Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Graf Luwowsky

Auf dem Heimwege begegnete Irene dem Grafen Luwowsky. Der Graf verkehrte viel im Hause ihres Vaters. Er konnte als Freund des Hausherrn gelten, hatte sich nach und nach durch sein liebenswürdiges Wesen und seine gesellschaftlichen Talente ganz dessen Vertrauens bemächtigt und ging oft abends mit ihm aus. Er fehlte bei keiner, auch nicht der kleinsten Hausgesellschaft.

Graf Luwowsky war ein schöner Mann, allerdings von der weichlichen Schönheit romantisch-melancholischer Polen. Er hatte eine wunderschöne Stimme und spielte meisterlich Klavier. Seine schmalen, schlohweißen Hände waren von klassischer Form. Gegen Irene benahm er sich mit der geschickten Ritterlichkeit, die oft die Polen auszeichnet. Jedermann sah, daß er sich um Irenes Gunst bewarb, auch Irene selbst wußte das; aber er war von so zarter Zurückhaltung, daß der schöne elegante Mann Irene sympathisch wurde. Die Liebe zu seinem Vaterlande verstand sie, auch die geradezu anbetende Schwärmerei für Chopin, den gewaltigen Tonheiligen der Polen. Er hieß Frédéric, wie der große Träumer, Dichter und Philosoph am Klavier, und er war wie jener mit heiligem Osterwasser getauft. Was Heinrich Heine über Chopin gesagt hat, das hat er ihr aufgeschrieben: »Er hat das Beste, was drei Völker auszeichnen: Polen gab ihm seinen chevaleresken Sinn und seinen geschichtlichen Schmerz; Frankreich gab ihm seine leichte Anmut, seine Grazie; Deutschland gab ihm seinen romantischen Tiefsinn. Die Natur gab ihm eine zierliche schlanke Gestalt, das edelste Herz und das Genie. Wenn er am Klavier sitzt, verrät er seinen wahren höheren Ursprung, dann ist er weder Pole, noch Franzose, noch Deutscher; sein wahres Vaterland ist das Traumreich der Poesie.« Schön war das. Manchmal freilich war es der gesunden deutschen Art Irenens so erschienen, als ob Graf Luwowsky mit seinem Nationalschmerz kokettiere, als ob er selbst sein Bild in den Goldrahmen von Heinrich Heine spannen wolle. Dann entfernte sich ihre Seele von ihm.

Aber wenn er eine der Mazurken von Chopin spielte, dann trat aus den masurischen Wäldern, dann fuhr auf Nachen das masurische Volk, dann tanzten sie am Ufer ihre Slaventänze in wilder Lust, und Feuer war neben Kälte, Lust neben Leid, Gier neben Ablehnung, Werben neben Gewähren, Taumel, Jugend, Seligkeit und doch immer das eine süße und doch so wehe Leid, das Sehnsucht heißt.

Das ist Chopin, von dem Graf Luwowsky wohl mit Recht sagte: »Er hatte keinen Vorgänger und hat keinen Nachfolger gefunden, er war ein ganz Eigener, ein Unnachahmlicher.«

Erst durch den Grafen hat Irene Chopin verstehen gelernt, vorher hatte sie seine Mazurken, Walzer und Etuden gespielt, wie man eben Klavierstücke spielt. Sie schämte sich dessen jetzt und war dem Grafen dankbar, daß er ihr eine Wunderwelt von Seltsamkeit und Schönheit erschlossen hatte. Deshalb duldete sie auch die zarten, stillen Huldigungen Luwowskys, ohne jemals für den schönen Polen etwas Tieferes zu empfinden. –

Am Tage, als er sie nach dem Zusammensein mit Julia traf, sagte er, indem er sie mit seinen schönen Augen treuherzig ansah: »Mein gnädiges Fräulein, zunächst muß ich Ihnen ein Geständnis machen; ich bin Ihnen nicht zufällig begegnet, ich bin Ihnen nachgegangen, habe stundenlang in der Nähe jenes Kaffeehauses auf Sie gewartet.«

»Mir nachgegangen?«

»Ja, meine Ehrlichkeit zwingt mich, Ihnen das zu sagen: Ihr Herr Vater ist verreist und ich habe ganz zufällig erfahren, daß Sie mit drei Söhnen einer verwandten Familie Bruckner in Fühlung getreten sind –«

»War das für Sie von Interesse?« fragte sie scharf.

»Ja,« antwortete er freimütig. »Wenn Sie gefragt hätten: Geht Sie das etwas an? Haben Sie sich da reinzumischen? dann hätte ich freilich nein sagen müssen. Aber von Interesse war es für mich, daß Sie sich mit dieser Frau Julia Breise in diesem obskuren Lokal »Zum Zuckerhut« trafen. Ich schwöre Ihnen, Fräulein Irene, daß ich nie mehr auch nur einen Schritt zu Ihrer Bewachung unternehmen werde, sobald Ihr Herr Vater zurück ist. Ihr Vater ist mein Freund geworden. Anfangs wollte ich ihm meine Befürchtungen schriftlich mitteilen. Aber er hat so schwierige geschäftliche Dinge zu erledigen, daß er nicht gestört werden darf. Nein, gnädiges Fräulein, ich bin Ihnen nicht nachgeschlichen als Spion oder wie ein Kriminalist, ich bin Ihnen nachgelaufen wie ein treuer Hund, der sich aus lauter Angst um seine Herrin keinen andern Rat mehr weiß.«

»Wie fanden Sie meine Spur?«

»Durch einen Zufall. Ein Landsmann von mir, der als Maler dunkle Vorstadtgassen aufsucht, um daselbst seine ›Armeleutestudien‹ zu machen und der Sie von ferne und aus meinen gelegentlichen Erzählungen kennt, sah Sie im »Zuckerhut« mit Frau Julia Breise. Er hat Sie beide sogar skizziert, ohne daß Sie es gemerkt haben. Er hat sich dann über Frau Breise bei dem Kellner erkundigt und bei der Geschwätzigkeit solcher Leute natürlich alles mühelos herausbekommen, was er wissen wollte. Er hat mir Bescheid gesagt über diese Frau und über diese ganze Vorstadtgegend.«

»Frau Julia ist bestimmt eine sehr brave Frau.«

»Das ist sie. Das steht außer allem Zweifel! Aber die Gegend, gnädiges Fräulein! Die Salzstraße soll in der Hauptsache von einwandfreien Kleinbürgerleuten und anständiger Arbeiterbevölkerung bewohnt sein, aber in den Nebengassen haust Gesindel. Verbrecherkneipen sind dort, Apachenkeller, Totschlägereien gibt es, Morde, räuberische Anfälle, Erpressungen.« »Gruselig!« lachte Irene.

»Gnädiges Fräulein, Ihr Mut, Ihre Unerschrockenheit sind bewundernswert; aber was ich sage, sind nicht Schauermärchen meines Landsmanns, des Malers, ich habe mich bei der Kriminalpolizei erkundigt; der letzte Lustmord in jener Gegend geschah vor vier Monaten, der letzte Raubanfall am hellichten Tage vor zwei Wochen. Diese Bestien schrecken vor nichts zurück, werden immer frecher. Können Sie nun meine Sorge ermessen, als ich erfuhr, daß Sie sich allein, ganz ohne Schutz in jene Gegend wagen?«

»Ich habe mit Frau Breise wichtige Dinge zu verhandeln, und diese schlichte Frau würde sich weigern, ein elegantes Lokal zu betreten.«

»Es braucht kein elegantes Lokal zu sein, nur eines in einer sicheren Gegend. Da fällt mir ein: könnten Sie nicht Frau Breise in Ihrem eigenen Hause empfangen? Das wäre doch das sicherste und bequemste für Sie.«

»Ich glaube nicht, daß die Frau zu mir kommen würde. Jedenfalls, Herr Graf, bin ich überzeugt, daß Sie es treu und gut gemeint haben, und dafür danke ich Ihnen.«

»Ich bin überaus glücklich, das zu hören. Gnädigstes, verehrungswürdigstes Fräulein Irene! Wenn ich auch nur ein Pole bin, einen ergebeneren Diener als mich werden Sie niemals haben.«

»Warum sagen Sie: wenn ich auch nur ein Pole bin!«

Er sah sie schmerzlich an und seufzte.

»Hierzulande –«

»Hierzulande soll man den Menschen nicht nach seiner Herkunft beurteilen, sondern nach seinen geistigen und moralischen Werten, nach seinem Charakter.«

»Sollte man!« sagte er. Dann wurde er mit einem Male lustig, erzählte einige Drolligkeiten aus der Gesellschaft, denn Graf Luwowsky wurde viel eingeladen. An der Tür des Brucknerschen Hauses verabschiedete sich der Graf von Irene in seiner dezenten, ritterlichen Weise.

*

Irene wurde den ganzen Abend ein peinliches Gefühl nicht los. Alles in allem war das Verhalten des Polen, wenn auch nicht gerade aufdringlich, so doch merkwürdig.

Am nächsten Morgen bekam Irene einen Brief von Julia. Die Rechtschreibung war nicht einwandfrei, aber der Inhalt war erheiternd.

Liebes Irenchen!

Ach, was bin ich nachträglich erschrocken. Wie ich zu Hause bin, rechnete ich noch einmal nach und da hast du doch, weiß Gott, im Zuckerhut 35 Pfennig zu viel gezahlt. Ich bin gleich wieder hin und es hat sich alles richtig herausgestellt; der Kellner hat einen Anpfeifer gekriegt und ich meine 35 Pfennig. Und die schicke ich hier in Briefmarken; hoffentlich gehen sie auf der Post nicht verloren durch einen Postmarder. Herzlichen Gruß!

Julia.

»Das also ist Ehrlichkeit,« sagte Irene nachdenklich.


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