Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Der Galataturm

Richard kam nach dem Hotel zurück. In dem winzigen Vestibül saß er in einem Rohrlehnstuhl. Er wunderte sich über sich selbst. Es war ganz still in ihm, kein tobender Zorn, kein nagender Schmerz, nur eine dumpfe Stille. Plötzlich fiel ihm sein Bruder Elmar ein. Er fragte den Portier. Nicht zurückgekommen.

Richard eilte nach dem Zimmer, das er mit Elmar gemeinsam inne hatte. Er fand den Bruder nicht anwesend. Ein Zettel lag auf dem Tische: »Lebe wohl, lieber Bruder, grüße Kurt, grüße August und Julia Breise, grüße die göttliche Sabine, grüße das schöne Leben.«

Ein jäher Schreck! Elmar! Seelischer Zusammenbruch? Selbstmord? O Gott! Wo – wo war der Junge? – Er hatte sich in seiner Verblendung nicht mehr um den Bruder bekümmert. Richard schlug sich die Fäuste an die Schläfe.

»Elmar, wo bist du, wo bist du?«

Im schrecklichen Fieberfeuer der Gewissensqual über die Schuld, die er dem Bruder gegenüber auf sich genommen hatte, verbrannte Richards Liebe zu dem unseligen Weibe Sabine in Sekunden zu Asche.

Wo ist Elmar? Wo ist der liebe, junge, törichte Bruder? Was tut er sich an? Wo ist er? Wie kann er ihn suchen in dieser Millionenstadt, die vom europäischen bis zum asiatischen Ufer hinüberreicht? Die Polizei! Jawohl, Polizei gibt es auch in Konstantinopel. Aber das orientalische Phlegma, die mangelhafte Organisation! Die Leute würden ihn überhaupt nicht verstehen. Sie würden ihm sagen: Wenn eine Leiche dieses von Ihnen beschrieben Menschen eingeliefert werden sollte, dann werden wir Ihnen auf Ihre Rechnung im Bristolhotel durch einen Eilboten Kenntnis geben.

Wo ist Elmar? Wo ist Elmar? Alles bricht zusammen. Die Liebe ist tot. Die Hoffnung ist tot. Ist auch der Bruder tot? Oder kann er ihn noch finden? Wo? Wo?

Wie ein Blitz der Erkenntnis ist es, daß ihm plötzlich einfällt, er ist auf dem Galataturm. Immer in seinen wachen oder nächtlichen Träumen hat Elmar vom Galataturm gesprochen.

Im Mietsauto fährt Richard nach dem Galataturm, der wie ein trotziger Titan hinabschaut auf die Vereinigung des Bosporus mit dem Goldenen Horn und hinüberblickt zum Serail und zur Hagia Sophia, der schönsten Kirche des Orients.

Am Eingang wird ihm gesagt, ein Herr des Aussehens, wie er es schildre, sei schon lange oben. Man müsse ihn herunterholen, denn der Turm würde jetzt geschlossen.

Hinauf!

Und er fand den Bruder Elmar. Er hatte ein beschriebenes Blatt Papier in der Hand.

»Lasse mich – lasse mich – es ist mein letztes Gedicht – mein schönstes Gedicht im Angesicht der Hagia Sophia und im Angesichte des Todes geschrieben – es ist noch nicht vollendet – nur noch eine Minute fehlt zur Vollendung – zur Vollendung des Gedichtes und meines Lebens.«

Dieser weihevollen Todesstimmung wurde ein plötzliches Ende bereitet. Elmar Bruckner wurde auf einen Wink Richards von einem starken, armenischen Turmhüter etwas brutal, aber sehr sicher zur Erde zurückbefördert, in ein Auto gesetzt und ins Hotel geführt. Dort bekam er noch einen Schüttelfrost, dann fiel er in todähnlichen Schlaf.


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