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Roman eines jungen Mannes
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X

Unter den kerzengeraden, kahlen Pappeln, die den höher auf einem Damm gelegenen Fußweg von der Chaussee trennten, wartete Josua.

Ein warmer, sonniger Vorfrühlingstag. An den rauhen, braunen Zweigen blickten mit kleinen verwunderten Augen grüne winzige Schößlinge und rötliche Knospen. Auf dem Teiche zur Linken des Fahrweges patschten zwei, drei Enten über die dünne Eisfläche. Ein leichter Tauwind wehte. Weißseidene Wolken raschelten unhörbar wie schöne Frauen über den blaßblauen Himmel. Und ließen, ehe sie am Horizont verschwanden, noch einmal winkend und schwenkend die Schleier wehen.

Der Geflügelhändler Matterhorn, der zum Markte fuhr und dessen rumpeliger Planwagen die Chaussee entlang polterte (Josua erkannte ihn nicht), zeigte mit dem Peitschenstiel in die Höhe und drückte mühselig aus seinen Lippen, die durch eine kurze Pfeife anderweitig in Anspruch genommen waren, die Worte heraus:

»Das is'n Tag, was?«

Josua nickte.

Er sah nach der Stadt zurück über Wiesen und Weidenbüsche, ob er die Uhr am Kirchturm erkennen könne. Der wuchs scharf und sicher in der dunstigen Luft. Neben ihm die breite gotische Fassade des Rathauses und weiter im Hintergrunde links auf einem Hügel die dicke Kuppel des Wasserturmes.

Die gußeisernen grauen Bogen der Eisenbahnbrücke, die die Wiesenfläche durchschnitten, glänzten in der Sonne mattsilbern.

Josua zog die Taschenuhr: die flache, goldene mit den Initialen seines Namens, ein Geschenk des Herrn Triebolick zu seiner Konfirmation.

Zehn Minuten vor drei.

Noch zehn Minuten.

Er nahm seinen Gang wieder auf.

Auf wen wartete er?

Was wollte er von ihr? Weshalb war er jetzt, mitten im Semester, wieder in diese Stadt gereist?

Er schrieb ihr Briefe, täglich, war unglücklich, wenn sie nicht gleich antwortete, stammelte die wahnwitzigsten und verliebtesten Schmeicheleien und gewagtesten Wünsche in seinen Briefen aus – und wenn er vor ihr stand, konnte er nicht reden –, wenigstens nicht von dem, was ihm die Seele schmerzend bewegte.

Nie hatte er mit eigenem Munde zu ihr von seiner Liebe gesprochen, nur Boten hatte er ihr geschickt: Schwarze willkürliche Buchstaben, die auf dem weißen Papier kapriziöse Huldigungstänze vor der Geliebten aufführten: wie junge zahme Füchse, die plötzlich in die Freiheit gelassen, zu wilden Katzen werden, die sie ja ihrer Natur nach sind. Wie geschah es, daß er ihre schöne Güte nur in ihrer Abwesenheit zu genießen verstand? Daß er stumm und betreten umherstierte und ein lästiges Gefühl ihm die Kehle zuschnürte, sobald er ihre gar zu körperliche Nähe spürte?

Er erschrak.

Er hatte dieses Gefühl doch nicht bei anderen Frauen.

Und auch sie redet frei und ungezwungen nur in ihren Briefen. Allein ihre Augen suchten einander und fanden in ihren Blicken eine quälerische, freche Wollust.

Und dann wieder der Zweifel an der Liebe und die lächerliche Selbstverhöhnung. Unabsichtlich fügten sie einander die heftigsten Wunden zu. Obgleich sie gar nicht kämpften.

Einmal schenkte ihr Josua seine Silhouette, die war von mehreren Terzerolschüssen durchbohrt, denn sie hatten Scheiben nach ihr geschossen.

Sie weinte, denn sie sah ein Sinnbild seines Wesens in der durchschossenen Silhouette.


Josua wurde unruhig. Hatte es noch nicht drei geschlagen? Er lauschte in die vom Summen der fernen elektrischen Bahn durchbrochene Stille.

Als er sich umwandte, stand eine Frau vor ihm. Im Kattunrock und wollener schottischer Bluse, wie sie einfache Arbeiter- und Handwerkerfrauen tragen. Am linken Arm hing ihr ein mittelgroßer zugedeckter Korb. Sie war in der Stadt einholen gewesen. Ihr junges frisches Gesicht wurde durch eine verkrüppelte Nase entstellt. Sie öffnete den langen, schmalen Mund:

»Na, junger Herr?«

Josua fragte sich, was sie wolle und weshalb sie ihn anspreche, schwieg aber und verfolgte aufmerksam den gelben Damm bis zur Stadt, ob er Ruths zarten prüfenden Gang noch nicht entdecke.

Die Frau bewegte den Kopf wie ein wiederkäuender Papagei und zupfte an ihren Kleidern.

»Mei Mann is nicht zu Hause, junger Herr. Er is Arbeiter in der Gasanstalt. Und wir wohnen hier draußen am Judenkirchhof.«

Josua forschte unwillkürlich nach der roten Mauer des Kirchhofes, sie mußte hinter jenen Tannen liegen.

Plötzlich sah er in die feuchten, glitschigen Augen des jungen Weibes.

»Morgen«, sagte er stumpf und tonlos. »Morgen um dieselbe Zeit bin ich hier. Heute nicht.«

Die Frau ging.

Zwischen den Pappeln in der Ferne sprühte ein weißer Fleck auf, der langsam näher tanzte. Jetzt unterschied man ihren Hut, jetzt ihre Füße, jetzt ihre großen, blauen Augen. Josua fing ihre Blicke und lief ihr erregt entgegen.

»Wir wollen bitte unseren Spaziergang lassen«, stieß er hastig hervor und gab ihr die Hand.

Sie hielt seine Hand in ihrer Hand und betrachtete sie aufmerksam.

»Auch ich habe solche Angst ...« sagte sie.

Dann gingen sie zusammen zur Stadt zurück.

Er war erschüttert.

Heute abend oder morgen früh reise ich ab, dachte er. Werde ich sie noch lieben? Werde ich sie noch einmal wiedersehen?


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