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Roman eines jungen Mannes
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XXVIII

Josua fühlte seit einigen Tage Stiche im Rücken, in den Hüften und in den Schultern. Er hustete, hatte keinen Appetit, wurde plötzlich heiser und empfand schon nach einigen Schritten eine bleierne Müdigkeit in den Kniegelenken, die sich bald über den ganzen Körper verbreitete und ihm jede Lust zum Arbeiten benahm.

Er setzte sich unlustig in ein Café, las gelangweilt zwei Dutzend Zeitungen und hatte, ehe er sich versah, kalte Beine und einen glühheißen Kopf, als ob er Grog getrunken hätte. Dabei war es eine einfache Melange gewesen. Er zahlte und dachte: verdammt, da hast du dir eine schöne Influenza geholt. Wie ist das bloß möglich bei dem warmen Augustwetter?

Er beschloß, einen Arzt aufzusuchen, nahm aber, da die Müdigkeit ihn wieder überfiel, ein Auto. Vielleicht wäre es doch besser, wenn er einen Spezialisten für innere Krankheiten konsultierte. Er nannte dem Chauffeur die Klinik von Professor K.

Im Auto wurde ihm besser. Ein leises Fieber überwallte ihn zärtlich und er glaubte, über die Straßen sanft zu fliegen. Das Auto berührte gar nicht den Asphalt. Wie schön! Wie schön! Wo hast du dieses Gefühl im Rücken schon einmal gehabt?

Als Junge von neun Jahren turnte er mit einigen Kameraden im Garten eines Freundes am Reck. Es war ein blauer Maitag, der 17. Mai. Frau Triebolick feierte zu Hause Geburtstag. Immer höher steckten sie die Stange, immer höher, bis sie auf den obersten Sprossen lag.

»Paßt auf,« sagte Josua, »jetzt mache ich den Riesenschwung.«

Sie jauchzten. Er schwang sich empor. Und mit einem verließ die Kraft seine zarten Handgelenke. Platt auf den Rücken wie ein klammer Maikäfer fiel er in den Sand. Da lag er nun und starrte in den Himmel, empfand gar keine Schmerzen, konnte aber nicht aufstehen, wie gelähmt lag er und eine süße Müdigkeit kitzelte ihm leise den Rücken.

»Mir san da«, sagte der Chauffeur.

Josua schrak empor und zahlte. Er trat hinter das schmiedeeiserne Gitter, das die im Landhausstil erbaute Klinik von der Straße trennte. Als er die Treppe hochstieg, schwindelte ihm.

Eine Schwester nahm seine Karte und führte ihn in das Wartezimmer.

Er saß in einem ledernen Klubsessel, seine Übelkeit war wie weggeblasen.

War das denn alles nur Einbildung? sagte er sich. Du bist doch überhaupt nicht krank.

Zudem trat der Professor ein, ein junger, schlanker, braunbärtiger Mann mit goldener Brille über klugen, grauen Augen.

»Bitte ...« Er lud Josua ins Ordinationszimmer.

»Worüber haben Sie zu klagen?«

Josua berichtete.

»Bitte, entkleiden Sie sich.«

Er klopfte mit den Fingern, wie man etwa an eine Tür pocht und horchte mit einem kleinen Schlauch, der sich wie ein Polyp an den Körper saugte.

»Wir werden Sie mit Röntgenstrahlen durchleuchten.«

Der Assistenzarzt verdunkelte das Zimmer.

Josuas Oberkörper wurde durch zwei milchgläserne Platten gespannt. Dann flammte es auf wie im Kinematographen. Josua war das Bild.

»Links oben bedeutende Veränderungen ... auch rechts oben ... und rechts unten ...«

Während sich Josua ankleidete, holte der Professor zu einer längeren Rede aus:

»Sie könnten sich auch hier behandeln lassen, es hat aber keinen Sinn mit Halbheiten zu beginnen, die keinen sicheren Erfolg gewährleisten. Es handelt sich bei Ihnen im Anschluß an eine von Ihnen wohl gar nicht bemerkte Rippenfellentzündung um eine tuberkulöse Affektion beider Lungen, von denen die linke ziemlich weit vorgeschritten ist, die rechte Spuren von Kavernenbildung zeigt. Ich rate Ihnen, gehen Sie nach Arosa oder Gardone und überwintern Sie da.

Fahren Sie, wenn möglich, morgen oder übermorgen. Ihr Zustand ist ernster als Sie glauben.«


Viel ruhiger als er gekommen war, ging Josua die Treppe hinab.

»Du bist also«, sagte er sich, »schwindsüchtig«.

Sein Blick begegnete einem hübschen Mädchen.

»Schwindsüchtig«, sagte er laut und blickte dabei das Mädchen fröhlich an. Die wurde rot und böse und murmelte so etwas wie »Aff« vor sich hin.

»Allerdings,« sagte er, »Affe: da haben Sie recht. Affen werden sehr leicht schwindsüchtig in unserem Klima. Also bin ich ein Affe.«

Als er durch die Straße bummelte, leicht, von der Last des Erdentages plötzlich befreit, wunderte er sich. Er wunderte sich über alles, was er sah. Die Patina der Frauentürme glänzte heute noch einmal so blank und grün. Die Trambahnen leuchteten hellblau, als seien sie mit Himmel angestrichen. Die Schaufenster waren betörend geschmackvoll dekoriert – und, Gott, was gab es heute für schöne Mädchen in München? So viele habe ich in drei Jahren zusammen nicht gesehen. Aber wenn ihr mich verhöhnen wollt, weil ich schwindsüchtig bin, schwindsüchtig, dann sollt ihr mal sehen, dann ergeht es euch schlecht. Er fuhr mit der Trambahn nach Hause.

»Packen,« schrie er seiner Wirtin zu, »packen! Ich fahre morgen früh acht Uhr zehn. Ich fliehe über die Grenze! Gegen die Sterne zu! Sie wissen ja, Frau Then, was ich brauche. Also, bitt schön, seien Sie so gut. Den japanischen Bastkoffer und den kleinen Reisekorb. Und für ein halbes Jahr.«

Dann fiel ihm ein: Wo bekommst du das Geld her?

Du brauchst doch Geld. Er stürmte drei Freunden, vier Redaktionen und einem Verlag in die Bude. Als er seine Brieftasche nachher zählte, ergaben sich immerhin zwölfhundert Mark. Das reichte vorläufig.

Der Abend senkte dämmernd seine blauen Schleier über die Stadt. In ihr blitzten die elektrischen Lampen wie sehr große Spinnen auf.

Erst einmal vernünftig essen.

»Marie,« sagte er, zur Marie in der Torggelstube, »Marie, wissen Sie was? Ich bin schwindsüchtig!«

Sie bekam einen Lachkrampf.

»Was Sie für ein komisches Gesicht machen!«

»Ja«, sagte er und lachte ebenfalls. »Nicht wahr, es ist lachhaft! – Also einen Liter Tiroler Hügel und das Hochzeitssouper zu zwei fünfzig! Dalli!«

– Wehmütig stieß er den Rauch der Zigarette zur Decke empor:

Du meine Königin ... du meine Queen ... nun muß ich dich entthronen. Nun wirst du wer weiß wie lange nicht mehr in meinem Herzen residieren. Du milde Beherrscherin meiner erregten Phantasie. Lebe wohl, dein Andenken wird in Ehren bleiben! Wenn du bloß nicht immer so teuer gewesen wärest. Dein Preis, das war das einzig Fatale an dir (wie an so mancher Frau).

Ein Kärntnerlied vor sich hinsummend, trieb er durch die Straßen.

Mei Muatta sehgets gern, ich sollt a Geischtler wern,
Soll die Dearndl lassen, des wär ihr Begehr,
Mei Muatta folg i net, a Geischtler werdi net
Und die Dearndl laß i erscht recht net.
Nein, die Dearndl laß i erseht recht net, heut noch net.

In der Kaufingerstraße war Hochsaison: Lodenhüte, Lodenmäntel, Lodenfrauen, Lodenmänner, Lodenkinder, Bergstock und genagelte Schuhe.

Josua wandte zufällig sein Auge auf den Augustinerstock, wo die Reklametafeln prangen. Da promenierte in graugrünem Regenmantel, mit bloßem Kopf und Schneckenfrisur eine weibliche Person. Sie biegt in die dunkle Augustinergasse ein.

Josua zieht den Hut. »Darf ich Sie begleiten, Fräulein?« Sie schürzt verächtlich die Lippen.

Josua wurde grob. »Es ist nicht meine Schuld, daß ich Sie angesprochen habe.«

Sie gibt kleinlaut bei: »Vielleicht.«

»Nein, nicht vielleicht, sondern gewiß. Warum haben Sie denn immer herübergeglotzt?«

»Glotzen,« lachte sie, »was ist das für ein Ausdruck. Bin ich ein Karpfen?«

»Nein, aber ein Paradiesfisch.«

»Wirklich?«

»Sie tragen ja eine Tracht unter Ihrem Regenmantel?«

»Ja, es ist ein Berchtesgadner Kostüm.«

»Sind Sie aus Berchtesgaden?«

»Nein, aber aus der Gegend. Aus der Gegend von Salzburg. Ich bin eine Bauerntochter.«

»Deshalb weht es um Sie wie Landluft.«

»Soll das ein Kompliment sein?«

»Natürlich.«

»Aber ich bin eine Jüdin.«

»Das ist ja kurios – ein Jude und Grundbesitz! Jüdische Bauern – gibt es so etwas überhaupt?«

»Wie Sie sehen, aber ich bin schon wieder entartet. – Was meinen Sie, daß ich bin?«

Er sah auf ihre Schneckenfrisur und sagte:

»Schwabingerin ... Malerin!«

»Sind Sie klug – aber was noch?«

»Schön sind Sie noch, sehr schön!«

»Und?«

»Nun?«

»Verheiratet!«

»Sieh mal einer an! So jung und schon so verdorben!«

»Aber ich liege in Scheidung.«

»Das entschuldigt manches.«

»Mein Mann hat zweimal nach mir geschossen, eine Kugel ist in die Brust, eine übers Auge gegangen. Die übers Auge war Gott sei Dank ein Streifschuß. Sehen Sie!«

Sie zeigte eine kleine Narbe über den Augenbrauen.

»Kann ich die andere Narbe nicht auch sehen?«

Sie lachte.

Ein warmer brauner Blick streifte ihn.

»Wollen wir tanzen?«

»O ja, tanzen. Im Treffler ist Tanz.«

Sie tanzten im Treffler jeden Tanz. Ob ich einen Blutsturz bekomme? dachte Josua.

In einer Pause nahmen sie einen offenen Wagen und fuhren durch die Kaufingerstraße, hart an der Bordschwelle, damit man die Leute beobachten konnte.

Josua hörte seinen Namen rufen. Ein junger Mann sprang in großen Sätzen hinter dem Wagen drein.

»Kolk«, rief er. Er gab dem Kutscher das Signal, zu halten. Kolk stieg ein. Er begrüßte Mimi und sprach dann französisch:

»Ich wollte dir nur mitteilen: Ruth ist krank.«

»Ich bin auch krank,« sagte Josua, »morgen fahre ich nach Arosa oder Gardone.«

»Ruth hat versucht, sich am Chinesischen Turm zu vergiften, mit irgend einem ihr gleichgültigen Kerl. Deinetwegen. Der Kerl ist tot. Sie liegt im Krankenhaus links der Isar. Scheint gerettet.«

Josua hatte keine Lust mehr zu tanzen. Sie fuhren in die holländische Teestube. Sie tranken drei Flaschen Schwedenpunsch. Dann nahmen sie ein Auto. In der Luisenstraße setzten sie Kolk ab, der, tief betrunken, mit Mimi ein Rendezvous für die nächsten Tage lallend verabredete.

»Willst du Ruth nicht noch vor deiner Abreise besuchen?« fragte Kolk und nahm alle seine Gedanken zusammen.

»Ich habe keine Zeit mehr. Ich bin ebenso krank wie sie. Schlimmstenfalls sehen wir uns im Himmel wieder. Ich meine: Ruth und ich.«

Mimi gab dem Chauffeur ihre Adresse.

Josua sah durch die Fenster des Autos, an die das Dunkel wie mit nassen Tüchern klatschte.

Mimi erwartete ein Wort von ihm.

Josua schwieg.

Kurz vor ihrer Wohnung sagte sie gequält: »Wenn es Ihnen recht ist ... fahren wir zu Ihnen.«

»Bitte schön –«

Zehn Minuten später küßte er die Narbe an ihrer Brust. Dieser da hat man eine Kugel in den Leib geschossen – Ruth hat sich vergiften wollen, wo ist der Unterschied?


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