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Roman eines jungen Mannes
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XXI

Lustschloß Hellbrunn bei Salzburg, das einst Erzbischof Markus Sittikus zu Zeiten des seligen Rokoko für seine Geliebte, die schöne Frau von Mahon hat erbauen lassen und das heutigen Tages seiner neckischen Wasserkünste und seines holden Parkes wegen viel von traum- und gedankenlosen Touristen heimgesucht wird, war am Samstag, den 5. Juli, gegen sechs Uhr abends, der Schauplatz einer seltenen Szene.

Durch das Laub der Bäume blinkte nach grauem, regnerischem Tage ein leise orangener Himmel – als die Felsen des Steintheaters im hinteren Teil des Parkes gelegen, sich plötzlich mit bunten mystischen Gestalten bevölkerten.

Sanfte Flötentöne bezwangen die Stille. Satyros, ein haariger häßlicher Waldteufel, der sich bei einem Sturz von den Felsen verwundet hatte und von einem Einsiedler gütig und hilfreich aufgenommen worden war, ließ sie lockend ertönen.

Da wehen zwischen den Felsen, hellrot und hellblau, zwei Gewänder auf. Zwei Mädchen nahen. Süß dringt die Melodie, die der Wald selber zu singen scheint, ihnen zu Ohren. Erschrocken setzen sie die Krüge zu Boden und Psyche, die helle, rote, von unerklärlicher Macht näher getrieben, sinkt dem entzückten Waldteufel entzückt in die Arme. »Er ist ein Gott«, seufzt sie unter Küssen. Und wie eine Torheit erst von einem begangen zu werden braucht, um gleich dutzende, hunderte, tausende Nachäffer zu finden: so auch hier. Das ganze Volk, von Psyche verzaubert, von den Dithyramben des Satyrs behext, stürzt seine alten Götter und deren Hüter, den braven Einsiedler, und erhebt den Waldteufel zum Haupt- und Obergott. Erst sein widerliches und gar nicht göttliches Benehmen einer gewissen, hochgestellten Dame gegenüber, öffnet dem Volk die Augen und läßt den braven Einsiedler und damit die alten Götter und die Vernunft wieder zu Wort und Ehren kommen. Der entthronte Satyr flieht in die Wildnis zurück. Psyche, bisher eine unbescholtene Jungfrau, in die fremde Haut- und Seelenfarbe des Waldteufels vernarrt, folgt ihm ins Ungewisse. –

Goethes 1773 geschriebener »Satyros oder der vergötterte Waldteufel« erlebte im Steintheater von Hellbrunn (einem nur aus Felsen in Waldesmitte gebildeten Naturtheater) eine rühmlichst gelungene Aufführung. Die Aufführung fand anläßlich einer Exkursion des Münchener Literarhistorikers und Privatdozenten Dr. Arthur Bodenlos und seines Seminares statt. Die Darsteller, die sich ihrer Aufgabe mit Hingabe und Geschick entledigten, setzten sich aus Mitgliedern des Seminars zusammen. Einzelne schauspielerische Leistungen in den Hauptrollen (besonders Josua Triebolick als Satyros) waren vortrefflich.

Das dankenswerte Experiment, die starren Felsen des Steintheaters mit den heiteren und klaren Geschöpfen der Goetheschen Ironie, die sich im Satyros oft genug zur Lyrik aufschwingt, zu beleben, hat sich als äußerst lohnend erwiesen. Und dies scheint mir der triftigste Beweis dafür: wir vergaßen völlig, daß es sich im Satyros nach der literarhistorischen Auffassung um einen Literaturulk, um eine Persiflage Herders handelt – wir sahen Farben, Felsen, Menschen, wir spürten Rhythmen, Seelen, Geschicke, wir hatten den Himmel über uns, wir hörten Goethe.


Nachher saßen sie im großen Saal des Peterskellers, tranken gelben Tiroler, der wie bitterer Honig die Kehle herunterglitt und der Bruder Kellermeister machte ihnen seine Reverenz. Mit einem dicken, redlich gütigen Gesicht, wie es die Heiligen auf den Bildern Veroneses haben, stand er in schwarzem Überwurf an dem einen Ende der Tafel, hielt die Hand verlegen um die Stuhllehne gepreßt und versuchte eine Rede zu halten.

»Meine lieben, jungen Freunde,« sagte er – und wie er das sagte, schien es, als glänze ihm der Heiligenschein jeglichen Alters um die Stirne, »meine lieben, jungen Freunde«, sagte er zum zweiten Male – und diesmal machte er eine Verbeugung, äußerlich vor der Tafel, innerlich vor sich selbst und seiner Jugend. »Meine lieben Gäste, sie leben hoch, hoch, hoch ...« Er hob das Glas, donnernd dankte ihm ein studentischer Gruß: die Genagelten klapperten auf dem Holzboden.

Später rezitierte der Bruder Kellermeister, welcher einmal hatte Schauspieler werden wollen, Schillers Glocke. Josua ging hinaus aus dem Peterskeller, um Psyche zu suchen. Er ging links durch einen Torbogen, klinkte und befand sich auf dem Kirchhof. Sturmregen trieb das Dunkel knatternd in schweren, nassen, schwarzen Tüchern ihm um die Stirn.

Er sah zu den Katakomben, zu den Steinhöhlen, die an Ahnung und Geschichte reich, von den triefenden Felsen blinkten.

Wer hat einst in euch gewohnt? Ihr? Vor Tausenden von Jahren? Einer wie ich? Mit brennenden Augen, mit zitternden Händen, mit steinernem Herzen? Wenn die Sonne früh in eure Felsen stieg: ihr nanntet sie Gott und hobt die Arme. Sklaven ihres Lichtes. Sklave ihres Lichtes auch ich. Blauer Rauch von geopferten Lämmern und jungen Ziegenböcken glomm die Himmelsleiter empor und ... verdunkelte euren Gott. Wußtet ihr, daß ihr mit eures Opfers Rauch die Sonne, eueren Gott verdunkeltet?

Mein Schöpfer, da Er mich schuf, vererbte seine Einsamkeit auf mich. Er dachte sich in der Einsamkeit seiner Qualen und in der Qual seiner Einsamkeit mich zum Genossen, daß ich Ihm jagen und tragen helfe. Ich ward – und ward einsam wie Er. Uns ist der Schwur der Schweigsamkeit auf die Lippen gebunden. Ich erkenne Ihn nicht, und wenn ich Ihn höre, höre ich sein Schweigen.

Ich erinnere mich seiner nicht – doch meine Erinnerung tastet nach ihm wie ein Kind im Dunkeln nach der Mutterhand.

Josua saß rücklings auf einem Grabstein.

Hier ruht in Frieden Martin Huber, K. K. Eisenbahnbetriebsassistent.

Ich reite durch die Welt.

Horizont nach Horizont versinkt hinter meinem rasenden Gaul. Ich schwinge mein Schwert und es leuchtet, als trüge ich eine Flamme in der Hand.

Mir ist's, ich sah sie schon einmal auf einem Scheiterhaufen züngeln. Wo ist der Feind?

– Hinter dem Kirchhof, aus einem Holzhause brach ein rotes Licht auf – wie eine Wunde. Es fiel schräg über eine Holzbalustrade, über die – zum Trocknen? es regnete doch – karrierte Betten hingen.

Wenn ich mich selbst opferte, wem nützte es? Würde ich nicht mit dem Opfer meinen Gott verdunkeln?

Das Licht in dem Holzhaus hinter der Kirche wuchs, marschierte und kam aus der Türe. Eine Stimme, die im Dunkeln lag, sprach: »Ist jemand da?«

Josua erhob sich vom Grabstein.

»Willst du zu mir?« fragte die Stimme.

»Ja«, sagt Josua. »Welch süße Stimme! Sie hing in meiner Kindheit klingend wie eine Gebetsglocke. Wenn sie klang, mußte ich beten.«

»Du mußt über die Mauer klettern. Die Pforte ist schon geschlossen.«

Josua schwang sich über die Mauer und stand unterhalb der Katakomben in einer engen schmutzigen Gasse, die vielleicht aus drei, vier zweistöckigen Holzhäusern bestand. Er suchte in dem ersten nach einer Türe. Sie ging von selbst auf: »Komm!«

Über knarrende Holzstiegen stolperte er über eine zu hohe Schwelle in ein Zimmer. Innen brannte eine abgeblendete, grüne Lampe. Es war sehr warm im Zimmer. Er unterschied ein Bett, ein abgenutztes Sofa, Tisch, Stuhl und das Bild von Kaiser Franz. Über Kaiser Franz hing – sein eigenes Bild – eine durchschossene Silhouette – er selbst – Er erbleichte bis in die Haarwurzeln und hielt ihre Hand. »Ruth!«

»Josua ...«

Schlank stand sie vor ihm, in einem dünnen grünen Gazekleidchen, fast ein Knabe. Um ihre Augen lagen schwarze Schatten und violette Ringe.

Sie streichelte seine Augenbrauen.

»Wie jung du noch bist!« sagte sie zärtlich. »Wie lange ist es her, daß ich dein Bubengesicht nicht mehr gesehen habe. Und einen Schnurrbart hast du auch noch nicht.«

»Er will nicht wachsen«, lachte er.

Sie streichelte seine Wangen: »Und solche feste Haut hast du noch.«

»Ich treibe Gesichtsmassage«, lachte er.

»Nein?!« Und nun lachte sie auch. »Das glaube ich nicht.«

»Erzähle«, sagte er.

»Nein, erzähle du ...«

»Ich brauche nicht zu erzählen, Ruth ... Sieh in meine Augen ... Wie du immer in sie gesehen hast ... Du siehst mein Schicksal. Ich bin immer derselbe ... und immer dasselbe ... ich kann mich nicht verändern. Aber du hast dich verändert ...?«

»Du hast recht«, sagte sie und ihre Stimme durchschnitt wie mit Messern den Raum. »Du bleibst immer derselbe. Bist deiner immer gewiß. Immer noch glänzest du rot und dunkel, aber klar und durchsichtig wie ein Rubin. Im Ringe meiner Erinnerung trug ich dich. Ein Zauberring war es durch diesen Stein. Drehte ich an ihm, war die Welt auf einmal rot vor Blut und Sonne. Deinetwegen bin ich diesen Weg gegangen, auf dem du mich jetzt triffst. Damals, als du von mir gingst, gingst du ohne Wort, ohne Kuß. Niemals schriebst du. Ich begrub dich in mir, aber du warst scheintot und sprengtest den Sarg. Immer hob ich meine Lippen nach deinem roten Munde, Rubin – aber du warst mir nur als Stein gegenwärtig. Weißt du, daß du an mir schuldig geworden bist, Lieber?«

»Schuldig?«

»Schuldig. Wahrscheinlich ist es die einzige Schuld deines Lebens, die du auf dich ludest, als du mich ... unschuldig ließest. Du glaubtest, deinem Herzen ein Opfer zu bringen, aber du opfertest der Tradition und den schlechten Instinkten einer schlechten Kinderstube. Ich verfluchte meine Unschuld.«

»Sie war mir ein Symbol.«

»Ich weiß: aber Symbole bedeuten den Schwächlingen Ausflüchte ihrer Handlungen.«

»Ich war nie schwach.«

»Aber du hattest deinen schwachen Augenblick, da du mich zurückstießest, als ich mich dir ... anbot.«

Josua saß auf der Bettlehne. Und ihm schien, als säße er noch immer unten auf dem Grabstein.

»Ich war für die Tochter eines Mathematikprofessors ein recht ungewöhnliches Mädchen. Aber so viel Mathematik war mir doch vererbt im Blute, daß ich, bevor ich mich auf die sogenannte abschüssige Bahn begab – und ich tat es mit Vorsicht und Vorbedacht – erst mein Lehrerinexamen machte ... mit Note eins.«

Josua fragte:

»Hältst du das Lehrerinexamen unbedingt erforderlich für den Beruf einer Lehrerin der Liebe?«

Sie lächelte.

»Nun – wenigstens sollte man in der Pädagogik nicht ganz unbewandert sein.

»Und nach dem Examen?«

»... ging ich nach Hamburg.«

»Was wolltest du in Hamburg?«

»Dich suchen. Ich habe in allen Männern nur dich gesucht.«

»Und warst du glücklich im Suchen?«

»Nein – nie fand ich dich. Nun, da ich dich gefunden habe – wann werde ich dich verlieren?«

»Niemals ... wir sind uns zu sehr verbunden ... durch den Ring mit dem Rubin ... Wie kommst du hierher?«

»Von Budapest ... freiwillig ... Aus dem vornehmsten Etablissement, wo die Bürgerfamilien mit ihren Töchtern nachmittags Kaffee trinken, um schöne nackte Frauen tanzen zu sehen – oh, tanzen durfte ich wenigstens – hierher in dieses Loch, wo nur Soldat und Arbeiter mich besuchen.«

Josua stand auf.

»Ich nehme dich mit nach München.«

»Du?«

»Kommst du gleich mit?«

Sie erschrak.

»Sprich nicht so laut. Nicht heute. Morgen früh gehe ich einholen auf den Markt. Da werde ich ihnen entwischen. Wann geht der Schnellzug nach München?«

»Zehn Uhr acht.«

»Bin ich am Bahnhof.«

Er gab ihr die Hand.

Sie behielt sie verlegen in der ihren.

»Du?«

»Und?«

»Hast du nicht drei Kronen? Die Frau hat gehört, daß ein Mann bei mir war. Ich muß ihr das Geld geben.«

Er kramte in seinem Portemonnaie und fand zwei Kronen sechzig.

Sie lächelte.

»Das ist etwas wenig.«

»Ich habe noch ein paar Briefmarken.« Er griff in die Westentasche. »Summa drei Kronen dreißig. Die dreißig Heller sind für dich.«

»Danke ... Soll ich leuchten?«


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