Klabund
Roman eines jungen Mannes
Klabund

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Sie zogen zu dreien die Landstraße: Jim, Totengräber in Ferien; Kolk, Kunstmaler und ehemaliger Fremdenlegionär, und Josua.

Der Frühling duftete braun aus der feuchten Scholle. Tief hing der rosaverdämmernde Abendhimmel auf die Wanderer herab.

Ludwigsburg, die Stadt mit den blauen Schieferdächern, lag seit drei Stunden hinter und unter ihnen. Die Wälder und Hügel Thüringens stiegen vor ihnen auf. Sie gedachten, sich quer durch Thüringen und nach Erfurt herüberzuschlagen.

Jim holte eine Mundharmonika aus der Tasche und blies. Kolk sang mit einem etwas rostigen Bariton dazu:

Wenn der Schnee tropft von den Scheunen
Und die Wanzen ferne lauern,
Dann beginnen wir zu streunen,
Schlafen nachts beim Bauern ...

Er sang nur diese Strophe und fiel unversehens in seinen bei der Legion gelernten Lieblingsgassenhauer:

Si vous avez aimé,
Vous aimerez encore ...

Die Straße machte eine scharfe Biegung – steil und feindselig reckte sich vor ihnen ein scharfer Felsen. Und auf dem Felsen wuchs, ein Stück Natur, altes Gemäuer, und ein Turm wölbte sich schief wie eine Eiche am Abgrund, und es schien, als wolle er jeden Augenblick in die Tiefe kippen.

»Die Rotenburg!« sagte Jim und sah hinauf.

Oben aus dem Turm blinkte ein kleines gelbes Feuer, wie von einer altmodischen, lange nicht geputzten Petroleumlampe.

»Wir könnten in der Rotenburg die Nacht bleiben«, sagte Kolk und blinzelte listig zu Josua.

Josua war dem Spaß nicht abgeneigt.

Jim versuchte mit seiner Mundharmonika einen Fanfarenstoß anzudeuten, der sie der Schloßherrin melden sollte ... Josua erinnerte sich, was man ihnen in Ludwigsburg über die Herrin von Rotenburg erzählt hatte. In der Destille. Zwischen zwei Schnäpsen und einem Rülpser.

In ihrer Jugend verliebte sie sich in einen Tischlergesellen, der auf die Burg kam, irgend eine Ausbesserung vorzunehmen. Sie lief ihm nach. Sie warf sich ihm zu Füßen. Aber der Tischlergeselle stieß sie von sich. Er haßte die Gräfin aus dem Grunde seines verbitterten Proletarierherzens. Es war damals die Zeit, als allenthalben Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokraten in Aussicht standen.

Die Gräfin kehrte auf die Burg ihrer Väter zurück. Ihre Eltern starben kurz nacheinander. Sie war die einzige Tochter. Jetzt hauste sie oben in dem verfallenen Gemäuer unter Efeu und wildem Wein, selbst eine Ruine, legendenumsponnen, mit einem sagenhaft alten Diener und Kastellan. Nie ging sie unter Menschen. Aber ihr Schloß stand gastlich jedem Wanderer und Vagabunden offen ...

»Ich glaube, es geht hier zwischen den beiden Tannen empor«, sagte Kolk.

Nach einer Viertelstunde hielten sie vor einem hölzernen, eisenbeschlagenen Tor, das zwischen zwei kleinen dicken Seitentürmen eingelassen war.

Josua klopfte mit seinem Stock (mit seinem Schwert) dreimal feierlich an die Tür, wie man es in Ritterromanen gelesen hat. Jim blies dazu auf der Mundharmonika seine Fanfare.

Drinnen klapperte ein Schlüsselbund. Ein Schlüssel knirschte im Schloß. Eine Stimme brummte:

»Wer seid ihr?«

»Ehrwürdiger Vater,« gab Josua Bescheid, »wir sind vornehme Granden aus Sevilla in Spanien und gekommen, um die Hand Eurer erlauchten, schönen und tugendsamen Herrin anzuhalten ...«

Der Schlüssel drehte sich noch einmal herum, das Tor klappte auf – und ein Revolver modernster Konstruktion blitzte ihnen entgegen, während der Schein einer elektrischen Taschenlampe ihnen blendend ins Gesicht fuhr.

»Verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich Sie mit diesem Schießzeug belästige,« brummte wieder die alte, zitternde Stimme (und auch der Revolver zitterte in altersschwächlicher Hand), »aber es gibt so viel Gesindel auf der Landstraße. Man muß sich vorsehen. Wollen Sie bitte Ihre Waffen ablegen? Hier herrscht Burgfrieden ...«

Josua legte seinen Stock, Kolk seinen Schlagring, Jim seine alte Reiterpistole, die er einmal in einem städtischen Museum gestohlen hatte, auf die Schwelle des Burgtores nieder.

Der alte Kastellan schwankte vor ihnen her.

»Der Tisch ist gedeckt, das Mahl ist bereitet. Ich werde Ihre Hoheit benachrichtigen.«

Sie gelangten in einen mit roten Backsteinen gepflasterten Vorraum zu ebener Erde, dann links über eine eiserne Wendeltreppe in den ersten Stock und in den Speisesaal, wo ein Kronleuchter über einem mit Brot, kaltem Fleisch und Wein bestellten länglichen Tische brannte. Den Fenstern gegenüber stand ein schön geschnitzter Lehnsessel – der einzige Stuhl im Zimmer – und über dem Sessel an der Wand hing das von ungeübter Hand gemalte Ölporträt eines jungen blondlockigen Menschen.

Sie standen neugierig, ein wenig hungrig, ein wenig verlegen vor der recht bürgerlich und gar nicht gräflich hergerichteten Tafel. Kolk wollte schon mit den Händen nach einem Stück kalten Schweinebraten langen, als plötzlich eine hohe, in weißen Atlas gekleidete Frau wie durch die Wand ins Zimmer schwebte.

Sie war sehr schlank. Krankhaft schlank. Ihre Gesichtsfarbe spielte ins Silbergrünliche. Auf roten, vollen Haaren lag ein Myrthenkranz.

Sie schwebte auf den Sessel zu, ließ sich graziös darin nieder und hob die Hand:

»Mit Vergnügen und tiefer Genugtuung habe ich vernommen, daß wieder einige Herren erlauchter und vornehmer Abkunft nicht die Unbill einer mühseligen Reise, noch die Unsicherheit ihrer Sehnsucht in Hinsicht auf ihre Erfüllung gescheut haben, um persönlich meiner weit gerühmten Schönheit Tribut und Ehrfurcht zu zollen.

Ich bin die Gräfin Anette von Rotenburg und stehe im zwanzigsten Jahre und im Zenith meines Lebens. Wer sind Sie, meine Herren?«

»Edle Gräfin,« hub Josua zu sprechen an, »wir sind die heiligen drei Könige aus Nirgendland.

Wir haben keine Heimat, wir haben kein Geld.

Wir schlafen des Nachts auf freiem Feld ...«

»Meine Herren,« erwiderte sie leise lächelnd, »Ihre Vermögensverhältnisse scheinen nicht gerade glänzend zu sein. Aber das tut nichts. Ich selber bin reich, sehr reich. Ich sehe bei meinen Freiern mehr auf Charakter und Sinn für trautes Familienleben. – Aber Sie sind gewiß hungrig? Greifen Sie zu!«

Stehend sättigten sie sich an kaltem Fleisch und trockenem Brot. Es gab nicht einmal Butter.

Roten Wein schenkte ihnen die Gräfin selbst aus einer Karaffe in Blumenvasen ein.

Darauf nahm Jim das Wort, indem er seine Blumenvase an die Lippen führte:

»Gestatten Sie mir, gnädigste Gräfin, auf Ihr spezielles geschätztes Wohl zu trinken. Ich bin Totengräber, auch Leichenwäscher von Beruf. Wie Sie dasitzen, Hoheit, in weißem Atlaskleid, den Myrthenkranz im Haar, würden Sie die schönste Leiche geben, die ich mein Lebtag gesehen habe.«

Die Rührung übermannte Jim.

»Ach,« sagte die Gräfin mit weicher, trauriger Stimme, »Sie haben nicht so unrecht. Wenn ich nicht schon tot wäre, würde ich gewiß lieber heute als morgen sterben mögen. Aber ich habe mich gut konserviert. Soll ich Ihnen das Mittel verraten, das mir das ewige Leben verbürgt? Es ist ein Hausmittel ...« Sie beugte sich über den Tisch: »Die ewige Brautschaft ... Ja, ja,« nickte sie bestätigend, »ich bedauere, Ihre ernstgemeinte Werbung, die mich sehr ehrt, leider abschlagen zu müssen.«

Sie lächelte glückselig.

»Ich bin bereits verlobt. Mit einem Tischlergesellen.« Sie stand auf, neigte sanft die bleiche Stirn gegen das blondlockige Bild an der Wand und war verschwunden.

Sie schliefen die Nacht sehr schlecht. Oben im Turm war ihr Lager. Der Wind zauste ihnen im Schlaf die Haare. Einmal glaubte Josua, die weiße Dame besuchte ihn hier oben.

Aber es war nur der Mond, der aus den Wolken trat. Am nächsten Morgen, die Sonne vergoldete eben die Turmspitze, brachen sie auf. Sie ließen sich durch den Kastellan, der ihnen eine Suppe kochte, der Gräfin untertänigst und mit Dank empfehlen. Dann schritten sie rüstig bergab.

Sie sprachen wohl eine Stunde lang kein Wort, bis Josua leise und wie für sich zu summen begann:

Si vous avez aimé, Vous aimerez encore ...


 << zurück weiter >>