Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Die Begegnung

Richard kam vom Amtsgericht, an dem er gegenwärtig beschäftigt war. Es war ein prächtiger Apriltag, ganz warmes Wetter. Da spielten die kleinen Mädchen mit Murmeln auf den Promenadenwegen, und die Jungen trieben den Spaziergängern Springkreisel zwischen die Beine. Im Sommer spielen die Kinder nicht mit Murmeln und Kreiseln, nur im Frühjahr, sowie sie nur im Herbst ihre Drachen steigen lassen, nie zu einer anderen Jahreszeit, auch wenn der Wind noch so schön weht; das ist uralte Überlieferung.

Richard kreuzte den Weg, der nach dem alten Gymnasium geht. Wie oft waren ihn die drei Brüder gegangen. Nun fand ihn keiner mehr. Die beiden Ältesten brauchten ihn nicht mehr, der Jüngste wollte ihn nicht mehr. Der war Pikkolo im »Dessauer«, aß sich dort dick und fett.

Richard war gedrückter Stimmung. Die Nachhilfestunden, denen er sein schmales Taschengeld verdankte, waren ihm gekündigt worden. Wenn die Versetzung zu Ostern überstanden ist, werden die armen Aushilfslehrkräfte Ersparnis halber an die Luft gesetzt. Denn nun soll es »von selbst gehen« Es geht natürlich nicht »von selbst«, und wenn die schlechte Herbstzensur ankommt, werden die Hauslehrer schleunigst wieder berufen. Im Sommer heißt es für sie hungern, im Winter doppelt arbeiten, damit die Kinder, die Hilfsstellung brauchen, Ostern ja nicht sitzen bleiben. Und ist Ostern das Ziel erreicht, dann beginnt das alte Spiel: Entlassung, es soll nun »von selbst« gehen – darben; indes verwildert während des Sommers der Junge, in seine Kenntnisse und Fertigkeiten kommen die Motten wie in einen ungeklopften Pelz, und im Herbst wird der Ringeltanz neu begonnen. So geht es den armen geistigen Saisonarbeitern. Wären sie organisiert, so würden sie auf Jahresanstellung dringen oder die Kinder von Eltern, die darauf nicht eingehen wollen, seelenruhig ihrem Schicksale überlassen.

Richard setzte sich auf eine Promenadenbank. Die Sonne schien so wonnig, und da auf dem Spielplatz tummelten sich entzückende kleine Mädchen; die größeren Kinder waren um diese Zeit alle in der Schule, da beherrschten die Kleinen das Feld mit viel Gekrähe, Gelächter und gelegentlichem Heulen. Richard Bruckner war ein weit über seine Jahre hinaus ernster Mensch. Es war ihm in zu jungen Jahren für sein Leben nichts übrig geblieben als Arbeit. Das sah man seinem Gesicht an. Es war für einen Sechsundzwanzigjährigen viel zu beherrscht. Früher hatte Richard Sport mancherlei Art betrieben. Dieses und seine in jeder Hinsicht solide Weise zu leben, hatten ihm die männlich schöne Kraftfigur gegeben. Ein ernstes Gesicht, aber doch in den Augen etwas von Güte. Richard liebte Kinder und Hunde. Jetzt saß er auf der Promenadenbank, sah auf den Spielplatz und stellte zum hundertsten Male bei sich fest, daß es auf Erden nichts Herzigeres geben könne, als ein gesundes vierjähriges Mädchen. Da kam ein Dackelmännchen an. Sein Fellchen glänzte im Sonnenschein wie schwarze Seide. Das Tierchen jaulte leise und sah sich ratlos um. Verlaufen! Richard nahm es auf die Knie, liebkoste es und sagte: »Fortgelaufen ist das Männchen? So ganz nackt und bloß, ohne Maulkörbchen und ohne Halsband, Leine und Steuermarke? Wenn nun ein Schutzmann den Dackel packt« – »Er wird ihn packen, er wird ihn ins Gefängnis sperren,« schrien ein paar kleine Mädchen, die vom Spielplatze herbeigeeilt waren. – »Ja, wäre das schön,« riefen die Mädchen und klatschten in die Hände. »Der Schutzmann soll ihn einsperren!« – Es gibt doch nichts Herzigeres auf der Welt als vierjährige Mädchen!

Eine Küchenfee erschien und holte den versprengten Dackel ab, sehr zur Enttäuschung der herzigen Mädelchen, die den Schutzmann ersehnten. Richard ging verdrossen hundert Schritte weiter.

Und da begegnete er ihr.

Eine elegante, hübsche, junge Dame blieb auf dem Promenadenwege vor ihm stehen und redete ihn an.

»Herr Referendar Bruckner, wenn ich nicht irre?«

Richard zog verwundert den Hut.

»Sie kennen mich nicht mehr?«

»Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, gnädiges Fräulein?«

»Ach, wir sind uns selten begegnet, zuletzt sahen wir uns im Jahre zwanzig. Ich war damals noch ein halbes Kind. Ich heiße Irene Bruckner, bin Ihre Verwandte.«

»Irene Bruckner, die Tochter von – von –«

»Ja, von Fabrikbesitzer Franz Bruckner.«

»So – so – nun, gnädiges Fräulein, gestatten Sie mir die Frage, weshalb nehmen Sie von mir Notiz?«

»Wir sind Verwandte. Ihr Herr Vater war der richtige Vetter meines Vaters. Wir heißen Bruckner wie Sie.«

Er strich sich über die Stirn.

»Ja – ja – gnädiges Fräulein, ich weiß es zu schätzen, daß Sie mich einer Anrede gewürdigt haben, aber –« »Bitte, kein Aber. Sagen Sie mir lieber, wie es Ihnen und Ihren Brüdern geht.«

»Wie soll es uns gehen? Es geht uns schlecht. Wir leben von der Gnade eines Portier-Ehepaares, das ehemals unseren Eltern treu ergeben war. Mutter ist tot!«

»Schrecklich!«

Er zuckte die Achseln.

»Sie zürnen uns sehr?«

»Gnädiges Fräulein, ich glaube, es ist unratsam, solch' schwere Dinge hier auf der Promenade zu erörtern. Es freut mich, Sie einmal gesehen und gesprochen zu haben, aber Sie sind die Tochter von Franz Bruckner, und ich bin der Sohn von Friedrich Bruckner; da ist eine unüberbrückbare Kluft zwischen uns! Gestatten Sie, daß ich mich empfehle.«

Er zog den Hut.

»Kann ich Ihnen denn nicht helfen?«

»Nein,« sagte er und ging.

Da hörte er, daß ein kleines Mädel von der Spielwiese her krähte: »Guckt einmal! Guckt einmal! Da ist ein schönes Fräulein, das weint.«

*

Er fand den ganzen Tag keine Ruhe. Zu einer amtlichen Arbeit, die keinen Aufschub vertrug, mußte er sich mit aller Gewalt aufraffen. Er bekam ihr Bild nicht aus der Seele. Und es war vor allem etwas, das sich in sein Herz gegraben hatte – die Unschuld ihrer Augen. Wahre Anschuld der Augen ist der größte Liebreiz, den eine Frau haben kann, denn es stellt sie neben die Engel, und die Männer werden bei ihr das Himmelreich suchen. Richard beschloß am Abend über seine Begegnung am Familientische zu berichten. Es war ein Gelöbnis unter den Brüdern, sich nichts Wesentliches zu verheimlichen. Sie gehörten zusammen wie Kämpfer im Streit. Keiner durfte abirren, beiseite sein, keiner durfte Krieg ansagen oder Frieden schließen ohne die andern, sie mußten zusammenhalten, wollten sie nicht einzeln untergehen. Es war eine schwere Verfehlung von Kurt, daß er, ohne die Brüder zu befragen, in den Hoteldienst trat. Richard würdigte ihn darob all die Tage auch nicht eines Blickes oder Wortes.

Am Abend saßen die Brüder mit dem Breiseschen Ehepaar wieder am großen Tische der Wohnstube. Richard hatte seinen Bruder Kurt eigentlich hinausweisen wollen, es schließlich aber doch unterlassen. Er begnügte sich damit, seinen Gruß nicht zu erwidern. Kurt aber hatte viel mehr menschliches Wohlwollen als übertriebenes Ehrgefühl im Herzen. Er packte aus einer Tüte fünf prächtige Äpfel aus, eine Köstlichkeit im Frühling, und legte je einen Apfel den Vieren vor. Die Äpfel hatte ihm die blonde Emmy vom Buffet mit mehr oder weniger Berechtigung geschenkt. Richard wies den ihm zugedachten Apfel zurück, worauf sich Kurt erst ein wenig im Kreise umsah und dann diesen abgewiesenen Apfel seelenruhig selber verzehrte. Sentimental war dieser dicke Junge nicht.

Richard berichtete nun über seine Begegnung. Sie erschraken alle. Richard erzählte alles, Wort für Wort. Sie saßen beklommen da, selbst Kurt hörte auf zu essen. Die Irene Bruckner, die Tochter des Franz Bruckner, jenes Mannes, der – –

Nun ja! Ihre Seelen umkreisten jenes andere Brucknerhaus in schweren Gedanken, und alle dachten nach, wie großes Unheil von dorther über sie alle gekommen war. Der dicke Kurt fing an zu stöhnen. »Wie viel war's denn eigentlich, um was sie uns behumpst haben?«

Niemand antwortete. Es trat bange Stille ein. Julia war die erste, die wieder sprach.

»Sie ist das einzige Kind von Franz Bruckner. Ihre Mutter ist tot. Und sie hat wohl alles von ihrer Mutter, nichts vom Vater. Ach Gott, das war eine liebe Frau, die beste Freundin von eurer Mutter. Nur, daß sie einen so brutalen Mann hatte! Das arme Ding, die Irene, wenn sie auch reich ist, tut mir leid. Ich habe sie manchmal auf dem Schoß gehabt, als ihre Mutter noch lebte, freilich war da das Irenchen noch ein Kind. Sie war oft bei euch, ein liebes Dingelchen – ihr spieltet mit ihr –«

»Was Hab' ich denn mit ihr gespielt?« fragte Kurt. »Du? Du warst noch gar nicht auf der Welt.«

»Das ist Pech! Man soll auf der Welt sein, wenn was los ist. Ich komme immer zu spät!«

Diese störende Bemerkung war schnell überwunden. »Ja, die Frau und das Kind waren lieb, den Mann habe ich nie leiden gemocht.«

Richard nahm wieder das Wort.

»Wir sind übereingekommen, uns nichts Wesentliches zu verschweigen. Daß unser Bruder Kurt dieses feste Versprechen in einem lebenswichtigen Fall nicht gehalten hat, ist ein großes Unrecht von ihm und wird sich einmal rächen.«

»Gar nichts wird sich rächen,« dachte Kurt, hörte aber auf, zu essen.

»Ich, euer ältester Bruder, werde niemals hinterlistig gegen euch sein. Alles Wesentliche werde ich euch stets berichten. Die Begegnung mit Fräulein Irene Bruckner halte ich für etwas Wesentliches, es ist eine unmittelbare Berührung mit einem uns todfeindlichen Hause. Wenn nun auch unsere herzensgute Tante Julia gut von dieser Irene Bruckner gesprochen hat und wenn ich auch selbst von der jungen Dame durchaus keinen üblen Eindruck empfangen habe, so ist doch jeder auch nur entfernte Verkehr für uns völlig ausgeschlossen. Nicht einmal auf den Grußfuß dürfen wir mit ihr kommen. Ich kenne sie nun, aber wenn ich ihr begegne, werde ich sie sicher nicht grüßen, noch viel weniger werde ich mich wieder von ihr ansprechen lassen. Ich wünsche von euch, daß ihr euch ebenso verhaltet.«

»Ach, mir sind ja die Weiber so gleichgültig!« sagte der schöne Elmar und gähnte.

»Bitte ums Wort!«

Der dicke Kurt stand auf.

»Zunächst verbitte ich mir die Hinterlistigkeit und dann, daß ich etwas Wesentliches verschwiegen hätte. Wenn jemand das Leben im Gymnasium nicht mehr gefällt und er lieber Kellnerstift werden will, dann ist das nichts Wesentliches, es ist nur etwas Natürliches. Was die Irene Bruckner anlangt, so will ich gern auf der Straße vor ihr ausspucken, wenn sie aber mal in unser Hotel als Gast kommt, werde ich sie mit ausgezeichneter Hochachtung behandeln.«

»Bravo!« sagte August Breise. »Das ist der richtige Berufseifer im Hotelgewerbe. Persönlich kannst du vor jemand ausspucken; kommt er aber als Gast ins Hotel zu dir, dann alle Hochachtung. Im übrigen gebe ich unserem Richard recht. Abraham a Sancta Clara sagt, daß es himmelschreiende Sünden gibt, die weder in diesem noch im jenseitigen Leben verziehen werden können, und dazu gehört die Unterdrückung der Armen, Witwen und Waisen. Ein solcher himmelschreiender Todsünder ist Franz Bruckner. Pfui über ihn! Und weit vom Leibe alles, was zu ihm gehört.«

»Das arme Kind!« jammerte Julia.

»Was, Alte! Vielleicht heulst du noch! Weißt du nicht, daß Abraham a Sancta Clara gesagt hat: Weibertränen sind wie Tintenklexe auf weißer Leinwand, wie Schwefelsäure in der Schlagsahne und wie Mistpfütze im Rosengarten.«

Da erhob sich Julia.

»Hat er das wirklich gesagt?« fragte sie streng.

»Nein!« sagte August erschrocken und setzte sich.


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