Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Abendandacht

Das waren bei aller Bescheidenheit in der äußeren Lebensführung ganz prächtige Abende in der Familie Breise. Eine kleine Überraschung hatte Frau Julia immer; einmal hatte sie Rapünzchen und einmal hatte sie Radieschen; wenn es kalt war, einen Punsch, wenn es warm war, ein Weißbier. Sehr bescheiden war das, aber gut gemeint.

Richard, der Älteste, war der verschlossenste unter allen. Seinen Brüdern gegenüber hatte er tiefe Scheu, sich auszusprechen, Frau Julia gegenüber aber sickerte manches durch. Und die war hellhörig, wenn sie sich auch niemals neugierig oder gar aufdringlich zeigte.

Es ging etwas vor mit dem Herrn Referendarius, seit er auf dem Gesellschaftsabend gewesen war, das merkte sie deutlich; er war verändert. And woher hatte er plötzlich die große Vorliebe für Tennisspiel? Er hatte es über sich gebracht, Papa Breise gegen Schuldschein um ein neues Darlehen zu bitten und sich einen vornehmen Tennisdreß gekauft. Hinter diesem Tennisanzug steckte selbstverständlich ein Weib, und hinter dieses Weib mußte Julia kommen. Wäre noch schöner. Wenn Richard jetzt zu seinen wenigen Lateinstunden gehen sollte, seufzte er, als ob er in ein Martyrium müsse. Schließlich verschob er die Stunde auf die Abendzeit; sicher vernachlässigte er auch seine Studien; alle Nachmittage, die gutes Wetter hatten, brachte er auf den Sportplätzen zu. Julia regte sich auf und besprach sich schließlich mit ihrem Manne. Der sagte: »›Jugend hat keine Tugend‹, aber am Abend will ich zur sonderen Nachtandacht ein gut Sprüchlein von Abraham a Sancta Clara aus dem ›Großen Narrennest‹ vorlesen zu Lehr' und Abwehr.«

Am Abend, als alle versammelt waren, las August, ohne Einleitung, auch ohne eine Verbindung mit der Abendbrotangelegenheit zu machen, aus dem großen Narrennest, indem er lediglich voransetzte: »Eine kurze nützliche Abendandacht.«

Die Lieb ist ein Dieb. Ein Dieb ist gewesen Judas, weil er Geld gestohlen, ein Dieb ist gewesen Achan, weil er bei der Eroberung von Jericho einen Mantel gestohlen; aber noch ein größerer Dieb ist die Lieb, denn diese stiehlt dem Menschen die Vernunft und macht ihn zum Narren. Amantes, amentes! Das heißt zu deutsch: Verliebte sind Verrückte. Amnon, ein Sohn des David, hat sich dergestalten verliebt in seine Schwester, die Thamar, daß er vor lauter Lieb krank und bettlägrig geworden. Es hat ihm weder Essen noch Trinken geschmeckt, das Gesicht ist ihm ganz und gar eingefallen, daß er ausgesehen wie eine ausgeblasene Sackpfeifen. Tag und Nacht hat er geseufzt, nicht anders als eine ungeschmierte Haustür. Er war dergestalten entzündet in der Lieb, daß er ohne Gefahr noch Schaden nicht hätte bei einem Strohdach vorbeigehen können. Wohl recht hat der Poet gesagt:

Bacchus und der Weiber Garn
Machen viel zu lauter Narrn.«

Es herrschte nach der Andachtslesung Schweigen; keiner der drei Brüder sagte etwas; alle sahen vor sich hin. Richard dachte: Ob sie eine Ahnung haben von meiner Liebe zu der bildschönen Sabine? Er wurde rot.

Elmar, der Zeitungs- und Theatermann fragte sich: Es wird ihnen doch nicht jemand etwas zugetragen haben über meine glühende Bewunderung für die göttliche Sabine Sabina? Und er wurde auch rot.

Kurt dachte: Sie scheinen was in die Nase gekriegt zu haben von meiner Anbetung für die berauschende Emmy vom Buffet. Warum läse sonst der Alte solchen Zimt vor vom gestohlenen Mantel, vom König David, vom Strohdach und vom Weibergarn? – –

Vor dem Einschlafen besprach sich Julia mit ihrem Manne.

»Hast du gemerkt, August, wie sie nach deiner Vorlesung alle drei rot wurden? Keiner von den drei Schlingeln hat ein reines Gewissen. Alle drei, sogar Kurt, der freche Knirps, hatte ein schlechtes Gewissen. Da haben wir ja ein schönes Narrennest beisammen. Es ist unerhört! Solch unreife Burschen!«

»Sie sind halt jung!«

»Was heißt jung? Sie wollen vorwärts, sie wollen das Glück suchen. Kann einer, so frage ich, sein Glück suchen, wenn er verliebt ist? Kann er in Wahrheit jemals glücklich sein, wenn er es mit der Liebe hält?«

»Nein,« sagte August Breise und seufzte.

Julia lag eine ganze Weile still; sie grübelte. Dann rüttelte sie ihren Mann am Ärmel. »August, warum hast du auf meine Frage, ob jemand, der's mit der Liebe hält, glücklich sein könne, ›nein‹ gesagt und geseufzt? Hast du es nicht auch einmal mit der Liebe gehalten?«

»Ja!« sagte August matt.

»Und bist du nicht in Wahrheit sehr glücklich geworden? Antworte!«

Aber August antwortete nicht, er schnarchte.

»Er verstellt sich!« sagte Julia. »Na warte, mein Lieber! Dir werde ich den Standpunkt klarmachen, noch deutlicher, als dein Abraham a Sancta Clara es versteht! Seufzt, wenn ich nach Liebe frage, und sagt nein.«

Sie wälzte sich lange im Bett herum, und als sie endlich einschlief, träumte ihr, daß sich alle drei Brucknersöhne aus Liebesnot erschossen. Elmar hatte ihr moderne Bücher aus der Zeitung mitgebracht und ihr gesagt, es seien die erhabensten Werke der Welt; wer überhaupt zur gebildeten Gesellschaft gehören wolle, müsse diese Bücher gelesen haben, wenigstens teilweise, den Anfang, ein Stück aus der Mitte und den Schluß. Mehr hielte er selbst nicht aus. Julia hatte ein wenig an diesen Büchern herumgenascht, mit großem Mißbehagen, aber das eine hatte sie festgestellt, fast alle modernen Bücher endeten mit Selbstmord, Tod an der Schwindsucht oder Irrenhaus. Die literarische Selbstmordepidemie fiel sie nun an und bereitete ihr wegen der verliebten Brucknerjungen im Traum eine unruhige Nacht.

Als sie angstgeschreckt einmal erwachte, sah sie ihren Mann friedlich schlummern.

»Der schläft, als ob er kein Wässerchen trüben könne. O! O! Vier Männer habe ich jetzt im Hause und einer taugt ebensowenig wie der andere.«


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