Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Das große Ereignis

In einer Hinterstube des »Alten Dessauer« saßen drei Personen in eifriger Beratung: der Engländer, der Haushälter Johann und Kurt. Kurt war offenbar der Führer und Sprecher der ganzen Gesellschaft. Er erstattete Bericht.

»Die Wolken türmen sich über ihm, die Schlinge zieht sich zusammen, er kann uns nicht mehr entrinnen.«

»Nein,« sagte der Engländer etwas sarkastisch, »Zuerst uerden er erschlagt von Blitz, dann uerden er aufgehängt an Schlingel, so kann er nicht mehr entrennen.«

»Das war nur bildlich, Mister Cogham,« sagte Kurt etwas ärgerlich, »wenn Sie einmal in der Sekunda eines deutschen Gymnasiums gesessen hätten, würden Sie wissen, daß man das Metaphern nennt. Doch zur Sache. Ich fasse die Indizien noch einmal zusammen:

ad 1. Er heißt wahrscheinlich gar nicht Graf Luwowsky, sondern hat bereits mehrere Namen geführt. Die eine Art seiner Taschentücher und Leibwäsche trägt zwar ein großes ›L‹ mit einer Grafenkrone darüber, aber es sind noch vier andere Arten von Wäscheauszeichnungen da. Als mir das Stubenmädchen das mitteilte, überzeugte ich mich erst von der Richtigkeit dieser Tatsache und dann warf ich das Auge meines Verdachtes auf den Grafen.«

»Beg pardon!« unterbrach der Engländer. »Uie machen Sie das, uenn Sie ein Auge werfen?«

»Das ist eine Metapher, Mister Cogham!«

»Well! Ich uerde nicht mehr unterbrechen. Ich halten silence

Kurt fuhr fort:

»Als ich nun ein Zigarettenetui fand, das der Graf auf dem Speisezimmertische liegen gelassen hatte und das statt dem ›L‹ mit der Grafenkrone ein ›v. B.‹ mit der Freiherrenkrone aufwies, verschärfte sich mein Verdacht.«

»Verstehe! Hingeschmissenes Auge des Verdachtes, kriegt jetzt noch verschärferte Brille! Ah so – silence.« –

ad 2. »Das waren,« fuhr Kurt stolz fort, »sozusagen die Prämissen. Jetzt kommt die Hauptsache. Nach dem Einbruch im Brucknerschen Hause waren mein Bruder Richard, meine Tante Julia und vor allen Dingen meine von mir hochgeschätzte Kusine Irene in der ausgeplünderten Wohnung anwesend, dazu noch Hauspersonal. Da erschien Graf Luwowsky. Er hatte einen verbundenen Kopf und erzählte, er sei nachts gegen 11 Uhr auf dem Heimwege nach dem ›Dessauer‹ von Straßenbanditen angefallen und verwundet worden. Ich stellte sofort bei unserem Nachtportier fest, daß Graf Luwowsky erst morgens gegen 5 Uhr im Hotel erschienen war und daß da sein Kopf unverletzt gewesen sei.«

»Thunderstorm! Das sein allerdings eine ausgezeichnete Metapher! –«

ad. 3. »Ein Hausmädchen bei Bruckners hatte erklärt, der eine der Räuber habe hinter dem rechten Ohre eine rote Warze gehabt. Darauf richtete ich nun mein Augenmerk. Ich war überzeugt, daß die Warze jetzt nicht mehr da war, da dem Grafen der prüfende Blick des Hausmädchens wahrscheinlich aufgefallen war und er das verdächtigende Indizium schleunigst entfernen wollte.«

»Ein Verbrecher mit roter Warze hinterm Ohr sein ein Unding.«

»Verbrecher sind oft unbegreiflich unvorsichtig,« verkündete Kurt aus dem Wissensschatze seiner kriminalistischen Studien. »Wie kann ein Mann wie Luwowsky verschieden gezeichnete Wäsche mit sich führen, wie konnte er eine silberne Zigarettendose liegen lassen, die nicht sein wahres Monogramm trug? O, er hat sich eben zu sicher gefühlt. Er hat nicht geglaubt, daß ein kriminalistisch geübtes Auge ihn auf Schritt und Tritt beobachtet.«

»Kriminalistisch geübtes Auge ist yours

»Ja.«

»Das was Sie haben geworfen, oder das andere?«

Da sagte Kurt erzürnt:

»Nun sprechen Sie weiter, Mister Cogham; ich verliere den Faden, wenn Sie mich beständig unterbrechen.«

»O beg pardon. Ich halten silence. All very interesting!«

Da fuhr Kurt fort:

»Der Warze mußte ich auf den Grund kommen.«

Der Engländer unterbrach schon wieder.

»Der Uarze auf den Grund kommen? Sein das Metapher, Mister Kurt, oder heißt das Uarze ausschneiden?«

»Ausschneiden! Es ist hier in der Nähe ein sogenanntes kosmetisches Institut, da werden abstehende Ohren angeklappt, Sommersprossen und Mitesser entfernt, Damenschnurrbärte und zusammengewachsene Augenbrauen beseitigt, schiefsitzende Nasen gerade gerichtet, fast kein Mensch besitzt eine ganz vorschriftsmäßige sitzende Nase, vor allen Dingen aber lästige Warzen entfernt. Gestern ging ich in der Maske eines Bäckerjungen dem Grafen nach und siehe da, der Graf ging wirklich in das kosmetische Institut. Ich wartete, bis er herauskam und sich entfernt hatte, dann ging ich in den Laden, dessen Devise ›Corriger la nature‹ auf gleicher moralischer Höhe steht wie das Lessingsche ›Corriger la fortune‹, und stellte da fest, daß ein Freiherr von Berner, der irgendwo in der Nähe wohne, sich habe eine Warze hinter dem rechten Ohre entfernen lassen.«

Der Engländer fragte aufgeregt:

»Warum hat man das dem Bäckerjungen verraten?«

»Weil ich sagte, ich käme im Auftrage des Herrn Hauptportier des ›Dessauer‹ mit der vertraulichen Voranfrage, ob vielleicht was zu gegenseitigem Vorteil zu machen sei, wenn der Herr Hauptportier in Frage kommende Kunden ins ›Kosmetische Institut‹ schicke. Der Herr Hauptportier könne sich in seiner würdigen Stellung nicht exponieren und deswegen sei eine vorsichtige Anfrage, die übrigens für beide Teile ganz unverbindlich sei, nötig. Sie hätten sehen sollen, wie diese Hechte auf den Köder anbissen. Darauf wurde ich stolz, was sonst nicht meine Art ist, und fragte: ›Meine Herren, was können Sie mir für eine Referenz mitgeben?‹ Sie beeilten sich, einen ganzen Packen schmutziger, sogenannter Dankbriefe heranzuschleppen. Ich lehnte deren Lektüre ab, sagte, noch viel weniger könne sich mein Chef mit der Lesung so umfangreicher Manuskripte beschäftigen. Sie sollten mir einen einzigen ganz prägnanten Fall aus der allerletzten Zeit ihrer Praxis mitteilen. Da nannten sie den Freiherrn von Berner, eben herausgegangen aus dem Geschäft, als es bei St. Magdalenen 10 Uhr schlug. Ob der Fall schwierig gewesen sei, fragte ich. Nein, nur eine Warze hinter'm rechten Ohr. Ob es weh getan hätte, die Heilung langwierig sei? Keine Spur! In zwei Tagen würde man nicht einmal mehr einen roten Fleck sehen. Daß der Herr Baron immer noch eine Kopfbinde trage, sei übertriebene Vorsicht. Nun, ich wußte genug, versprach, den Herrn Hauptportier zur Konferenz zu schicken, und empfahl mich.«

»Sie sein ein splendid Detektiv. Sherlock Holmes wird noch im Grabe erbleichen aus Neid und Erstaunen über Ihnen. Splendid, splendid! Und was soll nun geschehen?«

Sie saßen zusammen und nahmen Kurts Pläne ohne Abänderung an.

»Oh, oh, er sein noch so jung wie kleiner Fuchs, aber er sein durchgetrieben wie alter Jagdhund.«

Kurts Plan war so genau ausgearbeitet, so auf Rolle, Geste, Wort, Miene, Sekunde, Schritt und Tritt sorgfältig vorbereitet wie ein von einem guten Regisseur einstudiertes Theaterstück. – – – –

Von sieben Uhr abends an las Graf Luwowsky in der Hotelhalle die Abendblätter. Er war wie jeden Abend um diese Zeit sehr einfach, ganz unauffällig gekleidet. Erst wenn er gegen neun Uhr zurückkam, legte er den Gesellschaftsanzug an. Etwa um ½ 8 erschien der Engländer im Gesellschaftsanzug, stolperte etwas über die ausgestreckten Beine des Grafen, entschuldigte sich und begab sich an die nahe Portierloge.

»Bitte – Auto! Ich gehe zu eine – wie sagt man in Deutschland – zu eine evening konversation, richtig in Deutschland man sagt soirée. Also, ich gehen zu eine soirée bei englische Konsulat und hinterher noch in Klub. Ich uerden sehr spät heimkommen.«

»Bitte, Mister Cogham, rechts am Portal ist die Nachtglocke!«

»Seien Sie selbst die Nachtportier, das öffnet?«

»Ja, Mister Cogham.«

»Well! Wenn Sie sein die Nachtportier, dann I wish you a very good nightrest for to day and for ever!«

Mister Cogham fuhr davon und einige Minuten später stand Graf Luwowsky auf und verließ das Hotel. Er nahm keinen Wagen. Die Halle war leer. Da trat Kurt an den Nachtportier und sagte:

»Der erste Akt ist glücklich beendet.«

Eine halbe Stunde später trat Kurt in das Zimmer des Engländers. Der stand in Unterbeinkleidern da.

Kurt lachte:

»Wie amüsieren Sie sich auf der Soiree des Konsulats, Mister Cogham?«

»Ooh – very well. Nur es sein sehr hitzig im Saal, muß ein bißchen in Hemdsärmel schlüpfen. Sein er fort? Ich kam durch Rückwärtstür zurück.«

»Ja, er ging bald nach Ihnen.«

»Mister Kurt, ich haben einen stark verschärfertes Auge auf eine schwachen Punkt in unsere Kriegsplan geschleudert. Nämlich, wenn der Graf hier bei mir einbrechert und ich brülle, dann wird er auf Bett schießen. Im Bett liege ich. Haben Sie kugelsichere Schlafdecken? Ich sein gar nicht feig; aber ich sein kitzlich.«

»Nein! Sie brauchen doch gar nicht im Zimmer zu bleiben, Mister Cogham. Wir beobachten ihn; sobald er mit einem Nachschlüssel Ihre Tür geöffnet hat, stürzen wir uns gemeinsam auf ihn und nehmen ihn fest.«

»No, no! Ich uill sein reell überfallen und reell beschossen. Sonst macht mir nicht richtigen Effekt und Laune. Ich habe guten Plan. Uann uird er kommen?«

»Nicht vor Mitternacht. Bis dahin sind immer noch zu viel Hausangestellte auf den Fluren.«

»Gut, Sie sein gebeten, mir diskret hierher auf mein Zimmer zu bestellen my supper: kaltes ganzes Huhn, beefsteak with eggs, 3 bottles of porter, Whisky mit Soda. Mehr nicht! Es sein eine Fasten- und Abstinenzabend!«

»Das wird besorgt. Ich bediene Sie selbst; denn es muß alles sehr diskret zugehen. Wissen wir denn, ob der Halunke nicht seine Helfershelfer und Spione im Hotel hat. Mister Cogham, wenn Sie sich nun schon einen Fasten- und Abstinenzabend einlegen, möchten Sie sich nicht mit einigen Schnitten mit Wurst, Käse, Kaviar und Gänseleberpastete belegt begnügen? Die kann ich natürlich viel unauffälliger heraufbringen, als wenn ich mit einem großen Tablett mit Huhn und Beefsteak anschwirren muß.« Mister Cogham sann nach. Dann sagte er:

»Im englischen Schützengraben habe ich mich einmal zu Nacht mit zwei Eiern, drei Käseschnitten und einer einzigen Flasche Porter begnügen müssen. Das waren schwere Zeiten. Nun, ich sein einverständlich mit die frugale Mahlzeit. Ich werde hungrig und durstig mich schlafen legen bis 12. Dann werden Sie mich leise wecken. Dann krieche ich unter Bett in Unterstand für die Fall, daß er betrommelfeuert. Wenn er kommt, auf leeren Bett losschießt, schieße ich auch los. Unterm Bett hervor schieße ich auch los, wie Dogge aus unterirdischer Matratzengruft, packe ihn an Beinen, schmeiße ihn auf Schultern, dann kommt ihr, knock out!«

Kurt besorgte die frugale Doggenmahlzeit und auch noch genügend viel Alkohol nach oben und flüsterte dann händereibend dem Nachtportier zu: »Zweiter Akt geglückt!«

*

Der dritte Akt. Gespanntestes Interesse bei den wenigen Eingeweihten. Dem Grafen Luwowsky war eine böse Falle gestellt. Das hatte seinen Grund. Kurt mit seinem kriminalistischen Scharfsinn hatte festgestellt, daß immer, wenn der Graf einmal »vorübergehend« auf ein bis zwei Tage nach »auswärts« fuhr, wobei er sein Stammquartier im »Dessauer« immer behielt, nächsten Tages aus der Stadt ein frecher Hotelraub gemeldet wurde. Der Graf bewohnte zwei Zimmer. In dem einen hatte er große Koffer stehen, die alle mit den neuesten Patentverschlüssen versehen waren.

»Und das Schauerliche, Unabwendbare ereignete sich – Frau Nemesis feierte wieder einmal ihre berechtigten Triumphe, gestützt auf den Mut der Ritter der Gerechtigkeit!«

Dieses hier in Gänsefüßchen angeführte Zitat ist Kurt Bruckners kriminalistischem Tagebuch entnommen. Auch das Folgende stammt aus diesem Quellenwerk.

Als es elf Uhr war, fingen wir an zu fibrieren. Der Graf war nach Hause gekommen, hatte Abendtoilette angelegt, fürstlich gespeist und unterhielt sich dann mit einem Herrn und einer Dame, die mir sehr bald auch verdächtig vorkamen, obwohl ihr Exterrieur und ihr ganzes Auftreten beinahe an das heranreichte, was ich mir auf meiner sorgfältig geführten Beobachtungsskala von Hotelgästen als »exklusiv« vermerkt habe. Sie tranken eine ganz ausgefallene Sorte von Wein. Uralten! Seit Bismarck (bekanntlich einmal Reichskanzler von Deutschland) im »Dessauer« war, ist keine Flasche von diesem Wein (wir verfügen im ganzen über drei Flaschen) mehr getrunken worden. Für den Bismarck hat damals der Magistrat geblecht. Natürlich, wenn einer Reichskanzler ist, da ist's leicht für ihn. Da kostet es ihn nichts; da wird es ihm zum Besten gegeben. Aber die andern! Die andern, die höchst eigenhändig zahlen müssen! O weh!

Also, die Herrschaften fielen mir sehr auf. Ich wünschte sie ins Pfefferland. Es schlug schon Mitternacht, und sie saßen immer noch. Mister Cogham, den ich um dreiviertel zwölf geweckt hatte, lag nun schon längst unter seinem Bett im Unterstand oder auch als Metapher gesagt, in seinem unterirdischen Bulldoggenstall. Nun, ich hatte ihm ja langsam und vorsichtig noch sieben Brötchen, ein Fläschchen Whisky und eine Flasche Soda in seinen Schützengraben buxiert, aber immerhin, so auf dem Bauche liegen mit dem Schädel nach der Tür hin und auf einen Einbrecher zu lauern, der sich arg verspätet, das ist sicherlich unangenehm.

Endlich – endlich gingen sie. Sie mußten eine unverschämt hohe Rechnung bezahlen, und Kellner Nr. 17, der das Glück hatte, in jenem Revier zu bedienen, bekam außer den üblichen zehn Prozent fünfzig Mark Trinkgeld. Der Mann hat Glück. Er spielt schon lange mit dem Gedanken, sich eine Zweizimmerwohnung zu kaufen und zu heiraten.

Wir ließen den Grafen Luwowsky erst vollständig verschwinden, dann rüsteten wir uns zur Tat.

Das Zimmer Nr. 17, das Mister Cogham bewohnt, liegt gegenüber der Besenkammer. In diese Kammer sind nicht nur Kehrbesen, Schrupper aller Art, Aufkehrbleche, sondern auch ungeheuer viel Eimer verstaut. Das Zimmer Nr. 17 ist nach meiner Auffassung die unwirtlichste Bude in ganz Europa. Rechts und links von der Besenkammer sind die Toiletten für »Herren« und »Damen«. Morgens um fünf geht es los. Die Stubenmädel stürmen die Besenkammer. Wenn eine einen Eimer braucht, wirft sie vier andere Eimer um. Das macht ein aufweckendes Geklirr. Es sind in den Fluren Anschläge angebracht: »Die hochverehrten Gäste werden aufs höflichste ersucht, auf den Fluren die strikteste Ruhe zu bewahren.« Aber das Hauspersonal fragt sich: Sind wir etwa hochverehrte Gäste? – Nein! Wir sind Personal! Und verfährt danach.

Also, Nr. 17 ist schaurig. Da Mister Cogham ein gern gesehener und sehr guter Gast ist, hat man ihm dutzendmal ein besseres, ruhigeres Zimmer angeboten.

Vergeblich. Er sagt: Ich bleibe in der siebzehn, denn ich brauchen meine Morgenstimmung. Ich wohnte lange im Urwalde. Wenn die Affen draußen anfingen, sich zu jagen, zu beißen, zu befauchen, zu prügeln, wenn die Papageien begannen zu kreischen, wenn eine tausendfältige Tierwelt aller Art einen Mordslärm machte, dann sagte ich mir: die Nacht ist aus, der Tag beginnt. Aber da ich glücklicherweise nicht nötig habe, bei Tagesanbruch aufzustehen, so werde ich jetzt noch drei Stunden schlafen, und ich schlief noch drei Stunden geruhsam. Aber dann kam ich nach dem ledernen Europa, wo es keine Affen und Papageien gibt. Ich suchte nach Morgenlärm, damit ich doch wieder friedlich ausschlafen könne. In Berlin fand ich Morgenlärm in ausreichendem Maße. In einem Zimmer im ersten Stock, das an einer belebten Straße lag! Dort fuhren zwischen fünf und sieben Uhr an meinem hellhörigen Zimmer schätzungsweise elf- bis zwölftausend Autos vorbei, die alle deutlich hupten. Da entbehrte ich den Urwald nicht. Mehr Lärm machten schließlich meine Affen, Papageien, trompetenden Elefanten und brüllenden Löwen auch nicht. Aber in diesem stillen Nest? Was soll man machen, wie soll man sich schützen vor dieser bedrückenden Morgenstille? Man zieht vis-à-vis der Besenkammer und den Klosetts! Aus Eimergeklirr und Wasserzugsrauschen mischt sich so was wie Niagarafall-Musik. Das besänftigt mich wunderbar, und ich halte meinen gewohnten Morgenschlaf. Ich habe das alles gleich notiert, als es Mister Cogham erzählt hatte. Ich bin ihm gut, denn er ist originell. Nun lag er also auf dem Bauche unter seinem Bette und lauerte auf den Grafen.

Zehn Minuten, nachdem der Graf verschwunden war, schlichen Johann und ich uns hinauf nach der Besenkammer. Alles war aufs beste vorbereitet. Nach Siebzehn hin war ein Guckloch in die Tür gebohrt, ebenso nach der rechten und linken Seite. Bei Tage waren diese Ausluge durch Zukleben mit braunem Wachs unkenntlich gemacht worden, damit das scharfe Verbrecherauge nicht etwas Verdächtiges bemerke.

Wir schlichen in die Besenkammer, zogen die Tür hinter uns zu. Da schmeißt doch der Johann, das Unglücksvieh, einen ganzen Berg Blecheimer um. Der Lärm dröhnte durchs ganze Haus. O, dieser Elefant! O, dieses Trampeltier! Ich hätte ihn am liebsten erwürgt. Nun war wohl alles dahin! Ich sah durch das Guckloch. Da öffnete sich die Tür von Nr. 17 vorsichtig. Mister Cogham kam heraus, sah sich um, kam an unsere Tür und flüsterte: »Ist es denn schon Morgen?« – »Gehen Sie auf Ihren Posten,« zischte ich wütend. Ach, das war eine traurige Polizeitruppe, die mich umgab. Es ward nun Totenstille im Hotel. Von St. Magdalenen her dröhnte die Turmuhr die Stunde ein Uhr.

Da – bald darauf – das Herz blieb mir beinahe stehen, da kam er. Er trug einen Pyjama und ging in weichen Wollschuhen gänzlich unhörbar. Erst lugte er die Haupttreppe hinab, dann ging er nach den Gängen, die von den unseren rechtwinklig abbiegen. Er hatte keinen Menschen entdeckt. Aber er öffnete noch beide Toiletten und schließlich klinkte er auch an der Tür unserer Besenkammer. Das hatte ich vorausgesehen und daher die Tür von innen abgeschlossen. Eine Gefahr bestand: er konnte unsere Gucklöcher bemerken. Aber sie waren sehr geschickt und unauffällig angebracht. Das Herz schlug mir so gewaltig, daß ich fürchtete, er werde es klopfen hören. Wir hielten beide den Atem an. Nun wandte er sich um, entnahm der linken Tasche seines Anzugs einen Revolver, entsicherte ihn, prüfte dann einige Nachschlüssel, die er aus der rechten Tasche zog, und öffnete die fremde Tür mit fabelhafter Geschicklichkeit in weniger als einer Viertelminute, dabei gänzlich geräuschlos. Jetzt war die Tür geöffnet, jetzt ging er hinein; ich hatte mindestens fünfzig Grad Fieber.

Auf einmal ein markerschütternder Schrei Mister Coghams, ein dumpfer Fall, Johann schmeißt sämtliche Blecheimer um, mit zwei Sätzen sind wir drüben.

Das Zimmer war erleuchtet, der Verbrecher hatte die Leitung angedreht. Auf dem Rücken lag der Graf, über ihm Mister Cogham. Der Verbrecher suchte Cogham abzutun, indem er sich bemühte, nach ihm zu schießen. Ich faßte die Hand, die den Revolver hielt, die Waffe ging los, eine Kugel sauste mir am Schädel vorbei. Da rückte ich etwas beiseite, ließ aber keineswegs locker. Der Graf blutete aus Mund und Nase, der »Löwe« hatte ihm wohl ein paar schaurige Kinnhaken versetzt. Unterdes war Johann auch nicht untätig; mit der pomadigen Ruhe seiner Dickhäuterstärke drückte er dem Grafen die Gurgel zu. Der schnaufte nicht lange, dann streckte er sich lang; er war leblos.

Wir erhoben uns. Anfangs dachten wir, der Graf sei tot. Mit seinen glasigen, verdrehten Augen sah er ganz so aus. Als er aber tief aufstöhnte und nach Luft schnappte, hielten wir es für angemessen, ihm die Hände und Füße zusammenzubinden.

Ich eilte ans Telephon. Die Treppe herauf kam der Nachtportier, der eingeweiht war. Ich raunte ihm zu: Dritter Akt geglückt. Er ist gefangen. Die Gäste werden aufgeschreckt sein. Beruhigen Sie die Leute. Niemand ist was zugestoßen; nur einen Einbrecher hat man gefangen.

Den Telephontext hielt ich im Manuskript in der Westentasche.

»Überfallkommando. Hier Hotel ›Alter Dessauer‹, Prinzenplatz 9 bis ll. Hoteleinbruch, ernster Kampf, Täter gefaßt, Polizeiarzt mitbringen!«

Die Sache klappte. Es kamen acht Mann mit einem Polizeiarzt.

Die Verhandlung spielte sich in Nr. 17, in Coghams Zimmer, ab. Der hatte sich auf sein Bett gelegt und die Shakpfeife angezündet. Der Graf hatte sich etwas erholt; man hatte ihm eisgekühltes Sodawasser mit Whisky aus den Vorräten Mister Coghams reichlich eingeflößt. Jetzt saß er blaß in einem Lehnstuhl; Hände und Füße waren mit starkem Bindfaden gefesselt. Es war großartig! Der Polizeiarzt sagte, etwas Bedenkliches läge nicht vor: man solle dem Grafen noch etwas Zeit zur Erholung gönnen, dann sei er vernehmungsfähig.

»Ich bin jetzt schon vernehmungsfähig. Ich verlange zunächst, daß man mir Hände und Füße freigibt. Diese Schurken haben mich gefesselt.«

Unsere schönen Schnüre und kunstvollen Knoten wurden polizeilich zerschnitten.

»Wie sind Sie in diese Lage gekommen, Herr Graf?«

»Ganz einfach: ich habe mich in der Tür geirrt. Das geschieht in allen Hotels der Welt fast jede Nacht einmal. Da bin ich von jenem wüsten Kerl, der jetzt in Anwesenheit der Polizei im Bett liegt und Pfeife raucht, überfallen und halbtot geschlagen worden. Zwei andere Strolche (er sagte wirklich so), das sind diese beiden, fielen auch über mich her und wollten mich erwürgen. Dann fesselten sie mich, wie Sie ja noch gesehen haben. Ich verlange die Verhaftung dieser drei Banditen und daß man mich endlich nach meinen Zimmern gehen läßt und mir Gelegenheit gibt, meinen Privatarzt rufen zu lassen und mich von diesem schändlichen Überfall zu erholen.«

»No!« sagte Cogham von seinem Bette aus ruhig und gelassen.

Also, so närrisch ist die Welt! Nach so einem glorreichen Räuberfang sollten wir edlen mutigen Streiter eingesperrt werden. Die Sache gestaltete sich bedrohlich.

Mister Cogham sagte nämlich aus, er habe bei dem Überfall nicht in seinem Bette, sondern unter seinem Bette gelegen und auf den Grafen gelauert, und gegenüber in der Besenkammer hätten Herr Kurt Bruckner und sein Freund Johann, beide persönlich hier anwesend, auf den Grafen gelauert.

»Habe ich es nicht gesagt?« schrie der Graf, »daß man mir aufgelauert hat? Daß man mir eine Falle gestellt hat? Ich verlange, daß ich nach meinen Zimmern entlassen werde und daß man diese geständigen Banditen, die unter dem Bett und von der Besenkammer aus einen Hotelgast belauert haben, augenblicklich verhafte. Ich berufe mich auf mein Konsulat.«

Wir wollten alle Aufklärung geben, auch der Nachtportier; aber der Herr Kommissar war viel zu ungeduldig, sich lange Geschichten anzuhören. Er erklärte, uns alle mit auf die Wache nehmen zu müssen: Mister Cogbam, Johann, den Grafen, den Nachtportier und leider auch mich.

Der Graf wehrte sich wie ein Verrückter. Vor allen Dingen wollte er nicht gestatten, daß man seine Zimmer betrete. Er wurde gezwungen, sich in Gegenwart von Polizeibeamten anzukleiden, so wie wir alle; dann wurde Nr. 17 verschlossen und versiegelt, ebenso die beiden Zimmer des Grafen und die Besenkammer. Am nächsten Morgen haben die Stubenmädel keinen Blecheimer gehabt, um Krach zu machen.

Wir wurden lange verhört und dann eingeschlossen.

Also: man ist ein anständiger Kerl, man will den Staat von einer Bestie befreien und wird dafür eingesperrt.

Das hat man davon! –«

So weit geht der Bericht Kurt Bruckners aus seinem Tagebuch.

*

Morgens gleich nach acht Uhr wurde der Portier des ›Alten Dessauer‹ angeläutet, und zwar von seinem Kollegen aus dem »Continental«, von August Breise, der sich ängstlich nach seinem »Neffen« Kurt erkundigte.

»Kurt Bruckner ist heute nacht gegen 1/2 2 Uhr von der Polizei verhaftet worden.«

Es kam keine Antwort.

So viel sich auch der »Alte Dessauer« bemühte, Aufklärungen geben zu wollen, »Continental« rührte sich nicht mehr; »Continental« war ohnmächtig.

Aber schon um neun Uhr kehrten Mister Cogham, Kurt, Johann und der Nachtportier nach dem »Dessauer« zurück. Sie waren aus der Haft entlassen. Die Durchsuchung der Zimmer des »Grafen« hatte schwerstes Belastungsmaterial gegen ihn zu Tage gebracht. Schon nach etwa zwei Wochen stand das Bild seiner Verbrecherlaufbahn fest. Er hieß Stanislaus Radowsky, war ehemals Student an der Universität von Warschau, wurde dort relegiert, erhielt vom polnischen Gericht wegen einer Schuftigkeit zwei Jahre Gefängnis, ging dann nach dem Ausland, wurde das hervorragendste Mitglied einer internationalen Verbrecherbande, zu der auch der »Prinz Mehmed Omar« gehörte. Unter den geraubten Gegenständen fand man neben Kostbarkeiten aus der Villa Bruckner auch den ägyptischen Schmuck der Schauspielerin Sabine Sabina. Es stellte sich im Laufe der Zeit heraus, daß der »Graf Luwowsky« der gewissenloseste Heiratsschwindler seiner Zeit war. Nachgewiesen konnte ihm werden, daß er im Zeitraum von drei Jahren neunmal eine Ehe eingegangen war, junge, arglose Mädchen und deren Eltern um Ehre, Glück, Geld und Gut gebracht hatte.

August Breise war sofort telephonisch verständigt worden; es kam aber aus dem »Continental« keine andere Antwort als ein tiefes Aufschnaufen.

*

Abends gegen acht Uhr strebte August Breise dem »Dessauer« zu. Zehn Schritt vor der Tür begegnete er Mister Cogham. Der sprach ihn an.

»Seien Sie nicht das Onkel Breise von Kurt?«

»Ja, der bin ich!«

»Wollen Sie Mister Kurt sprechen?«

»Ja!«

»Das geht nicht; er sein schrecklich betrunken!«

»Wa – as?«

»Ja, er sein – wie sagt man in Deutschland – ah, er sein besauft! Nachtportier und Johann auch. Nur ich sein ein bißchen weniger besauft, weil ich sein mehr verträglich als die anderen.«

»Das ist ja entsetzlich!«

»Nein, es war nur ein kleine Siegerfeier, die wir haben verunstaltet. Good by, Mr. Onkel, I go out for a walk

Und er spazierte davon. Etwas wackelig, aber doch noch ziemlich sicher.

Breise ging ins Hotel.

»Was macht mein Kurt?« fragte er dort seinen Kollegen.

»Er schläft tief und fest!«

»Ist er – ist er wirklich betrunken?«

»Schwer! Der verrückte Engländer, der aber ein ganz famoser Kerl ist, hat ihm mehr Champagner eingeflößt, als Kurt vertrug. Sie haben Bruderschaft getrunken – haha! Na, Kollege Breise, Sie haben doch wohl die Abendblätter schon gelesen?«

»Nein! Mir ist seit dem Schreck von heute morgen ganz schwach im Magen.«

»Nun, da sehen Sie sich doch wenigstens den ›Kurier‹ an. Die Überschrift: ›Ein internationaler Schwerverbrecher durch einen jungen Angestellten des Hotel Dessauer gefaßt.‹ Wir sind ungeheuer stolz auf Kurt. Sehen Sie da oben das Bild des Grafen Luwowsky und da unten das Bild von Kurt.«

»Tatsächlich, das ist er! In der Sekundanermütze. Wie kommt die Zeitung zu dem Bilde?«

»Sie haben es heute vormittag abgeholt. Kurt hat schon fast allen Gästen des Hotels Autogramme geben müssen. Am Nachmittag kamen mindestens zwei Dutzend junge Mädel mit Blumen gelaufen, aber da zeigten wir unseren Kurt nicht mehr vor. Ja, Kollege Breise, Sie können stolz sein; Ihr Kurt wird eine Berühmtheit.«

»Ich muß es meiner Julia nach Neapel telegraphieren.«

»Das ist nicht nötig, Kollege Breise. Kurt hat heute vormittag an seinen Bruder Richard nach Neapel telegraphiert. Ich habe die Abschrift seines Telegramms. Es ist sehr drollig. ›Ätsch! Taler verspielt. Habe Verbrecher Luwowsky gefaßt. Kurt, Kriminalist.‹«

»Er ist ein guter Junge. Aber nun, da er betrunken ist, will ich ihn nicht ansehen.«

»Ja, Breise, haben Sie sich denn niemals einen Rausch angeschafft?«

»Schon – schon! Aber es ist lange her. Vor meiner Verheiratung schon des öfteren! Aber nachher hat's meine Frau nicht mehr erlaubt. Ach, wenn sie doch da wäre!«

Mister Cogham kam zurück. Er trug einen dicken Packen »Kuriere«.

»Aufgekauft! Aber es ist heute nichts mit Spaziergang; die Straßen sein zu gleiterig. Oh, Mister Onkel Breise, ich lade Sie ein zu eine kleine Drink."

Es ist bedauerlich, daß berichtet werden muß: der kreuzbrave August Breise hat unter starker Assistenz nach seiner Wohnung gebracht werden müssen.


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