Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Im »Zuckerhut«

Im Café »Zum Zuckerhut« war der Andrang nicht sehr stark; fünf Tische, fünf Menschen; an jedem Tische ein Mensch. Julia und Irene hatten sich an einem Ecktischchen zusammengefunden. Anfangs waren beide sehr verlegen. Die robuste Julia fand zuerst die Fassung.

»Nein, gnädiges Fräulein, wie Sie Ihrer Frau Mutter ähnlich sehen!«

»Ich danke, daß Sie mir das sagen. Sie haben meine Mutter gut gekannt?«

»Ob ich sie gut gekannt habe. Sie kam fast jeden Tag zu unserer gnädigen Frau, Frau Geheimrat Bruckner, bei der ich in Stellung war. Die beiden Frauen lebten wie die Schwestern zusammen, obwohl sie doch nur weitläufig verwandt waren. Sie waren auch wie Schwestern, beide engelsgut und beide sehr schön.«

»Ich habe meine Mutter nicht gekannt,« sagte Irene in stiller Trauer. »Ich war erst sieben Jahre alt, als sie starb. Jetzt bin ich zweiundzwanzig. Seit fünfzehn Jahren ruht Mutter in der Erde. Ich kenne sie nur von Bildern.«

»Ja, es ist traurig, wenn ein Kind keine Mutter hat. Wie haben Sie denn Ihre Jugend bisher verlebt, wenn ich Sie darum fragen darf, gnädiges Fräulein?«

»Sie dürfen alles fragen, Frau Breise. Nur, wenn Sie es übers Herz bringen können, sagen Sie nicht gnädiges Fräulein zu mir, sagen Sie Irene; Sie haben doch meine Mutter gekannt.«

Da lächelte die gutmütige Julia und sagte in ihrer freundlichen Art:

»Das will ich gerne tun! Ich habe ja das Irenchen schon vor zwanzig Jahren – also vor langer Zeit auf den Armen getragen und auf den Knien geschaukelt, ich habe ihre Puppen repariert und ihre kleinen Wehwehchen geheilt. Ja, ja, eine schöne Zeit war's doch. Noch kein Krieg und sonst noch kein schwerer Ärger. Und alles am Leben, nicht auf dem Friedhof. Ich werde Irenchen sagen, wenn Sie auch nicht mehr Frau Breise zu mir sagen, sondern Tante Julia, sofern ich dieser Ehre würdig bin.«

»Vielleicht werde ich einmal bitten, Mutter Julia sagen zu dürfen.«

»Nein, nein, Mutter ist ein zu hoher Titel für mich; der gehört einer, die im Himmel ist. Tante genügt schon. Tante zu sein, ist auch was Schönes. Und nun, Irenchen, sagen wir du zu einander und jetzt gib mir einen Kuß, und dann ist die Sache, wie mein Alter sagt, perfekt. Gib mir einen Kuß; die paar lumpigen Personen, die etwa hier zusehen, kommen gar nicht in Betracht.«

Sie küßten sich und dann saßen sie in großem Wohlgefühl beisammen. Kann solch ein Wunder sich so schnell ereignen? Alle Wunder ereignen sich so schnell. Die Sonne tritt aus den Wolken und küßt eine frierende Rosenknospe, und das Wunder ist geschehen. Julia hielt Irene fest an der Hand.

»Und nun, liebes Kind, sage mir, wie hast du bisher deine Jugend verbracht?«

»Ach, ich hatte Luxus, Luxus aller Art. Ich ging zwar in die Schule, aber ich hatte auch Gouvernanten, Hauslehrer. Ich war in Pension in Lausanne. Mein Vater nahm mich mit auf weite Reisen. Ich war am Nordkap und bei den Pyramiden von Ägypten. Ich hatte alles – alles – nur, ich hatte keine Kindheit, keine Jungmädchenzeit, nicht Vater noch Mutter. Vater hatte nicht Zeit für mich, und Mutter war tot. Ich habe das Gymnasium durchgemacht, habe das Abitur, habe Handelswissenschaften studiert auf Wunsch meines Vaters« –

Sie brach ab. Julia grübelte. »Ja, und dann, Irenchen, wie war's denn mit der Liebe? Wenn man zweiundzwanzig ist, dann weiß man doch schon Bescheid. Mit zweiundzwanzig habe ich mich mit meinem August verheiratet. Na, es geht allenfalls. Kinder haben wir leider nicht. Und er ist ein Filou noch in seinen alten Jahren. Weißt du, was er über dich gesagt hat? Er hat gesagt: Das ist, weiß der Himmel, das hübscheste Mädel, das in den letzten zwei Monaten in unser Hotel gekommen ist. In den letzten zwei Monaten! Er merkt sich das von Monat zu Monat. Er taxiert das alles ab. Ist er nicht ein Filou? Wo es sich um eine so ernste Sache handelt, wie diese, sich bloß in der Hauptsache darum zu kümmern, was das Mädel für ein Gesicht hat? Was geht ihn das an? In seiner Portierloge soll er sitzen beim Fahrplan und bei seinem Abraham a Sancta Clara, aber sich nicht darum bekümmern, was die Damen, die ins Hotel kommen, für Gesichter und Figuren haben! Du wirst einsehen, Irenchen, daß ich nicht eine Spur eifersüchtig bin. Wie sollte ich auch? So ein alter Krauter hat bei der Damenwelt sowieso kein Glück mehr, und dann bin zum Glück ja auch ich noch da.«

Das Irenchen wußte zu diesem leidenschaftlichen persönlichen Ausbruch nichts Ordentliches zu sagen; es schwieg und dachte nur darüber nach, wie es eigentlich zur Hauptsache kommen sollte, zu dem Zerwürfnis zwischen den beiden Häusern Bruckner. Julia begann wieder zu sprechen.

»Ich sage dir, Irenchen, wenn du dir je einen Hund anschaffen solltest, nimm eine Hündin, keinen Rüden. Die Hündin bleibt treu beim Hause, der Rüde treibt sich rum. Das glaube mir! Im übrigen darfst du glauben, daß mein August ein sehr guter Mann ist. Dreißig Jahre sind wir nun verheiratet, und wenn ich noch einmal zweiundzwanzig wäre, würde ich keinen anderen heiraten als den August trotz seiner scheußlichen Schwächen.«

Irene nickte matt. Dann sagte sie: »Ja, liebe Tante Julia, ich möchte hauptsächlich doch einmal Klarheit haben über die Angelegenheit zwischen meinem Vater und der Familie des verstorbenen Geheimrats Bruckner, seiner Frau und Familie.«

Julia schnaufte auf.

»Da siehst du, Irenchen, was für feiges Gelichter die Männer sind! Gibt es mal eine schwierige Sache – fechten sie die selber aus? Nein! Wenn sie irgendwie können, schieben sie alles Ärgerliche, was so im Leben vorkommt, auf die Frau ab. Sie sind nicht besser als die Hottentotten, die alles Beschwerliche, alle Arbeit auf ihre Weiber abladen. O, die Halunken! Nun, ich habe meinem August Bescheid gesagt darüber, daß er, feige, wie er ist, dir über deine Angelegenheit nicht Bescheid gesagt hat. Denn daß er nicht Bescheid wußte, wie er dir gesagt hat, ist Lüge. Er weiß genau Bescheid. Aber er hat dir nicht Bescheid gesagt, er hat nur dein hübsches Gesicht gesehen – der Filou. Da hat es ihm leid getan, hat er gesagt. Er hat alle Last wieder einmal auf meine schwachen, weiblichen Schultern abgewälzt.«

»Und kann ich nicht erfahren, was mir das Herz bedrückt, das, was zwischen meinem Vater und den Brucknersöhnen liegt?«

»Liebes – geliebtes Kind! –«

Nach dieser Antwort kam eine minutenlange Pause.

»Liebes Kind, wenn schon für einen Mann, der August doch immerhin ist, diese Aufgabe zu schwer ist, wie viel mehr ist das für eine zarte Frau, wie ich es bin, zu schwer. Liebes Kind, warum rührst du überhaupt an dieser Sache, die doch allen wehtun muß, wo nichts mehr zu bessern ist? Fürchte nichts, Irenchen, solange ich und mein August am Leben sind, wird es den Brucknersöhnen am Notwendigsten nicht mangeln. Und sie sind alle klug und gut, und sie kommen schon hinauf im Leben.«

Irene barg das Gesicht in den Händen.

»O Gott – auch du gibst mir keine Auskunft. Ich muß Klarheit haben.« »Ich kann's nicht,« sagte Julia leise; »ich bring's nicht übers Herz. August war feige, weil er's auch nicht konnte, aber weshalb ist er ein sogenannter Mann? Ich bin ein schwaches Weib – ich kann's nicht. Einen Rat will ich dir geben, Irenchen. Wenn du nun durchaus alles wissen willst, geh zu Dr. Breitner. Der war Jurist; jetzt ist er Landgerichtspräsident. Er war der beste Freund von Geheimrat Bruckner, er weiß Bescheid. Ach, liebes Kind – ach, Irenchen, nun hatten wir uns endlich gefunden und nun endet es so traurig.«

Nein, es endete nicht traurig. Sie saßen noch ein Weilchen zusammen und verabredeten eine neue Zusammenkunft für Donnerstag.


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