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Fünftes Kapitel.

Eine Gesellschaft in Erwartung.

Während Mongerand sich beim Absteigen aus dem Omnibus seines Freundes Karl Darville bemächtigt, ihn ins Café , von da zu Herrn Rozat, hierauf zum Billard geschleppt hatte, war in einem alterthümlichen Hause der kleinen Straße Verte eine ehrenwerthe Gesellschaft in einem sehr großen und trübseligen Gemache, wie sie beinahe alle in der genannten Straße sind, versammelt. Diese Gesellschaft war erschienen auf Einladung der Wittwe Darville, Karls Mutter, welche sich, nach mehr als zwanzigjähriger Comptoirarbeit, beim Tode ihres Gatten von der Handlung zurückgezogen und in der Straße Verte eingebürgert hatte, um eine ehrbare Wohlhabenheit und süße Ruhe zu genießen.

Madame Darville war über die fünfzig hinaus; sie liebte ihren Sohn sehr, hatte ihm jedoch immer eine ernste Miene und strengen Ton gezeigt, und selten verlor ihr Gesicht seine eigenthümliche Würde. Auch war ihr Sohn gewohnt, blindlings und ohne Murren zu gehorchen, was in Hinsicht seines Vaters, vor dem er keine Furcht hatte, nicht in gleichem Grade der Fall war. So wahr ist es, daß Kinder, wie Männer, nur der Furcht weichen; übrigens gar kein Beweis unseres guten Naturells.

Madame Darville, welche auf diesen Tag große Plane baute, hatte ihrer Köchin Babette aufgegeben, ein großes und glänzendes Mahl zu bereiten. Man hatte Herrn Formerey, den alten Chef eines blühenden Commissionshandlungshauses, eingeladen, einen Mann, der nie in seinem Leben eine schuldige Zahlung verweigert hatte, und die strenge Pünktlichkeit seiner Handelsgeschäfte auf alles Uebrige anwandte.

Herr Formerey war ganz besonders gebeten worden, seine Nichte mitzubringen, eine junge Person von neunzehn Jahren, kürzlich erst aus der Pension zurückgekommen und an die Spitze seines Hauses gestellt, das sie schon sehr gut leitete.

Man hatte ferner Herrn und Madame Benjoin gebeten, alte, gleichfalls vom Handel zurückgezogene Freunde; die Frau beschäftigte sich zur Ausfüllung ihrer Mußestunden mit der Zucht von Seidenraupen und der Mann mit Erlernung der Guitarre.

Dann ein junges, im Hause wohnhaftes Ehepaar, Nachbarn, mit denen man gerne eine freundschaftliche Verbindung unterhielt. Der Mann war bei vorkommender Gelegenheit heiter und aufgeräumt; freilich zeigte sich eine solche selten bei Madame Darville, allein das konnte vorkommen, und dann war es gut, wenn man einen gefälligen Freund hatte, der lachte, scherzte und die stockende Unterhaltung wieder in Schwung brachte.

Außerdem Herrn Boudinette, einen alten Junggesellen, der bei den Damen noch den Galanten spielte, sein Gedächtniß mit all dem vollpfropfte, was er Morgens in Journalen und Brochuren auffing, um es Abends wieder preiszugeben, und der seinen grauen Backenbart mit einer blonden Perrücke verbergen zu können wähnte.

Endlich noch Herrn und Madame Bringuet, weitläufige Anverwandte des seligen Herrn Darville. Herr Bringuet war ein alter, unlängst aus dem Dienst getretener Soldat, und seine Gattin, die ihn beständig in die Garnisonen begleitet hatte, pflegte stets zu sagen: »Unser Oberst, unser Major und unser Regiment.«

Alles war auf vier Uhr geladen worden, und Babette versprach, eine halbe Stunde später solle die Suppe auf der Tafel stehen. Madame Darville hegte die Ueberzeugung, ihr Sohn werde vor der bestimmten Stunde erschienen sein, weil er, obgleich gern herumschlendernd und gaffend, doch bei seiner Mutter nie auf sich warten ließ.

Herr Formerey, der pünktliche, war nebst seiner Nichte mit dem Schlag vier Uhr eingetroffen.

»Sehr liebenswürdig, daß Sie nicht auf sich warten lassen,« begann Madame Darville, als sie den Oheim und die Nichte erblickte. »Ich, auf mich warten lassen? nie! ein Kaufmann muß seinem Worte treu bleiben, denn sonst ist's nicht der Mühe werth, daß er es gibt. Das ist mein Grundsatz ... Leonie, begrüße doch Madame!«

»Wie Sie größer, schöner geworden sind, seit ich Sie nicht mehr gesehen habe! es sind jetzt Wohl sieben Jahre her. Sie waren noch ein Kind, liebe Leonie, Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern können?«

»O! verzeihen Sie, Madame, ich finde Sie nicht verändert. – Wie liebenswürdig sie ist; auch sagt man, sie sei schon eine gute Hausfrau; man muß ihr einen Gemahl geben, der sie recht glücklich macht und ihre vortrefflichen Eigenschaften zu schätzen weiß.«

Herr Formerey lächelt der Frau Darville mit der Miene des Einverständnisses zu. Die junge Person schlägt die Augen nieder, wie Mädchen stets zu thun pflegen, wenn man ihnen von einem Gemahl spricht; überdies erröthet Leonie auch, und ihr Herz schlägt gewaltig, denn seit einigen Tagen hat ihr Oheim so oft von dem Sohne der Madame Darville gesprochen, daß verschiedene Gedanken ihren Geist beschäftigen; sie ahnt, was man mit ihr vor hat.

Leonie ist hübsch, und ohne daß ihre Schönheit ausgezeichnet wäre, gefällt Alles an ihr, weil ihre Züge ein Verein von Sanftmuth und Lieblichkeit sind, ihre Bescheidenheit nicht übertrieben, ihre Anmuth natürlich ist und ihr Lächeln einen eigenen Reiz hat.

Und da die Bescheidenheit vor einer gewissen Neugierde nicht bewahrt, so hatte Leonie ihre großen braunen Augen gemächlich im Zimmer umherlaufen lassen, um zu sehen, ob der junge, in Rede stehende Mann da sei.

»Es wundert mich, daß mein Sohn noch nicht angelangt ist,« sagt Madame Darville. – »Sie haben ihm vielleicht nicht gesagt, um vier Uhr,« versetzt der Negociant. – »Verzeihen Sie. – So geht wahrscheinlich seine Uhr nach.«

Herr und Frau Benjoin folgen dem Oheim Formerey und seiner Nichte bald. Herkömmliche Begrüßungen und Complimente; man nimmt Platz, plaudert; Madame Benjoin geht ins Einzelne über ihre Seidenraupenschachteln ein, und während seine Frau schwatzt, sind die Finger von Herrn Benjoin's rechter Hand in beständiger Bewegung, damit er einen auf seiner Guitarre einstudirten Griff nicht vergißt.

Hierauf kommen Herr und Madame Dupré, der junge Nachbar und seine Frau. Neue Verbeugungen, neue Erkundigungen über die beiderseitige Gesundheit, neue angebotene und angenommene Stühle. Man weiß, es ist bei jeder neu eintretenden Person die nämliche Ceremonie, und wahrhaftig, man dürfte wohl ein wenig Abwechslung in diese Förmlichkeiten bringen, denn immer und ewig dasselbe zu thun, ist nicht sehr belustigend.

»Und wo ist denn Herr Karl?« fragt Herr Dupré .

»Ja, wo ist denn Ihr Herr Sohn?« sagt Madame Benjoin. – »Ich wollte mich gerade nach ihm erkundigen,« ruft Herr Benjoin nach.

»Ich erwarte ihn. Es wundert mich, daß er noch nicht hier ist. Sonst ist er nicht gewöhnt, länger auszubleiben. Ah! man klingelt, er ist's ohne Zweifel.«

Nicht lange, so geht die Thüre des Salons auf und ... Herr Boudinette erscheint; beim Anblick der blonden Perrücke erschrack Fräulein Leonie einen Augenblick, faßte sich jedoch bald wieder und dachte bei sich: »Wie einfältig war ich! kann der Sohn der Madame Darville schon eine Perrücke tragen!«

Herr Boudinette weicht etwas von dem bisher befolgten Gange ab: nachdem er gegrüßt, bleibt er gewöhnlich mitten im Kreise stehen und lehnt sich dann, sogar mitten im Sommer, mit dem Rücken und ausgebreiteten Fracksfügeln an den Kamin, wie um die Wärme des Kaminschirms zu genießen.

»Was gibt's heute Neues, Herr Boudinette?« fragt Madame Darville; »denn Sie wissen stets, was sich Interessantes in der Stadt ereignet.«

»Ah! Madame, ich weiß nicht mehr als Jedermann. Es ist wahr, ich gehe viel hin und her und beobachte gerne, ich bin ein eifriger Beobachter, so z. B. glaube ich, daß Ihre Uhr nachgeht: Sie haben erst ein Viertel und es ist zwanzig Minuten; ich hab's im Vorübergehen an der Uhr der Tuilerien bemerkt.«

»Schon vier Uhr zwanzig Minuten, und mein Sohn nicht da; sehr sonderbar! Ah! ich höre klingeln!«

Aufs Neue harrt Fräulein Leonie, bis die Salonthüre aufgeht, was nicht lange währt. Allein der Sohn des Hauses ist es nicht. Ein Herr und eine Dame von reifem Alter machten die üblichen Begrüßungen; an der Haltung des Mannes erkennt man den ehemaligen Militär, aus dem Gesicht seiner Frau läßt sich abnehmen, daß sie sehr schön gewesen sein muß.

»Ah! meine Base Bringuet und ihr Gemahl,« sagt Madame Darville, indem sie den Neuangekommenen entgegengeht. »Schön, sehr schön, Jedermann ist pünktlich ... nur noch mein Sohn fehlt, aber er kann gewiß nicht lange ausbleiben! es muß ihn irgend etwas aufgehalten haben.«

Jedes setzt sich, mit Ausnahme des Herrn Boudinette, welcher seine Frackflügel fortwährend auseinander schlägt.

»Ich habe das Essen auf halb fünf Uhr bestellt,« begann Madame Darville wieder nach einer Weile; »ich dachte, es werde Allen genehm sein. Sie, Herr Formerey, Sie essen gewöhnlich etwas später.«

»Punkt fünf Uhr, Madame, allein ich kann meinen Magen vorrichten.«

»Ich, ich bin an Alles gewöhnt,« fiel Madame Bringuet ein, »wir haben unsere Essenszeit so oft gewechselt! ... als wir in Lille in Garnison lagen, aßen wir um zwei Uhr; in Mans erst um vier Uhr, und wenn uns unser Oberst zum Essen einlud, ließ er uns bis sechs Uhr warten! nicht wahr, Bringuet? – Ja, zuweilen.«

»Mein Gott! habe ich auch den Schrank mit meinen Seidenraupen verschlossen?« ruft plötzlich Madame Benjoin, mit einem Blick auf ihren Mann, dazwischen. Dieser aber gewahrte so eben in einer Ecke des Salons eine alte Laute an der Wand; er steht auf, geht auf die Laute zu und sagt: »Ah, Teufel! spielen Sie dieses Instrument, Madame Darville? – Ach! ehemals! aber seit vielen Jahren hab' ich es nicht mehr berührt! – Und ich habe mich an die Guitarre gehalten, seit ich aus dem Handelsfache heraus bin, und es macht mir viele Freude. – Wahrhaftig, Herr Benjoin,« sagt die Dame mit den Seidenraupen, »wie wagen Sie zu sagen, daß Sie im sechzigsten Jahre noch die Guitarre erlernen? – Warum denn nicht, liebe Frau, man lernt in jedem Alter!«

»Gewiß,« bemerkt Herr Boudinette, »und ich habe irgendwo gelesen, daß Cato im achtzigsten Jahre tanzen gelernt habe! ... Ach! mein Herr! ... gewiß nur auf Verordnung des Arztes! – Nein, Madame, seines Vergnügens halber.«

»Halb ist vorüber,« sagt Herr Formerey, die Stirne runzelnd, »Herr Karl muß seine Uhr verloren haben!«

»Im Norden,« fiel Herr Bringuet ein, »haben wir schon bejahrte Männer, welche noch sehr gut tanzen, und einen weit graziöseren Tanz als hier. Freilich ist man gesunder in jenen Gegenden.«

»Sind Sie Musiker, Herr Boudinette?« fragt der alte Benjoin, die Laute von der Wand herabnehmend und eine Saite anschlagend.

»Ich, ja ... bin's gewesen. Ich spielte vielerlei, habe aber Alles an den Nagel gehängt ... andere Zeiten, andere Sorgen! wie der Eremit der Chaussée d'Antin sagt.«

»Schade, daß nur noch eine Saite an diesem Instrumente ist, es muß wohltönend gewesen sein.«

»Herr Benjoin, werden Sie endlich aufhören, diese Saite brummen zu lassen? Saubere Musik! ... man möchte glauben, es sei ein ganzes Dutzend Wespen im Zimmer.«

»Wir hatten einen Unterlieutenant, welcher Guitarre spielte wie ein Engel, und dabei eine herrliche Stimme sang! ... auch waren alle Frauenzimmer zum Tollwerden in ihn verliebt. Erinnerst Du Dich, Bringuet? – Ja, ja.«

»Ist das Fräulein musikalisch?« fragt Madame Dupré mit einem Blick auf Leonie. – »Ich singe ein wenig, Madame!«

»Im Norden gibt's vorzügliche Musiker,« nimmt Herr Bringuet wieder das Wort, »gute Instrumentisten und Tonsetzer ... Gruetry, Mehul kamen von daher, und sie hielten Manchem die Wage.«

»Mein Gott! was ist meinem Sohn widerfahren! ... drei Viertel auf fünf Uhr ... Ich begreife es gar nicht ... Thut mir unendlich leid, daß er die Gesellschaft warten läßt. Freilich hatte ich ihm nichts von dem Besuche gesagt, den ich erhalten werde; ich wollte ihm eine angenehme Ueberraschung bereiten ...«

»Und er hat sich zu etwas Anderem verleiten lassen,« fiel Herr Dupré ein; »bei einem jungen Manne ist das zu entschuldigen! ... man hat Freunde, die einen abholen; man hat ... alle mögliche Gelegenheit, sich zu belustigen ... hi! hi!«

»O! nein, mein Herr, von dem Allem sucht mein Sohn nichts auf. Ist er übrigens in zehn Minuten nicht hier, gewiß, so werden wir essen.«

»Man muß ihm mindestens noch eine Viertelstunde geben,« sagt Madame Dupré. – »Ich bin sicher, Alles ist bereit. Babette! Babette! ist das Essen fertig?«

»Ja, Madame,« sagte die Köchin im Hereinkommen, »ich bin schon lange mit Allem fertig, soll ich auftragen? – In zehn Minuten, ich werde klingeln. – Wie unangenehm, eine so große Mahlzeit warm zu halten!«

»Ein Essen aufgewärmt, war niemals etwas werth!«

brummt Herr Boudinette citirend, indem er sich umdreht und der Gesellschaft das Hintertheil seiner Hosen zeigt. »Was ich jedoch da sage, geschieht nicht, weil es mir eilte, ich warte so lange man will. Man hat überdies jetzt vortreffliche Vorrichtungen, um die Gerichte warm zu erhalten. Unter den Schüsseln verborgene Lampen, glühende Backsteine oder siedendes Wasser. Wir sind in dem Jahrhundert der Verbesserungen.«

»O nein, mein Herr, nein,« sagt Herr Bringuet, »man hat nichts verbessert! man kannte das Alles ehemals auch, oder aber bediente man sich gleich guter Vorrichtungen.«

»Nun, da schleicht Benjoin wieder um die alte Laute herum: er wird noch ein Narr mit seiner Musik. Stellen Sie sich vor, meine Damen, bei Nacht kann er davor nicht schlafen! er zählt nur seine Pausen. Ich höre ihn vor sich hin murmeln: eine schwarze und eine weiße macht eine Achtelsnote! Und dann schlägt er den Takt mit Händen, Füßen und dem ganzen Körper, und da bewegt er sich hin und her und hindert mich am Schlafen. Diese Nacht dauerte es, ich weiß nicht wie lange! – Ich studirte einen Takt in drei Tempo's, liebe Frau, und das sind die schwierigsten. – Ach! wenn ich nicht Jemand zum Fußwärmen brauchte, ließe ich Sie sicherlich Ihre Takte allein in Ihrem Bette schlagen.

– Was Teufels, Frau, ich schikanire Dich nicht mit Deinen Seidenraupen, mit denen Du alle Schränke anfüllst, laß mich Musiker werden ... la, la, si, si! re, re, mi, mi, fa, fa, ut, ut, nein, do, do heißt es, man sagt nicht mehr ut! – Ei! du mein Gott, dies wiederhole ich Dir ja die ganze Nacht: mach' »do do« ein für allemal und hör' doch damit auf!«

Während dieses kleinen ehelichen Zwiesprachs zwischen Herrn und Frau Benjoin thut Karls Mutter ihr Möglichstes, ihre Gäste zu beschäftigen und zu unterhalten, damit ihnen die Zeit weniger lange werde; besondere Aufmerksamkeit aber schenkt sie Herrn Formerey; sie kennt die strengen Grundsätze des Negocianten; sieht, wie seine Stirne sich immer mehr in Falten legt; sie fürchtet, das Nichtworthalten ihres Sohnes möchte die projektirte Heirath vereiteln, und obgleich sie im Innern sehr gegen denselben aufgebracht ist, sucht sie ihn doch zu entschuldigen.

»Es ist nicht möglich! ... es muß meinem Sohn etwas zugestoßen sein ... nie in seinem Leben hat er bei mir auf sich warten lassen; glücklicherweise halten Sie, Herr Formerey, nicht auf zu frühes Mittagspeisen.«

»Ja, ohne Zweifel, Madame, ich kann warten; bestimmt man mir aber demungeachtet eine Stunde, so richte ich mich darnach; ich frühstücke dann mehr oder weniger.«

»Und die gute Leonie, sie sagt gar nichts. – Meine Nichte ist zu wohlerzogen, um etwas zu sagen: überdies soll ein Frauenzimmer warten, bis man mit ihr spricht. – Bedürfen Sie etwas, meine liebe Freundin? – Nein, Madame, o! ich versichere Sie, ich denke nicht im Geringsten ans Mittagessen!«

»Ich muß im Gegentheil gestehen, daß ich sehr stark daran denke,« sagt Herr Boudinette, im Salon auf und ab gehend.

»Und was haben Sie mit Ihrem Neffen, Leoniens Bruder, gemacht, Herr Formerey?« fragt Madame Darville, die sich das Gespräch im Gang zu erhalten bemüht.

»Aha! mein Neffe Adiran. O ! der ist ein unruhiger Kopf! einer von den Leuten, die nicht in einem Comptoir sitzen mögen; er wollte reisen, um sein Glück zu machen, da ging er fort nach New-York mit einem kleinen Zehrpfennig.«

»Bringuet, hast Du wenigstens Dein zweites Frühstück zu Dir genommen?« rief die Gattin des ehemaligen Militärs ihrem Manne zu. – »Ja, ja. – Ah ! das lasse ich mir gefallen, es gibt Tage, wo Du's versäumst. Stellen Sie sich vor, Madame, er ißt gar nicht mehr, und beim Regiment hatte er einen höllischen Appetit.«

»O! im Norden ißt man gut! Es ist wahr, dort jagt man brav; an Wild fehlt's nicht; gingen wir mit einem Kameraden auf die Jagd, brachten wir so viel heim, als wir nur tragen konnten.«

»Und Sie sagen, er sei mit einem Zehrpfennig abgereist,« fährt Madame Darville, einen Seufzer der Ungeduld unterdrückend, fort. Und in was bestand dieser Zehrpfennig?«

Ehe Herr Formerey antwortete, ward die Klingel mit Heftigkeit angezogen.

»Ah! da ist er! da ist er!« rief Madame Darville, freudig wieder aufathmend.

Dieser Ausdruck der Zufriedenheit theilt sich allen Gesichtern mit, denn die Einen haben großen Hunger, die Andern sonstige Beweggründe, zu wünschen, es möchte der Sohn des Hauses sein.

»Er kam ein wenig spät,« sagt Herr Boudinette, »nun ist er endlich da; also allen Sündern Erbarmen!«

»O! das ist gleich! ich werde ihn auszanken,« sprach Mama, das Auge nicht von der Thüre wendend.

Endlich öffnet man. Babette, die Köchin, erscheint und ruft: »Madame, die kleinen Pastetchen sind's.«

Nie brachten kleine Pastetchen eine ähnliche Gemüthsaufregung hervor; alle Gesichter verlängerten sich, der Ausdruck des Vergnügens schwand, um dem Aerger über getäuschte Hoffnung Platz zu machen; die Stirnen umwölkten sich wieder, mehrere Gäste können sich einiger Bewegungen des Unmuths nicht entschlagen, und Madame Darville selbst kann nicht umhin, auszurufen: »Ach! mein Gott! die kleinen Pastetchen; ach! während ich so fest glaubte, es sei mein Sohn, sind's die kleinen Pastetchen; wie unangenehm!«

»O nein !« sagt Boudinette, »die kleinen Pasteten haben nichts Unangenehmes, sie sind im Gegentheil sehr gut, müssen aber warm gegessen werden; aufgewärmt taugen sie nichts mehr.«

»Nein, aufwärmen lassen sie sich nicht gut,« schwatzt Herr Benjoin nach, wobei er vor sich hinsummt: »Fa, fi, la, mi, re, mi!«

Der übrige Theil der Gesellschaft bleibt stille, aber dieses Stillschweigen hat etwas Beredtes; es erzeugt die üble Laune, welche sich bei allen Gästen einzustellen beginnt, denn der Magen wird dringend.

»Wohlan,« sagt Madame Darville, »ich sehe schon, daß man nicht mehr auf Karl zählen darf, und daß wir Unrecht thäten, länger zu warten. Was halten die Damen davon?«

»Ich thue, was man will,« erwidert Madame Benjoin. »Bei Andern habe ich nie eigenen Willen.« sagt Madame Bringuet.

Aber diese beiden Antworten werden mit einem Tone gemacht, welcher sagen will: Wir sollten schon lange bei Tische sein.

»Und welches ist Ihre Meinung, Herr Boudinette, soll man essen, soll man noch warten?«

»Madame,« versetzt Boudinette, indem er endlich seine Rockflügel freiließ, »ein geistreicher Mann antwortete bei einer ähnlichen Gelegenheit: »›Essen hindert nicht am Warten, aber Warten hindert am Essen›«

»Ah! ein sehr guter Witz! Herrliche Antwort,« rief die ganze Gesellschaft einstimmig.

»In diesem Fall, meine Herren, reichen Sie den Damen die Hand.«

Diese Einladung wird auf der Stelle in Vollzug gesetzt. Herr Benjoin entfernt sich von der Zither, um der Madame Bringuet die Hand zu bieten, deren Gemahl Madame Dupré führt. Herr Formerey machte sich zum Cavalier der Herrin des Hauses, und die arme Leonie ist genöthigt, den ihr dargereichten Arm des Herrn Boudinette zu nehmen, in Ermanglung eines jüngern Führers, den sie natürlich vorgezogen hätte.

Auch bei Tische sollte die junge Person neben Karl sitzen; da aber die Mama immer noch auf das Erscheinen ihres Sohnes hofft, ließ sie das Couvert frei und sagte zu Leonie: »Nicht wahr, es genirt Sie nicht, liebe Freundin? – Nein, Madame, gewiß nicht, – Noch hoffe ich, mein Sohn werde kommen ... wir essen langsam ... so wird er uns einholen.«

»Ja,« sagt Boudinette, voll Freude bei Tische zu sein. »O! wir können langsam essen ... darin sehe ich nichts Unpassendes.«

Aber der Empfehlung der Herrin des Hauses ungeachtet, stehen Suppe, die kleinen Pastetchen und ersten Vorgerichte nicht lange vor den nur ihrem Hunger gehorchenden Gästen. Nachdem jedoch das erste Bedürfniß befriedigt ist, genießt man die Tafelfreuden besser; man fängt zu plaudern an, bemüht sich, liebenswürdig zu sein. Bei den Genüssen lobt Herr Bringuet die Kohlköpfe des Nordens, welche seiner Behauptung zufolge beinahe von selbst kochen. Herr Boudinette bricht in Lobeserhebungen über Alles aus, was er ißt; und Herr Dupré, welcher auf mehreren Gesichtern eine durch die Abwesenheit Karls hervorgebrachte finstere Wolke gewahrt, trägt sein Möglichstes zur Erheiterung bei und beginnt mit allerlei Witzen und Wortspielen.

»Ha, ha! wie drollig ist doch Herr Dupré!« lacht Madame Darville etwas erzwungen ... »Buttfische, Herr Formerey? ... – Gerne, Madame.«

Karls Mutter ist äußerst besorgt um den Negocianten, sie empfiehlt Herrn Dupré, seinem Nachbar, ihn beim Einschenken nicht zu vergessen; Madame Darville hofft, Herr Formerey werde, wenn er ein gutes Mahl halte, sein Gesicht etwas aufklären. Ununterbrochen ißt und trinkt der Negociant, aber er behält ein eiskaltes Phlegma.

»Herrlich, der Buttfisch,« ruft Herr Boudinette, »ich nehme noch ein zweites Mal.«

»Als wir noch in Verdun in Garnison lagen, nimmt Madame Bringuet das Wort, »aßen wir alle Tage köstliche Fische. Wir hatten einen Quartiermeister, der ein leidenschaftlicher Fischer war. Er besaß alle Arten von Netzen, Angeln ... Erinnerst Du Dich, Bringuet? – Ja, ja, o! im Norden fängt man prächtige Fische!«

»Zieht man viele Seidenraupen im Norden? – O! nein, Madame; im Süden, in der Gegend von Grenoble beschäftigt man sich hauptsächlich damit ... und dort pflanzt man die weiße Maulbeere, ihre Nahrung.«

»Dort wollen wir uns ein kleines Landhaus kaufen und uns dahin zurückziehen, wenn Du willst, Benjoin. – Will mich nicht zurückziehen ... habe keine Lust, unter weißen Maulbeeren zu leben,« erwidert Herr Benjoin, indem er seine Finger krachen läßt. »Meine Frau will immer, ich soll mich zurückziehen und mit Seidenraupen in einer Wüste und Einöde leben! wie lustig das wäre! – Wer spricht Ihnen von Wüsten und Einöden? Sie werden ein sehr harter Mann, Herr Benjoin, seit Sie mit Ihrer Tonleiter umgehen. – Und doch versichert man, die Musik mache liebenswürdiger,« fiel Herr Boudinette ein, » emollit mores! ... Ich möchte noch um ein wenig Ochsenziemer bitten; er ist vorzüglich. – Aeußerst zart. – Köstlich.«

Während dieses Concerts von Lobeserhebungen über den Ochsenziemer beobachtet Leonie, zwischen einem leeren Couvert und Herrn Benjoin sitzend, tiefes Schweigen und begnügt sich, durch Verbeugungen zu danken, wenn man ihr etwas anbietet. Das junge Mädchen langweilt sich, denn sie hat Niemand von ihrem Alter und ihrem Geschlecht, mit dem sie über jene unbedeutenden Gegenstände schwatzen könnte, welche zuweilen ein Lächeln hervorrufen.

Madame Dupré allein könnte sich mit Leonien verstehen, allein die junge Nachbarin ist am andern Ende der Tafel, und was gibt es Traurigeres, als ein großes Mahl ohne Mitgäste, die uns gefallen, oder sonst eine liebenswürdige Nachbarschaft? wie lang, wie ewigdauernd erscheint es uns! Wie sehr wünscht man seinen Platz am Kamin und seine zwar minder reichlich versehene Tafel zurück, vor der man aber lachen, seinen Gefühlen freien Lauf lassen, oder nach Belieben einsilbig und mürrisch sein kann.

Endlich kommt man an den Nachtisch. Herr Dupré, die Unmacht seiner Bemühungen zur Aufheiterung der Gesellschaft einsehend, nimmt sich die Mühe nicht mehr, nach Wortspielen zu haschen und Herr Formerey ruft, nachdem er seine Kinnladen tüchtig in Bewegung gesetzt hatte, aus: »Sie sehen, Madame Darville, wir haben sehr wohl daran gethan, nicht auf Ihren Herrn Sohn zu warten. – Wahr, ich gestehe,« erwidert die Mama, sich in die Lippen beißend. »Doch versichere ich Sie, es beunruhigt mich, und wenn er diesen Abend nicht noch kommt, lasse ich mich morgen in aller Frühe erkundigen, ob er nicht krank ist.«

»Ei nein! krank ist er nicht,« ruft Herr Boudinette dazwischen; »es wird irgend eine lustige Partie dahinter stecken, und das hat ihn verhindert, zu Mamachen zu kommen! was Teufel! wir kennen das, wir Männer.«

»Ihre Vermuthungen sind grundfalsch, Herr Boudinette,« versetzt Madame Darville etwas bitter. »Karl macht keine lustigen Partien! er ist ein wohlerzogener junger Mann ... das bitte ich zu glauben.«

»Ei! mein Gott, Base,« fiel Madame Bringuet ein, »möchten Sie nicht gar glauben machen. Ihr Sohn sei ein Cato ... das wäre, ein trauriges Lob für ihn. Wir hatten einen Oberlieutenant, welcher der aufrichtigste Taugenichts war. Er machte allen Frauenzimmern den Hof. Im Scherze sagte ich manchmal zu ihm: Mein Oberlieutenant, Sie sind ein großes Ungeheuer! ... Erinnerst Du Dich, Bringuet? – Ja, ja. – Nun gut, das hinderte ihn nicht, eine prächtige Heirath zu machen ... – Ja, im Norden. – Nein, nein, ich spreche von der Heirath des Oberlieutenants. – Nun ja! er verheirathete sich im Norden.«

Madame Darville, wie es schien, ziemlich mißvergnügt über das, was man von ihrem Sohne dachte, erhebt sich von der Tafel, gibt das Zeichen zur Rückkehr in den Salon, wo der Kaffee die Gäste erwartet. Ein neuer Genuß für die Feinschmecker, für Leonie jedoch nur ein Dekorationswechsel, ohne daß das Stück belustigender wäre, und ehe der Kaffee getrunken ist und einige Kartenpartien arrangirt sind, an welchen Leonie ebenfalls keinen Theil nehmen wird, muß man sich immer hübsch steif auf dem Stuhle halten und seine Langweile verbergen.


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