Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Kurt als Detektiv

Ganz außer Rand und Band war Kurt. Seit er die Periode Lederstrumpf und Karl May überwunden hatte, las er nur noch Kriminalromane. Und obwohl seine beiden Brüder, Richard und namentlich der hochliterarische Elmar, solche Machwerke aus ganzer Seele verabscheuten, blieb Kurt standhaft bei der Behauptung, Kriminalromane seien überhaupt die einzig interessanten Bücher der Welt. Das Wort »literarisch« sei scheußlich; die Leute, die es aussprechen, zischen einem immer heißen Speichel ins Gesicht, blähen die Nüstern und verdrehen die Augen. Das könne männiglich glauben, je »literarischer« ein Buch sei, desto langweiliger sei es. Alle, die das Gegenteil behaupteten, seien Heuchler. Gegen solch' gottlose Ketzerei richteten die älteren Brüder nichts aus.

Eines Abends verkündete Kurt, er werde nun selber in seinen Mußestunden zur Kriminalschriftstellerei übergehen, er habe schon ein Werk unter der Feder; es heiße: »Der Mord an der Teufelsbrücke«.

»Originell!« lachte Richard, »nur, es ist halt schade um das viele Papier und um die Tinte.«

»Mein Lieber,« nahm Elmar das Wort, »wenn Kriminalromane auch absoluter frecher Kitsch sind, so leicht, wie du dir's vorstellst, ist solch ein Ding nicht zu fabrizieren. Da gehört viel Erfindungs- und Kombinationsgabe dazu und vor allen Dingen eine ganz gewisse, gerissene Technik. Du bringst das im Leben nicht zustande.«

»Nun siehst du, wie du die Kriminalromane lobst, ohne daß du es willst. Von Erfindungs- und Kombinationsgabe findest du in den literarischen Romanen keine Spur. Die Kerle und dichtenden Frauenzimmer können ebenso wenig erzählen, wie die modernen Kleckser, die sich Maler nennen, auch nur noch im mindesten zeichnen können, und weil sie es nicht können, nennen sie all das, was sie nicht vermögen, unkünstlerisch. Nee, nee, auf solchen Schwindel fallen nur die Leute hinein, die jedem Klüngel folgen und auch die blödsinnigsten Moden mitmachen. Ich habe mehr Erfindungs- und Kombinationskraft, als ich brauchen kann, und meine Technik ist äußerst gerissen.«

Die Brüder lachten ihn aus. Kurt wurde zornig. »Ich will euch sagen, wie man einen Kriminalroman macht. Man macht zuerst das erste Kapitel.«

»Sehr richtig!«

»Dann macht man nicht das zweite, sondern das letzte Kapitel.«

»Hört! Hört!«

»Jawohl, man rollt im ersten Kapitel ein ernstes Problem auf, stellt ein Rätsel, das man im letzten löst. Das erste Kapitel ist der Start, das letzte das ›finish‹! Unausgesetzt jagt man auf das finish los. Alle Zwischenkapitel füllt man mit atemraubender Spannung aus, mit Wirrnissen, Irrtümern, Verwechselungen, kurzum: man spannt den Leser auf die Spannungsfolter.«

»So – so – man nimmt also einen steinreichen Mann, der natürlich in Amerika lebt, läßt ihn mit oder ohne Motivierung ermorden, läßt den ›coroner‹ kommen, das ist in Amerika der Beamte, der bei Mordfällen die erste Besichtigung vornimmt, läßt die Polizei erscheinen, die aus lauter aufgeblasenen, unfähigen Trotteln besteht, läßt diese die irreführenden Spuren entdecken, jagt dann Kapitel um Kapitel unschuldige, aber irgendwie verdächtigte Leute durch alle möglichen Fegfeuer, um am Ende den Täter zu finden. Das ist immer eine Figur, an die niemand gedacht hat, und deren Entlarvung nur durch einen edlen Privatdetektiv von überlebensgroßer Schlauheit gelingt.«

»Das ist gar nicht so übel,« sagte Kurt; »am meisten wundert mich das vom ›coroner‹. Woher weißt du das?«

»Das steht in den meisten Kriminalromanen als Fußnote.«

»Ich stelle also fest, daß du selber viel Kriminalromane liest. O, ihr literarischen Heuchler! Nun, mein Roman ist viel romantischer als deiner. Auf einige alte Requisiten, wie Milliardär, Mord, unheimlicher Fremder, coroner, dumme Polizei, findige Detektive kann ich natürlich auch nicht verzichten. Das Publikum verlangt das einfach. Aber sonst! Mein Mord geschieht in der Union Pacific Railroad; versteht ihr, auf der Eisenbahnlinie, die beinahe zweitausend deutsche Meilen weit den nordamerikanischen Kontinent durchzieht. In den Rocky Mountains, dem wilden Felsengebirge, liegt viertausendsechshundert Meter hoch die Teufelsbrücke, das ist ein Viadukt über einen grauenhaften Abgrund.«

»Grauenhaft!« warf Richard ein.

»Jawohl, und in diesen Abgrund wird mein Held durchs Zugfenster hinausgeworfen.«

»Schauerlich! Wie heißt dein Held?«

»Abraham Seidenbauer. Seidenbauer nach seinen deutschen Vorfahren, Abraham nach dem großen Lincoln.«

»Seidenbauer ist kein günstiger Name, denn es wird in Deutschland wenig Seide angebaut und neuerdings auch wenig Seide gesponnen. Nenne ihn lieber Kornbrenner, das wirkt echter.«

»Ruhig mit unnützen und höhnischen Zwischenreden!« rief der junge Dichter und fuhr fort: »Es bleibt bei Seidenbauer. Man denke sich die Sensation in der Union Pacific Railroad. Sämtliche Passagiere werden verhört, sämtliche kommen in Verdacht. Durch zweiunddreißig Kapitel lang geht die Jagd nach dem Mörder. Die Passagiere sind aus aller Herren Ländern; die Recherchen gehen um die ganze Welt von den Antillen bis nach den Sundainseln, von Japan bis nach Australien, von Rio de Janeiro bis nach Reykjavik, das ist die Hauptstadt von Island, merkt euch das, denn ihr habt es sicher nicht gewußt. Eine grandiose Hetzjagd. Überbietet alles, was bisher in Kriminalromanen da war, gibt dem Dichter grandiose Möglichkeiten zu landschaftlichen Schilderungen und zur Volksbeobachtung in allen Breitengraden.«

»Das Werk wird wahrscheinlich zwölf Bände umfassen.«

»Nein, in der Beschränkung zeigt sich der Meister. Es ist alles genau berechnet. So kommen auf Reykjavik zum Beispiel nur fünf Seiten.«

»Das ist für das Trannest mehr als genug. Und zum Schluß stellt sich natürlich heraus, daß die ganze Mörderjagd unnütz war, daß Herr Abraham Seidenbauer sich selbst in die Teufelsschlucht gestürzt hat, vielleicht weil er große Verluste gehabt hatte.«

Kurt sah seinen Bruder Elmar scharf an.

»Daß du vom Bau bist, merkt man, denn deine Lösung hatte ich zuerst im Sinne. Dann aber fand ich sie zu abgeschmackt, denn die modernen literarischen Dichter helfen sich, wenn sie aus ihrer verworrenen Problematik selbst nicht mehr herausfinden, einfach durch einen oder ein paar Selbstmorde. ›Deus ex machina‹nennt man das, zu deutsch: der Revolver oder die Veronaltabletten. Nein, so ein tiefstehender Salbaderer bin ich nicht. Selbstmord war bei Seidenbauer ausgeschlossen. Erstens stellten sich nach seinem Tode seine finanziellen Verhältnisse geradezu als prunkvoll heraus, zweitens beteuerte ein frommer Methodistenbischof, der sich manchmal mit Abraham Seidenbauer über religiöse Fragen unterhalten hatte, ein so tiefgläubiger Mensch wie Abraham würde nie und nimmer Selbstmord begehen, und drittens waren die Fenster im Zugabteil des Seidenweber geschlossen. Der unglückliche ist also von seinem Mörder hinausgestoßen worden, und dieser hat das Fenster sofort wieder geschlossen.«

»War es denn ein Raubmord?«

»Jawohl! Geld, Uhr, Handtasche, in der Seidenbauer wahrscheinlich große Schätze hatte, waren verschwunden.«

»Nun, da hätte man doch alle Passagiere durchsuchen müssen.«

»Feine Bemerkung!« höhnte Kurt. »Auf diesen schlauen Gedanken wäre man wahrscheinlich in dieser Railroad gekommen. Aber der Mörder war wahrscheinlich ebenso schlau wie du, Herr Redakteur Elmar Bruckner. Es fand bei den gründlichsten Untersuchungen des Zuges sich rein nichts von den geraubten Sachen. Der Mörder hat diese Dinge an einer ganz bestimmten Stelle im wilden Felsengebirge, viertausend Meter über menschlichen Behausungen, aus dem Zuge geworfen. Dort wollte er sich später den Raub abholen.«

»Das war eine schlaue Canaille!« sagte Richard.

»Jawohl, Herr Referendarius! Sie hätten den Fall, falls Sie ihn zur Bearbeitung bekommen hätten, wahrscheinlich nicht herausgekriegt?«

»Und wer hat ihn schließlich herausgekriegt?«

»Nun, natürlich der Detektiv. Die Polizeimänner schwirrten ja in der ganzen Welt herum nach vermeintlichen Mördern, unschuldigen Leuten, die eben zufällig in dem Mordzuge gesessen hatten. Der Detektiv suchte nach den abhanden gekommenen Schätzen. Das hatte zwar die zünftige Polizei auch getan, aber ohne jeden Erfolg, denn sie hatte sich auf den Umkreis der Teufelsbrücke beschränkt. Der Detektiv aber sagte sich sehr richtig, ein gerissener Verbrecher wirft seinen Raub nicht neben die Stelle seiner Mordtat, wo er rasch gefunden würde. Weit entfernt, meilenweit waren an der Bahnstrecke die geraubten Gegenstände zu suchen. Der Detektiv mietete sich drei Bergindianer als Führer und Träger und fand nach wochenlangem Suchen die geraubte Handtasche. Sie enthielt außer Uhr, Ringen usw. eine Brieftasche mit über einer Million Dollar.«

»Donnerwetter! Ist das nicht billiger einzurichten?«

»Nein! Was ist da zu donnerwettern? Für einen Milliardär ist eine Million Dollar nicht mehr als für euch armselige Besenbinder ein Taler. Also, die Tasche war gefunden; die Schätze wurden geborgen, die leere Tasche aber wieder als Lockspeise an Ort und Stelle gebracht. In einer nahen Höhle verbarg sich der Detektiv mit seinen Begleitern. Schon nach drei Tagen fingen sie den Raubmörder.«

»Und wer war's?«

»Ja,« lachte Kurt. »Wer war's? Über diese Frage werden sich ja alle meine Leserscharen die Köpfe zergrübeln.«

»Also, wer war es nun?«

»Der fromme Methodistenbischof, an den außer dem Detektiv niemand auch nur im entferntesten gedacht hätte.«

»Das werden dir die Amerikaner übelnehmen. Die Methodisten stehen in hohem Ansehen, sie sind zahlreich, ich glaube, fast zehn Millionen Anhänger haben sie. Sie sind pietistisch fromm.«

»Skandal will ich ja! Ohne Skandal ist heutzutage kein Geschäft auf dem Büchermarkt mehr zu machen. Ein Verleger, dem ich eine Skizze meines Romans und das ausgeführte erste und letzte Kapitel eingeschickt habe, hat mich bereits seines lebhaftesten Interesses versichert.«

»Du wirst einmal ein tüchtiger Mann werden.«

»Brauch' ich nicht erst zu werden, bin ich schon! Vor allen Dingen wird mein Roman sicher verfilmt, und jedes Küchenmädel wird ihr Fünfzigpfennigstück beisteuern.«

*

Aber am nächsten Abende war Kurt von auffallender Schweigsamkeit und Besinnlichkeit. Die Brüder wunderten sich.

»Was macht deine Teufelsbrücke?« fragte Richard.

Schweigen.

»Nun, hast du den schönen Plan aufgegeben?«

»Nein. Ich habe die Teufelsbrücke vorläufig zurückgestellt. Ich schreibe jetzt keinen Kriminalroman; ich erlebe einen.«

»Oho – oho! Er erlebt einen Kriminalroman.«

»Tue ich! Aber ich werde euch kein Sterbenswort verraten. Ihr seid es nicht wert, da ihr mich niemals richtig ernst nehmt.«

»Es ist nicht ganz leicht, dich ernst zu nehmen, lieber Kurt.«

»So? Bald wird mich die ganze Welt gewaltig ernst nehmen, denn ich werde einen Verbrecher entlarven.«

Die Brüder lachten laut, was Kurt sehr erboste.

»Fort mit diesem albernen Gelächter. Ihr sollt mit mir eine Wette eingehen. Jeder von euch setzt einen Taler, ich setze zwei Taler. Das Geld nimmt Onkel Breise in Verwahrung, denn ich traue euch, was Zahlungen anlangt, nicht über den Weg. In spätestens einer Woche ist die Sache entschieden.«

Sie gingen auf die Wette ein, ermahnten aber Kurt, sich nicht lächerlich zu machen und vor allen Dingen sich in keine Gefahr zu begeben.


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