Klabund
Roman eines jungen Mannes
Klabund

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXII

Josua sagte zu Ruth, daß er seit vier Tagen mit Ausnahme einiger halbverbrannter Maronen, die ihm eine schmutzige Straßenitalienerin schenkte, nichts gegessen habe und daß es doch so nicht weitergehen könne. Sie sagte, sie hätte ihm doch erst gestern zwanzig Pfennige gegeben. Er sagte, für zehn Pfennige hätte er Semmeln gekauft, aber da wäre er in den Englischen Garten gekommen an den See, wo es so wunderlich im Frühfrühling zu sehen ist, wenn die Enten über die schmelzende Eisdecke tappen und bei jedem zweiten Tapp durchbrechen. Er habe die Hälfte des Brotes den Enten gegeben und die andere einem kleinen Bologneser Hunde, namens Nina, der auch zufällig des Weges kam und den er von früher kenne. Denn er kenne auch ihre Herrin, die heiße Pia und sei italienischen Geblütes, blühend wie eine schwarze Dolde. Ihr Mann ist Hauptmann bei den Türken. Heute aber zog Nina mit der Zofe spazieren. Cenzi Karendl heißt die Zofe und hatte Nina an eine feste Leine gebunden. Trotzdem kreischte sie immer: da gehst her, da gehst her, damisches Viecherl. Nina sprang nicht wie sonst an seine Knie. Traurig sah sie ihn aus rosablauen Augen an.

Ruth behauptete, er müsse doch außerdem noch zehn Pfennige haben. Er sagte: nein, denn die letzten zehn Pfennige hätte er an der Personenwaage am Chinesischen Turm ausgegeben, um zu wissen, wie viel er wiege.

»Ich habe die letzten Wochen zwölf Pfund abgenommen.«

Ruth lachte.

Josua lachte.

Sie ergriff seine Hand, drehte sie um, daß der Handteller nach oben aufgeklappt war und schickte ein paar flüchtige Blicke darüber, wie Vögel über das Feld fliegen, um verborgene Körner zu suchen.

»Du wirst doch noch ein Mörder,« sagte sie, »hier stehts. Aber ich muß es mir jeden Tag von neuem ansehen. Du erwürgst noch mal jemand.«

Er seufzte lächelnd: »Dich vielleicht?«

»Oh, ich!«

Dann küßte sie ihn auf den Mund. Und ging. Sekundenlang noch schmeckte er ihre Lippen in der Luft. –

Nach drei Stunden erst kam sie wieder. Er wartete währenddessen auf einer Bank in der Leopoldstraße beim Siegestor. Auf dem Siegestor die Silhouette der Göttin tauchte plötzlich in die segnende Gestalt Jesu Christi unter.

»Du,« sagte er, »Bruder Jesus, wenn du mich segnest, warum segnest du mich vergeblich? Hilf mir doch!«

Da kam Ruth. Und sie lachte schon von weitem. Ihr Lachen flatterte vorauf. Er wollte traurig werden, aber das Lachen besänftigte ihn, schmeichelte und schnurrte wie eine Katze.

»Oh wie reich wir jetzt sind!«

Ihre Zähne blickten böse aus dem Munde. Es hatte eine ekelhafte Zunge an ihnen geleckt und gelegen.

Sie hakte sich ein. Die Sonne schien ihm hell auf die Stirn. Er warf seine Mütze seitwärts in die Anlagen.

»Oh, warum?«

»Laß,« er streichelte ihre Hand (die Hand, an der die Geldtasche baumelte: in unbewußter Verknüpfung), »ich brauche keine Mütze. Jetzt kommt der Sommer. Sie war auch gar nicht mehr elegant.«

»Junge«, sie lachte. »Elegant und du und Sommer, was du für Ausdrücke hast! Jetzt ist März und es wird wieder schneien und du wirfst deine Mütze fort. Die elegante Mütze.«

Sie sah auf seine Füße:

»Weißt du, was du haben müßtest? Ein Paar neue Schuhe! – Auto«, rief sie ... »Auto.«

»Aber so ein Blödsinn, Ruth!«

Sie verschloß ihm den Mund mit ihrer Hand:

»Still!«

Sie stiegen ein und fuhren zu einem Schuhgeschäft. Sie suchte die Schuhe aus und warf siebenundzwanzig Kartons durcheinander. Er wollte ein Paar dauerhafte Marschstiefel. Aber Ruth war wie verrückt, streichelte seine Füße, die in schmutzigen Strümpfen steckten, und sagte: »Lackschuhe brauchst du, ganz und gar aus Lack.«

Die Verkäuferin blinzelte verlegen und der Geschäftsführer hustete vor Ärger. Denn sonst waren im Geschäfte lauter gut und vornehm gekleidete Leute.

Er zog die Lackschuhe natürlich gleich an. Sie gingen hinaus. Die Dame an der Kasse kicherte. Josua wollte sie ohrfeigen.

»Laß«, sagte Ruth.

Auf der Straße schenkte er seine alten Schuhe der ersten besten Apfelsinenhändlerin. Dafür bekam er ein Dutzend feinster Messinablutorangen und Ruth ein Schock speichelfließende Komplimente über ihre Schönheit. Sie ist sehr schön. Niemand anders würde schön bleiben bei ihrem Leben. Sie darf es. Jeden Tag stellt sie sich wie eine Blume in frisches Wasser. Deshalb blüht sie immer frisch.

Einen Augenblick vergaß er, daß sie Geld hatten und sagte: »Verdammt, wenn ich wenigstens zwölf Pfennige hätte für ein Viertelpfund Kräuterprinten. Ein Saufraß. Aber es reicht zwei Tage.«

Sie jubelte.

»Hundert Mark, hundert Mark, davon kann man Jahre lang leben.«

»Wieviel hast du denn noch?« fragte er mißtrauisch.

Sie zählte: »Eins, zwei, fünf, sieben Goldstücke.«

Sie gingen in ein kleines italienisches Weinrestaurant am Gärtnerplatz, aßen Thunfisch in Öl, Kalbfleisch und Risotto und soffen roten Veroneser, bis sie nicht mehr konnten.

Dann nahmen sie ein Auto und fuhren nach dem Bahnhof und lösten zwei Billette erster Klasse nach Starnberg.

Da sah er seit zwei Jahren zum erstenmal wieder die silberne Kette des Gebirges, blauduftig, mit zarten, leuchtenden Spitzen in den Horizont gewebt.

»Sonne,« schrie er, »Sonne! Himmel! Berge! Wasser! See! Sonne!«

Und sprang von der Landungsbrücke, wie er war, in allen Kleidern, mit einem Kopfsprung ins kalte Wasser.

Ruth erschrak und schrie, denn sie dachte, er wäre so betrunken von dem Veroneser, daß er gleich ertränke.

Aber er schwamm vor ihr dreimal im Kreise ... wie der Paradiesfisch vor seinem Weibchen, prunkend, augenglitzernd. Dann stieg er an Land. Lachend. Triefend. Zitternd vor Kälte und Trunkenheit.

Im Hotel wollte er ins Bett kriechen und ließ die Kleider trocknen. Kaum war der Hausbursche aus dem Zimmer, da riß er auch das Hemd vom Leib und zog sie an seine nackte, feuchte Brust.

»Mörder«, küßte sie ihn. »Du, siehst du, nun ist der Frühling wieder da.«


 << zurück weiter >>