erscheine; sie weiß, daß der Anzug sogar bei einem Contretanzspieler imponirt, und man findet, daß Karl minder schlecht spielt, wenn er gut gekleidet auftritt. Die Effekten ihres Mannes sind nicht mehr neu, durch vieles Ausklopfen und Bürsten gelingt es ihr indeß, sie noch sehr gut aussehend zu machen. Karl kleidet sich lange vor der bestimmten Stunde an, seine Frau betrachtet, bewundert ihn; sie liebt ihn fortwährend, und wenn er nicht schlechte Gewohnheiten in den zuletzt von ihm besuchten Gesellschaften angenommen hätte, stellte er noch viel vor; aber in diesem Augenblicke vergißt Leonie all sein Unrecht, sie hat nur den Dienst vor den Augen, den er seiner Familie zu leisten im Begriffe steht, und Karl hat diese so wenig daran gewöhnt, welchen von ihm zu empfangen, daß es ihr jetzt um so mehr Vergnügen verursacht.

Die Nacht ist gekommen. »Man darf die Stunde nicht versäumen, mein Freund,« erinnerte Leonie. – »Ohne Zweifel, doch Du weißt, daß ich keine Uhr mehr habe. – Laura, sieh, ob Herr Justin zu Hause ist und frag' ihn genau, wie viel Uhr es sei. – Ja Mama.«

Die kleine Laura geht zu dem jungen Arbeiter, dessen Thüre halb offen steht; er schließt sie nie vor dem Augenblick, wo er sich schlafen legt, in der Hoffnung, seine Nachbarin zu sehen oder wenigstens zu hören. Justin macht eine Bewegung der Freude, als er Laura in sein Zimmer treten sieht.

»Wünschen Sie etwas, meine Freundin, bedarf Ihre Mama meiner? – Mein Herr, ich komme, um nach der Zeit zu fragen, weil mein Papa diesen Abend auf den Ball geht, und er darf nicht fehlen, denn er wird die Tanzmusik machen, er nimmt deßhalb eine Violine mit ... Es ist recht hübsch, wenn man Violine zum Tanze spielen kann, nicht wahr, mein Herr?«

Während dieser Worte blickte das junge Mädchen nach zwei großen Kuchen auf einem Tische; es konnte die Augen nicht davon abwenden: das arme Kind hatte den ganzen Tag nur Brod und ein wenig Zucker gegessen, weil seine Mutter erst den andern Tag bezahlt werden sollte.

Justin sah auf seine Uhr: »Es ist sieben Uhr,« sagte er zu der Kleinen, die noch in Betrachtung der Kuchen an dem Tische stand.

»Dank, Herr Justin!« Laura will sich entfernen, aber der junge Mann, welcher bemerkt, wohin sie blickt, sagt zu ihr: »Für Sie und Ihren Bruder habe ich das gekauft ... ich wage jedoch nicht, es Ihnen anzubieten, aus Furcht, Ihre Mama zu erzürnen ... welche schon böse auf mich ist.« »O! heute würde es sie vielleicht nicht erzürnen ... denn sie sieht diesen Abend recht gut gelaunt aus. – Wahrhaftig ... Nun gut ... wir wollen sehen ... sogleich.«

Laura wagt nicht länger zu bleiben, sie eilt, ihren Eltern die Antwort zu bringen. Karl hat noch Zeit, sich auf seinem Instrument zu üben und sich alle Contretänze, die er kann, ins Gedächtniß zurückzurufen. Endlich verstreicht die Stunde, und er schickt sich fortzugehen an; er nimmt seine Violine unter den Arm, küßt seine Kinder und Leonie, welche ihn zärtlich an ihren Busen drückt, indem sie ihm sagt: »Ich werde Dich erwarten und nicht schlafen ... – Doch, doch, schlafe ... Du weißt wohl, es kann bis fünf oder sechs Uhr währen; es ist nicht nöthig, daß Du Dich durch Wachen ermüdest ... leb wohl! ... Alles, was ich wünsche, ist, daß ich mich nicht in den Stücken verwirre.«

Leonie begleitet ihren Mann hinaus und leuchtet ihm die Treppe hinab, gefolgt von ihren beiden Kindern, als sie wieder heraufkommen, finden sie Justin vor der Thüre mit dem Kuchen in der Hand. Justin macht seiner Nachbarin eine tiefe Verbeugung, welche mit liebenswürdiger Miene zu ihm sagt: »Guten Abend, Herr Justin!«

Die Art, mit welcher Leonie diese Worte sprach, gibt dem jungen Arbeiter ein wenig Muth. Er tritt näher mit den Worten: »Zürnen Sie mir immer noch, Madame? – O, mein Gott! nein, sprechen wir nicht mehr davon ... doch es ist bald acht Uhr, ich will meine Kinder zu Bett legen und dann ein Gleiches thun, denn ich bin sehr müde ... – Wenn Sie mir gütigst erlauben wollten, Madame ... den Kleinen diese Kuchen anzubieten ... es wäre mir ein Beweis, daß Sie völlig vergessen haben, was ich neulich sagte. – In diesem Fall gerne, Herr Justin!«

Im Grund des Herzens war Leonie sehr froh, daß ihre Kinder dieses kleine Geschenk empfangen konnten. Justin gibt es ihnen, entzückt, Verzeihung erlangt zu haben. Laura und ihr Bruder nehmen die Kuchen mit der ganzen Freude ihres Alters, vermehrt noch durch die erduldeten Entbehrungen. Endlich sagt man sich gute Nacht, und jedes kehrt vergnügten Herzens in sein Zimmer zurück: es braucht bei manchen Personen oft so wenig, um sie glücklich zu machen! ...«


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