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Roman eines jungen Mannes
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XX

Nachdem Josua noch mit Mühe ein paar Kragen hineingestopft hatte, ließ er die Handtasche zuschnappen und hielt einen Augenblick inne. Sollte er wirklich zu ihrer silbernen Hochzeit fahren, sich aus dem seelig gemessenen Lauf seines Lebens zu einer Aufregung emporreißen lassen, die in seiner Phantasie schreckliche Bilder und Düfte annahm? Was verband ihn noch mit denen da oben? Die da oben – einzeln oder anders nannte er sie überhaupt nicht, immer nur dachte er sie sich massig zum Kollektivbegriff geballt. Er erinnerte sich, daß Herr Triebolick ihn als Kind einmal beinahe totgeschlagen hätte, weil er ein Zehnpfennigstück verschluckt hatte. Die Hochachtung vor der alleinigen Macht des Geldes war ihm eingeprügelt worden. Die Folge: er stahl es später aus der Ladenkasse, weil er ja sonst nicht zu ihm kommen konnte. Ein Gefühl nachträglicher, kindlicher Freude betörte ihn noch jetzt, indem er berechnete, daß er auf diese als unehrlich verschrieene Weise den unsympathischen alten Mann um einige hundert Mark hatte kränken können. Warum er Herrn Triebolick nur immer als alten Mann sah? So alt konnte er doch noch gar nicht sein. Vielleicht fünfzig. Mehr aber sicher nicht. Plötzlich verschwand Herr Triebolick vor den Blicken seiner Phantasie, ein Schleier senkte sich über ihn wie bei Verwandlungsszenen in einem schlechten Provinztheater – und als der Schleier wieder hochging, war aus der dicken Gestalt des Herrn Triebolick der Marienkirchturm seiner Heimat geworden. Dunkel stand er da, schwarz, von den Zeiten verräuchert und auf seinem Haupte blühte grüne Patina. Und ein Duft erhob sich zugleich um Josua, gräserfrisch, wasserklar, waldig, vom Ostwind getragen. Das war der Duft der Aue, der meilenlangen Wiese am Strom.

Da sagte Josua: »Ich fahre.«

Auf dem Bahnhof der kleinen Stadt wurde gebaut. Unterführungen, Überdachungen, Anschlußgleise. Haufen von gelbem Sand lagen herum. Loren rollten heran und warfen schwere Erdlasten unwillig von sich, Arbeiter hämmerten und stemmten schwere rote Eisenträger.

»Die Bahn nach Logau wird im Herbst fertig,« sagte der Hoteldiener, der Josuas Koffer trug und sein Interesse für die Bahnbauten beobachtete, »sie kürzt für die Herren Geschäftsreisenden den Weg nach Breslau bedeutend ab.« Josua stieg in den alten, mit verschlissenem grünem Samt ausgelegten Hotelomnibus und ließ sich die zwanzig Minuten bis zum Hotel auf dem schlechten Pflaster – Katzenköpfe hießen die dafür verwendeten Steine – halb krank rütteln.

Oh wie schön, die lange schattige Kastanienallee, die nach der Stadt führte, bestand noch!

Der Wagen fuhr über die Elisenbrücke. Da lag rechts die Aue. Josua spürte ihren feuchten Atem bis in den Wagen hinein. Die Logauerstraße, die Hauptgeschäftsstraße wurde durchrumpelt. Nun ratterte das Gefährt über den Markt und ließ da und dort Fenster aufspringen, aus denen neugierig weiße und bunte Blusen leuchteten.

Das Hotel, erstes und einziges ersten Ranges am hiesigen Platze, war erreicht. Die Hotelglocke schrillte und ein kleiner, flinker Oberkellner schwebte wie ein schwarzer Pudel aus dem Portal, um die Wagentüre zu öffnen.

Josua bestellte ein Zimmer.

»Der Herr sind Geschäftsreisender?«

»Jawohl,« sagte Josua, »für eine Zementfabrik in Ungarn,« und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf.

Er sah noch, wie Oberkellner und Hotelier die Köpfe zusammensteckten.

Erkannte der Hotelier ihn wieder? Dem hatte er einmal als Knabe eine Fensterscheibe mit einem Stein eingeworfen, weil auf ihr eine Spinne saß, die er töten wollte.

Josua wusch sich, sah nach der Uhr und machte sich auf den Weg nach der elterlichen Wohnung. So kam er gerade zur Polterabendmahlzeit zurecht. Er hatte nur ein paar Schritte zu gehen, da flammte ihm ein himbeerrot angestrichenes zweistöckiges Haus entgegen. Vorn in der Mitte wucherte auf dem Himbeerrot wie schwarzes Geschwür der efeuumrankte Balkon. Links und rechts vom Balkon las man in goldenen Lettern: Drogerie von Axel F. Triebolick.

Mein Gott, dachte Josua, der Balkon hat eine neue Jalousie und das ganze Haus ist frisch gestrichen, was er sich die silberne Hochzeit nicht alles kosten läßt!

Josua trat in den Laden. Er hatte seine Ankunft nicht angemeldet. Herr Triebolick stand hinter der sogenannten Rezeptur, vornüber gebeugt, so daß man seinen grauen Scheitel sah. Er schüttelte aus einem weißen Standgefäß blaues Pulver in eine gelbe Düte. Beim Knarren der Ladentüre blickte er hoch.

»Ach du bist es«, sagte er. »Die anderen sind schon oben in der guten Stube beisammen. Ich habe hier nur noch zu tun.«

Er murmelte etwas Lateinisches in den Bart, während er die Düte zukniff. Es war sein ganzer Stolz, daß er noch aus jener Zeit stammte, wo die Drogisten hatten Latein lernen müssen. Wo sie etwas »Besseres« gewesen waren, denn »Latein macht besser« war eine ständige Redensart des alten Triebolick, die er in den gutgelaunten Stunden mit den wunderlichsten Argumenten belegte. Wie zum Beispiel Latein die Sprache der Gebildeten sei, wie man aus der Geschichte des Mittelalters lernen könne, und wer nicht wenigstens die botanischen Namen lateinisch beherrsche, dem sei nicht zu helfen. Die Botanik empfange ihren Wert erst durch die lateinischen Namen, wodurch sie sich als für die Drogerie brauchbar erweise.

Josua ging hinauf. An der Treppe stand seine Stiefmutter, die ihn liebte, wie ein fleischliches Kind – das Geschick hatte ihr Kinder verwehrt.

Ihr blaßes, krankes Gesicht leuchtete in hektischer Röte: »Mein Junge ...«

Sie weinte.

Sie trug ein violettgeblümtes, blaßrosa Seidenkleid, einen Myrthenkranz im Haar und sah mit ihrer kleinen zierlichen Gestalt wie ein Backfisch aus.

Das Wort Mutter wollte ihm zuerst nicht über die Lippen. Dann sagte er leise ein-, zweimal und strich über das silberweiße Haar:

»Mutter ... Mutter ...«

Zugleich aber war es ein Wehklagen in die Dämmerung nach der andern.

»Die Verwandten sind drin in der guten Stube, komm, du wirst dich freuen, sie wieder zu sehen. Berta soll dein Giebelzimmer in Ordnung bringen.«

»Ich schlafe im Hotel.«

»Das darfst du nicht, Junge!« Sie war erschrocken. »Was sollen die Leute denken?«

»Gut, Mutti, ich bleibe hier.«

Im Salon stand die ganze Verwandtschaft in malerischer Überflüssigkeit um die Gaben- und Eßtische gruppiert. Eine Schüssel mit Häringsalat und eine Gänseleberpastete fand eifrigen Zuspruch. Onkel Paul saß in einer stillen Ecke, hatte drei leere und eine angebrochene Flasche Rotwein vor sich stehen und fraß Wienertorte. Er war Diabetiker, sein Gelüsten nach Torte krankhaft. In einer Ecke wie ein Gemälde von Hodler die fünf Hollunderschen Tanten, hager, die Körper verzerrt, die Hände verzückt verschränkt, reformgekleidet. Auch Herr und Frau Pastor Kockegei aus Köln am Rhein waren vertreten. Dieselben, die Josua als eine mißratene Frucht betrachteten und unwürdig, den Namen Triebolick zu führen. Als sie ihm beim letzten Weihnachtsfest einen »Weihnachtskalender für die christliche Jugend« zuschickten, den Pastor Kockegei herausgab, war ihnen als Antwort »Lehren und Sprüche von Oskar Wilde« mit folgender Widmung zugegangen: Nach einem guten Mittagessen ist man geneigt, allen seinen Feinden zu verzeihen, selbst seinen Verwandten. Ich habe heute gut zu Mittag gegessen. Josua.

Sie haßten Josua wegen seines freien Blickes und begrüßten ihn kalt und zurückhaltend.

Trotz der Obstruktion der Verwandten hing Frau Toni Triebolick an Josuas Arm. Herr Triebolick kam vom Geschäfte herauf. Man schritt zum Essen. Im braungetäfelten Wohnzimmer, wo der Einsiedler von Böcklin hing, in Öl gemalt von Frau Pastor Kockegei, war eine lange, freundliche Tafel gedeckt. Mit Blumenschmuck und dreierlei Wein, wie sich's gehört. Onkel Paul, den der Tatterich und seine Kurzsichtigkeit plagte, schenkte sich den Wein statt ins Glas, in den Suppenteller, was allgemeine wohltemperierte Heiterkeit erregte. Später erhob er sich zu einer aus- und abschweifenden Rede.

Josua hatte seinen Platz neben einer hübschen Kusine aus Marburg, die in Hessentracht auf dem Feste erschienen war.

Diese Tracht verlieh ihr ebenfalls etwas Absonderliches und enthob sie der Gesellschaft, so daß sich Josua und Dörte gut zusammenfanden.

Sie sahen sich in die Augen, lachten, und die Rede Onkel Pauls plätscherte spurlos an ihnen vorüber.

Nach dem Essen, er fühlte seinen Kopf schwer werden, ging Josua ein paar Schritte allein spazieren. Er überquerte den Markt, sah, wie die Leute erwartungsvoll an den Türen standen, hörte fern gedämpfte Musik, sah roten Fackelschein um die Ecke glimmen. Die Feuerwehr und die Schützengilde brachten ihrem allverehrten Branddirektor und Schützenmeister Herrn Triebolick zur Feier seiner silbernen Hochzeit einen Fackelzug und Zapfenstreich.

Schritte dröhnten, die Straßen marschierten, Pauken erklangen, Fackeln flammten um ihn, und er fühlte sich mit in den Rhythmus gerissen, marschierte mit im Zuge zu Ehren seines Vaters. Eine Träne blinzelte an seinen Lidern. Ruhm! Ruhm und Liebe.

Der kleine zerknitterte Mann genoß und empfing beides, unbewußt, wie ein kleiner Imperator.

Die Kolonne schwenkte und hielt vor Triebolicks Haus. Die Fackeln brannten still. Die Musik setzte aus, dann brach sie rauschend los: Ich bete an die Macht der Liebe. Josua sah hinauf zum ersten Stock und sah wie sein Vater inmitten des Hofstaates der Verwandten auf den Balkon trat und sich verneigte.

Josua glaubte, so ein ähnliches Bild schon einmal in der »Woche« betrachtet zu haben.

Er wunderte sich ... Frau Triebolick fehlte ... aber nun trat auch sie auf den Balkon, widerstrebend von den fünf eifrigen Hollunderschen Tanten, ihren Schwestern gezogen.

Josua traf auf der Treppe die Deputation der Schützen und Feuerwehrleute, die einen Klubsessel und einen Regulator keuchend die steile Treppe heraufschleppten. Der Regulator bockte und schlug wohlklingend zwölf Uhr – was die Feuerwehrleute zwang, anzuhalten und ihn sich ausschlagen zu lassen.

Die Gesangsabteilung der freiwilligen Feuerwehr drängte sich im Entrée und schmetterte: Das Lieben bringt große Freud' ...

Drinnen im Eßzimmer wogten die Gäste. Mitten drin stand Herr Triebolick, felsig, stolz betroffen, klug gerührt. Sichtbar von ihm getrennt, distanzbetonend, Frau Triebolick.

»Hoch das Jubelpaar ... Hoch ... Hoch ...«

Josua ging müde hinauf in sein Zimmer. Er traf oben auf dem zweiten Flur im Dunkeln die kleine Hessin und küßte sie zerstreut.

Er zog sich aus und der Wachskerze nachträumend, die angenehm weihnachtliche Düfte im Zimmer verbreitete, bedachte er, wie lange es her sei, daß er diesen engen Raum bewohnt.

Nur fünf Jahre. Wie war der Raum gewachsen, wie war er selbst gewachsen und hatte ihn durchbrochen, bis sich der Himmel über ihm wölbte. Kein Dach mehr, kein Haus, keine Heimat, kein Vater, keine Mutter – nur Himmel, Himmel, Himmel.

– Es klopfte. Er fuhr aus dem Halbschlaf empor.

»Wer da?«

Es klopfte dringender.

»Etwa die Hessin? Das törichte kleine Mädel?«

Er sprang mit bloßen Füßen aus dem Bett und öffnete ... Da stand seine Mutter draußen, frierend, zitternd, nur mit einer Nachtjacke bekleidet.

Er nahm sie auf seine Arme und trug sie in sein Bett. »Was ist mit dir, Mutter ... kann ich dir helfen ... bist du krank?«

Sie wimmerte, pfiff wie eine Maus in höchster Not.

»Laß mich bei dir bleiben die Nacht ... Ich friere so ... Ich will mich bei dir wärmen ... Laß mich bei dir schlafen ... Fünfundzwanzig Jahre habe ich mit ihm geschlafen ... Und ich kann nicht mehr ... Einmal nur möchte ich bei mir sein ... bei mir ... Und wo bin ich mehr bei mir ... als bei dir? Josua, mein Junge ... Mein ... Junge ...«

Ein Weinkrampf schüttelte sie.

Er saß am Bett. Und saß noch, als sie sich in den Schlaf geweint hatte und die Kerze heruntergebrannt war.

Vielleicht ... dachte er, vielleicht ... ist diese da doch meine Mutter ... Sie hat gelitten, wie nur meine Mutter leiden könnte ...

– Am nächsten Tage fuhr Josua nach München, wo er sein Leben fortan zuzubringen gedachte. Er wollte sich mit Klaus dort treffen. Frau Triebolick begleitete ihn zur Bahn. In aller Frühe. Er fuhr mit dem Sechsuhrzug.


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