Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Der Anfang des Aufstiegs

Nun könnte wohl, um mit den alten Meistern zu sprechen, die schöne Leserin, der geneigte Leser nach dem bisher Gesagten, nach all dem Betrogensein, Sterben, Predigen, Schimpfen vermuten, das werde nun eine recht trübselige Geschichte werden.

Das wird es nicht. Der Ausgangspunkt des Weges, auf dem die drei Brüder auszogen, das Glück zu suchen, mußte gekennzeichnet werden, und von Mühsalen mancher Art wird auch ferner nicht geschwiegen werden können, aber es ist schön, einen Bergweg zu sehen, auf dem fünf tapfere Menschen zur Höhe klimmen. Es gibt zwei Arten Menschenschicksale für den Betrachter, das eine sind die Menschen, die mit »steigender Sonne« wandern, die aus dem Winterdunkel kommen, aber die Gewißheit haben, nun muß es Frühling und Sommer werden, alle Tage wird das Sonnenlicht ein bißchen länger auf meinem Wege ruhen, sei es auch nur ein paar Minuten, und eines Tages werde ich in Blüten und Ähren stehen. Das sind die Kinder vom eisigen Januar, aber die Kinder, die mit steigender Sonne gehen. Und die anderen, die lange im Überschwang des Lichtes und der brennenden Farben gestanden haben, merken plötzlich, daß sich das Sonnenlicht verringert, daß die hellen Tage kürzer werden, sei es täglich auch nur um wenige Minuten, und ahnen erschaudernd, daß einmal der harte Herbststurm welkes Laub um sie wirbeln wird. Das sind die Kinder, die aus dem Glast des Glückes kommen, die Kinder des schwülen August, die mit der sinkenden Sonne wandern.

Nun, die drei Brüder kommen aus Winternacht und wandern mit der steigenden Sonne und mit ihnen August und Julia Breise.

»August,« sagte Julia,«in drei Tagen kommen die Jungen, dann ist die Auflösung des Haushalts beendet.«

Sie weinte.

»Ach, du Jammer, du Jammer! Wenn man so sieht, wie eines der lieben Stücke nach dem andern verschwindet und was für ein Lumpengeld dafür gezahlt wird.«

»Weine nicht, Julia, denn Abraham a Sancta Clara sagte: ›Wer fremde Möbel zu billig an sich nimmt, den wird Gott vermöbeln!‹« Diesen Satz hatte Breise selbst geprägt, aber auf den berühmten Wiener Prediger übertragen. Er tat das öfter.

»Nun, lieber August, da jetzt die Jungen kommen, wirst du einsehen, daß sie das große Zimmer bekommen und wir uns mit dem kleinen begnügen müssen; denn sie sind drei Personen, und wir nur zwei.«

»Das kleine Zimmer – aber Julia, da hat ja nicht mal mein Pfeifenständer mehr Platz und mein Sorgenstuhl.«

»Der Pfeifenständer hat Platz, der Sorgenstuhl auch, freilich nur abends. Dann trage ich meinen Nähtisch und meine Fußbank nach der Küche, dein Sorgenstuhl kommt an deren Stelle, und wenn du heimkommst, hast du deine Bequemlichkeit.«

August kratzte sich den Kopf. Schließlich sagte er ergeben:

»Nun, dein Wille und Gottes Wille möge geschehen!«

Nun waren die drei Brüder nach der Breiseschen Wohnung übersiedelt. Still, bedrückt saßen sie in der Mitte des Zimmers am Tische. Die Wände entlang standen drei Betten, jedes hatte ein sauberes schönes Gebett und einen Nachttisch mit einer Leselampe. Die allernotwendigste Bequemlichkeit müsse sein, hatte Julia gesagt. Weder sie noch ihr Mann hatten ihr Leben lang einen Nachttisch besessen.

Die Brüder saßen sich am Tisch gegenüber und sahen sich nicht an. Auch im Zimmer wagten sie kaum verstohlen herumzublicken. Die Stube war für drei junge Leute immerhin groß genug. Nach und nach sahen sie vertraute Gegenstände: Mutters großen Kleiderschrank aus Polisanderholz, ihr Ruhesofa, Vaters eingerahmtes Doktordiplom, sie gewahrten, daß sie auf Stühlen aus dem alten Haushalte saßen, ja, der gute Teppich war auch da, der Täbris mit dem Ispahanmuster, auf den Mutter so stolz war und den ihr Vater ein Vierteljahr vor seinem Tode geschenkt hatte. Auch das letzte Familienbild hing an der Wand, aber das wollte jetzt keiner von den dreien anschauen.

»Du hast alles sehr gut eingerichtet, Tante Julia,« sagte Richard, der älteste, leise. »Es ist ein großes, schönes Zimmer.«

»Man macht's so gut man's kann. Groß ist ja das Zimmer. Drei Fenster, zwei davon nach der Sonnenseite. Die Zimmer in den alten Häusern sind groß, und wenn unsere Wohnung auch in der Vorstadt liegt und das Haus schon gleich nach dem Siebziger Kriege gebaut ist – es ist sauber. Darauf haben die Wirtsleute immer gehalten. Und die alten Möbel, nicht wahr? Die passendsten Stücke, soweit halt Platz war! Aber wir haben einen Boden, fast so groß wie ein Speicher, da habe ich noch viel aufbewahrt, damit es einmal, wenn der Tag gekommen sein wird, unter euch drei geteilt werde.« »Der Tag? Wann wird der sein?«

»Nun, er wird kommen, nur Geduld,« sagte Julia zuversichtlich.

»Es wird schwer für euch sein, Julia, aber ihr guten Menschen habt es so gewollt und was sollten wir auch ohne euch anfangen? Ach, ich habe bis zum Assessor noch einundeinhalbes Jahr; eher kann ich's nicht machen. Vier Nachhilfestunden in Latein habe ich jetzt, damit verdiene ich zwölf Mark in der Woche.«

»Für Taschengeld reicht es!«, sagte Julia.

»Ja, für Taschengeld; aber wie steht's mit der Wirtschaftskasse?«

»Die Wirtschaftskasse ist meine Sache.«

Nun kam Elmar, der zweite Sohn, an die Reihe zu sprechen. Ehe die Frau Geheimrat ihn gebar, beschäftigte sie sich viel mit Literatur. Damals war das sprachschöne Epos »Dreizehnlinden« von Friedrich Wilhelm Weber noch im Schwange. Und so hieß der zweite Sohn Elmar. Denn

Elmar, Falk vom Habichtshofe,
Streng geheischt bei Leib und Leben,
Tritt herein auf grünem Rasen,
Einem Mann sein Recht zu geben.«

Die literarische Begeisterung der Mutter hatte sich auf den Sohn übertragen. Als er acht Jahre alt war, verfaßte er eine Dichtung von einem edlen Hirtenknaben und einem bösen Ritter. Der edle Hirtenknabe wurde König, der böse Ritter kam in einem Sumpfe um. So gerecht war diese Dichtung. Und jetzt hatte Elmar das Abitur bestanden, und nun dachte er zur Presse zu gehen. Das tun viele, wenn sie gerade vom Gymnasium oder aus dem Lehrerseminar kommen. Zunächst wollen sie alle »Kritiker« werden, denn die deutsche Literatur erscheint ihnen äußerst reformbedürftig, und sie fühlen sich sicher, die Berufenen zu sein, Morsches über den Haufen zu rennen und Neues, Unerhörtes aufzubauen. Also rempeln sie zunächst mal einen bekannten, erfolgreichen Autor mächtig an, legen Schadenfeuer an seine Speicher, um ihre eigene Obskurität malerisch zu beleuchten. In Lesehallen und Kaffeehäusern lesen sie hauptsächlich die Kritiken der boshaftesten hauptstädtischen Kunstrichter, klauben die sauersten Rosinen aus diesem Kuchen heraus, sammeln die schärfsten Ablehnungsphrasen, die höhnischsten Ausfälle, machen sich zu Hause einen Zettelkasten, aus dem sie jeweilig das ihnen geeignet erscheinende Giftrezept hervorziehen, das schreiben sie ab, stellen irgend so einen fremden Brei zusammen und bald heißt es: »Donnerwetter, der hat was weg!« Kein Eingeweihter im deutschen Lande wird bestreiten, daß das so ist, nur das Publikum merkt es nicht, und das ist die Hauptsache.

Selbstverständlich »dichten« alle diese Jünglinge selber. Wenn dann ihr Dummjungengestammele den Leuten nicht gefällt, werden sie als »Stürmer und Dränger« voll wilden Zornes. Aber der hilft auch nichts, und schließlich, wenn sie sich die Füße beim Aufsturm zur Höhe gründlich vertreten und die Hörner, die sie für so tödliche Waffen hielten, abgestoßen oder doch abgestumpft haben, landen sie in einer Redaktionsstube, werden kluge, ruhige Männer, die sich nicht mehr erbosen, sondern die Dinge leidenschaftslos betrachten, werden wirkliche Kritiker und nützliche Menschen. Bei manchen ist der Irrweg kurz, bei manchen sehr lang, und der lange Weg führt oft in die Wüste des Darbens.

Also, so einer war Elmar. Er hatte schon in Unterprima einen vernichtenden Artikel gegen Sudermann und einen höchst fördernden für Gerhard Hauptmann in einer »Literaturbeilage« untergebracht und war von seinen Mitschülern angestaunt worden. Auch hatte er in Unterprima eine Dichtung verfaßt: »Orplid und ich«. »Orplid« – hatte er damals seinen Brüdern erklärt, sei ein Traumland zwischen Himmel und Erde. Und so war auch die Sprache dieser Dichtung; sie konnte weder im Himmel noch auf Erden verstanden werden, sie war ein völlig rätselhafter Zwischendialekt aus Nirgendland. Die Aufnahme dieser Dichtung war so ungünstig, daß Elmar erklärte, alle Redakteure seien Schafsköpfe und alle Verleger Idioten. Elmar war von den drei Brüdern der schönste, schön nach dem Geschmack der Frauen, große Augen, dichter Haarbusch, ein blasses, weichliches Gesicht, das Ganze in Schwermut getaucht.

Der dritte der Söhne war Kurt. Er war ein dickes Kerlchen mit einem Gesicht, das alle Schwächlichen und Kränklichen als unverschämt gesund bezeichneten. In Obersekunda hatte er der akademischen Weisheit »Valet« gesagt, denn es war klar, daß Vergil kein verständliches Latein schreiben konnte, daß der Grieche Homer ein unerträglich breiter Schwätzer war und daß es gar keinen Zweck hatte und nicht das mindeste Vergnügen bereitete, sich ständig mit Sinus und Cosinus herumzuplagen und mit der Logarythmentabelle schlafen zu gehen. Richard, der älteste, war sehr ehrgeizig und verlangte von seinem Bruder Elmar, daß er neben journalistischer Betätigung einige Fächer auf der Universität belegen und wenn auch kein Staatsexamen, so doch wenigstens den Doktor mache; der Titel würde ihm in Beruf und Leben immer förderlich sein. Von Kurt verlangte er, daß er die Obersekunda wiederhole; er zürnte schwer mit ihm, daß er durch seine Faulheit das Klassenziel nicht erreicht hatte.

*

Da ereignete sich eines Abends folgendes: Vater Breise war schon zu Hause, das Abendbrot war vorüber, sie saßen alle fünf um den Tisch in der großen Stube. »Es ist Sonnabend,« sagte Vater Breise, »da wird nicht mehr gearbeitet, da wird Weekend gemacht.«

Und so saßen sie und plauderten, und Julia hatte einen Punsch gestiftet und zehn Zigaretten. Da kam der dicke Kurt mit einer Neuigkeit heraus.

»Ich hab' eine Stellung!«

»Eine Stellung? Du? Wieso?«

»Ich bin im Hotel zum »Alten Dessauer« angestellt!«

»Als was denn?«

»Als Kellnerstift! Als Pikkolo!«

Der Jurist starrte ihn an.

»Bist du übergeschnappt?«

»Nein! Reg' dich nicht auf, Richard; die Sache ist in Ordnung. Am Gymnasium bin ich abgemeldet.«

»Du bist wohl wahnwitzig?«

»Pst! Pst! Die Sache stimmt. Denn mein Vormund hat's erlaubt. Er hat mir sogar noch was geschenkt. Da –« Er legte einen Zehnmarkschein auf den Tisch.

»Dafür kaufe ich mir Wäsche, denn man braucht mächtig viel Wäsche im Hotelbetrieb. Eine Livree gibt mir der Chef – Marineblau mit Silber!«

»Der Vormund hat's erlaubt? Dieser Vormund sollte vor Gericht gestellt werden. Er ist vernarrt in dich; er tut dir allen Willen –«

»Ja,« sagte Kurt, »er schätzt mich. Heute hat er gesagt: Junge, wann meine Alte erst mal stirbt, nehm' ich dich zu mir. Eher geht's leider nicht.«

»Das alles ist ja unerhört! Er macht einen Proleten aus dir.«

Als er das gesagt hatte, erschrak Richard, denn am Tische saßen zwei Proleten: Breise und seine Frau.

»Nun, jeder ehrliche Beruf hat natürlich meine Achtung! Aber wenn einer schon an der Pforte der Prima gestanden hat und dann Kellnerstift wird, was jeder Klippschüler werden kann, das ist doch allerhand! Morgen gehe ich zu dem Vormund und in das Hotel und mache den blöden Handel rückgängig.«

Nun ergriff August Breise das Wort:

»Der große Abraham a Sancta Clara hat gesagt: ›Viele sind berufen, wenige aber sind auserwählt‹ So ist's auch im Hotelbetriebe. Heutzutage gehört da mehr dazu, als daß einer bloß Klippschüler war. Da gehört Verstand dazu, feines Benehmen, Menschenkenntnis, fixes Denken und vor allem Sprachkenntnisse.«

Der dicke Kurt sprang auf; sein gesundes offenes Jungengesicht glühte:

»Und noch etwas gehört dazu: »Essen! Ich kann nicht dafür, aber ich esse nicht, ich fresse. Ich brauche vier- oder fünffache normale Portionen, wenn ich nicht verhungern will.«

»Hast du denn bei uns gehungert?« jammerte Julia.

»Nein, liebe Tante Julia! Aber eines habe ich bemerkt, daß du dich selbst meinetwegen nicht mehr satt ißt. Kann ich euch, bloß um wieder Obersekundaner zu sein, eure 23 000 Schweizer Franken auffressen? Nein, habe ich mir gesagt: Für mich ist's eine Futterfrage. Und wo ist das meiste Futter? Im Hotel. Wer sich da mit dem Küchenchef gut steht, der ist fein raus. Und ich werde mich mit dem Küchenchef gut stehen; das könnt ihr mir glauben. Er kennt mich schon; er sagt, »Dicker« zu mir.«

Richard schwieg. Er dachte bei sich: ein vollkommener Materialist, ein wirklicher Prolet. Da ist wohl nichts zu machen.

»Im übrigen,« hub Kurt wieder an, »bin ich kein gewöhnlicher Stift, ich bin Eleve. Das hat Herr Kramer, der Besitzer vom »Alten Dessauer«, gesagt. unser seliger Vater hat viel im »Dessauer« verkehrt, und so hat Herr Kramer gesagt, er werde sich meiner annehmen und mich fördern. Auch Fräulein Emmy vom Büffet, die vielleicht das schönste Weib der Welt ist, ist freundlich zu mir. Sie sagt nicht Dicker zu mir, sie sagt »Dickerchen« Ich habe mich heute den ganzen Vormittag im, »Dessauer« aufgehalten; gegen Mittag kam mein Vormund, und da wurde alles festgemacht. Montag früh trete ich an.«

Er rieb sich die Hände.

»Prosit, Onkel Breise, du bist jetzt mein Oberkollege, denn wir sind beide vom Bau, ich meine vom Hotelbau.«

»Jawohl,« sagte Breise vergnügt, »du wirst sehen, es wird dir gut gehen; denn Abraham a Sancta Clara hat gesagt »Glücklich sind die zum Beruf Berufenen«.«

Richard sagte kein Wort mehr. Es war wie eine Lähmung in ihm. Er war blaß. Elmar hatte inzwischen einen Aphorismus verfaßt und mit Bleistift notiert:

»Es fiel ein Stern aus der Sternenbahn auf die Straße der Erde. Der Stern verwandelt sich in ein Goldstück; das rollte nach einem Schenkhause. Da war der Stern dahin.«


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