Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Jus

Irene ging zu Dr. Breitner. Ein Gang zu einem Juristen in amtlichen oder halbamtlichen Dingen ist vielen Menschen so unangenehm wie ein Besuch beim Zahnarzt, wenn es gerade ans Wurzelbohren gehen soll. Dr. Breitner aber war ein freundlicher Mann, obwohl er Landgerichtsdirektor war. Irene führte sich durch Berufung auf den verstorbenen Geheimrat Bruckner bei ihm ein. »Sie sind eine Verwandte meines verstorbenen Freundes Bruckner, gnädiges Fräulein?«

»Die Tochter seines Vetters Franz Bruckner.«

»Ach ja – der!« Ein Schatten huschte über das Gesicht des Juristen. »Fabrikbesitzer? Nicht wahr? Kommerzienrat? Lederwaren?«

»Jawohl, Herr Direktor.«

»Und womit kann ich Ihnen dienen, gnädiges Fräulein?«

Sie zögerte ein Weilchen, dann schüttete sie ihr übervolles bedrücktes Herz vor dem alten Herrn aus.

Dr. Breitner hörte anfangs mit finsterem Gesicht zu, dann erhellten sich seine Züge und er sah mit Wohlwollen auf das erregte Mädchen. Als sie schwieg, sagte er:

»Sie wollen mich befragen, was ich von dieser Angelegenheit weiß. Sind Sie schon majorenn, gnädiges Fräulein?«

»Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, Herr Präsident.«

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, Fräulein Bruckner, daß das, was ich mitteilen könnte, durchaus nichts Erfreuliches ist und das Verhältnis zu Ihrem Vater, das, wie es den Anschein hat, ein nicht ganz ungetrübtes ist, nicht verbessern wird. Wollen Sie die traurige Angelegenheit, über die so viele Jahre vergangen sind und in die der Tod eingegriffen hat, nicht lieber ruhen lassen?«

»Nein, ich ertrage es nicht länger! Mein Vater überhäuft mich mit den kostbarsten Dingen, die für Geld zu haben sind. Ich bin sein einziges Kind. Gegenwärtig ist er auf einer Geschäftsreise; aber heute früh bekam ich einen Brief, er hätte Schiffskarten nach Korfu, Athen, Konstantinopel, Alexandria, Kairo genommen, dann soll es über Sizilien, Neapel, Rom, Gardasee nach Hause gehen. Soll ich das alles erleben, soll ich im Überfluß schwelgen, mit Brillanten behangen im Prachtsaal des Luxusschiffes tanzen, während meine Vettern, die durch meinen Vater um ihr Erbe kamen, von der Gnade eines Portierehepaares im vierten Stock eines Vorstadthauses leben? Nimmermehr!«

Der Präsident sagte milde: »Gnädiges Fräulein, was Sie da ausführen, ehrt Sie. Aber ich gebe Ihnen das eine zu bedenken, daß Frau Bruckner, die Gattin meines unvergeßlichen Freundes, ihr Geld auch verloren haben würde, wenn sie es Ihrem Vater nicht geliehen hätte. Wir alle haben unser Geld verloren, ich z. B. das meinige auch, so nötig die paar Spargroschen einmal meinen Kindern sein würden, wenn ich die Augen zumache. Das war halt der Krieg und die schlimme Nachkriegszeit.«

»Nicht alle haben ihr Geld verloren. Der Portier, der jetzt der Wohltäter der Brucknersöhne sein muß, hat sein bißchen Geld nach der Schweiz gerettet.«

»Ja, wer so vorsichtig war –«

»Gut, Herr Präsident, wer sein Geld dem Vaterlande gab, der darf den Kopf hoch tragen, wer es an einen Fremden verlor, hat ein Recht auf Trauer, aber wem es von einem Verwandten abgeluchst wurde, für den ist der Verlust unerträglich.«

»Sie urteilen sehr hart.«

»Ich urteile gerecht. Mein Vater hat mit dem Gelde der anderen einen großen Betrieb aufgerichtet; nicht einen Keller hat er verloren im Kriege oder in der Inflationszeit, immer nur verdient, grob verdient. Dessen rühmt er sich mir gegenüber manchmal. Und die Brucknersöhne darben. Herr Präsident, ist denn die Frau Ihres verstorbenen Freundes, ehe sie meinem Vater ihr Geld anvertraute, nicht zu Ihnen um Rat gekommen?«

»Leider nein, leider! Wahrscheinlich hätte ich den Mut zu einem Rat aufgebracht, den ich mir selbst als deutschem Beamten nicht geben durfte, einen Teil ihres Vermögens im neutralen Auslande für ihre Kinder zu sichern und nur das andere zu opfern. Sie kam nicht, sie hat sich niemals an mich gewandt, wohl aus Stolz; meine Versuche, helfend einzugreifen, wurden höflich, aber bestimmt zurückgewiesen; von ihrem Tode erfuhr ich erst durch Ihren Brief.«

»Herr Präsident, ich bitte um nichts mehr als um die Beantwortung von zwei Fragen.«

»Nun?«

»Die erste Frage ist: Wieviel hat Frau Geheimrat Bruckner in Goldmark meinem Vater geliehen? Die zweite Frage lautet: Wieviel hat Frau Bruckner von meinem Vater in Goldmark zurückerhalten? Um das dreht sich alles.«

Der Präsident wanderte im Zimmer hin und her, schließlich setzte er sich Irene gegenüber.

»Nun, es ist kein Geheimnis; es wissen eine ganze Reihe von Menschen um diese Sache. So will ich es Ihnen sagen, da ich ein Recht darauf, Bescheid zu wissen, Ihnen zubilligen muß. Frau Geheimrat Bruckner übergab Ihrem Vater 750 000 Goldmark, also dreiviertel Millionen, so gut wie ihr ganzes Vermögen.«

»Sieben – hundert – fünfzig – tausend Goldmark! Und was bekam sie zurück? Wann bekam sie das Geld zurück?«

»Am 1. Oktober 1922.«

»In Papiermark! Was waren die in Gold wert, dreiviertel Millionen in Goldmark, zurückgezahlt in Papiermark; wieviel in Gold bekam Frau Bruckner zurück?«

»Ich habe es damals notiert,« sagte der Präsident. Er ging nach dem Nebenzimmer und kehrte mit einem Notizbüchlein zurück.

»Der Dollar stand am 1. Oktober 1922 auf 7300, das heißt also 1800 Papiermark waren etwa eine Goldmark wert. Das weitere ist leicht nachzurechnen, Frau Bruckner hat, als ihr Vater dreiviertel Millionen in Papiermark zurückgab, damit etwa 450 Mark in Goldwert erhalten.«

»Für dreiviertel Millionen Mark im ganzen 450 Mark zurück?« fragte Irene entsetzt.

»Die Rechnung stimmt.«

»Entsetzlich!«

Irene schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.

»Ja, liebes Fräulein, rechtlich läßt sich nichts machen, es gab damals kein Gesetz zum Schutze der Gläubiger, und wer eben seine Schulden abzahlte, sei es auch in fast wertlosen Papierscheinen, der war die Schulden los. Was kümmerten ihn die Gläubiger, die alles verloren? Er war im Rechte!«

»Doch nicht im wahren, gottgeschützten moralischen Rechte!« rief Irene leidenschaftlich.

»Das ist etwas anderes. Das ist Ansicht – oder vielmehr Gewissenssache des einzelnen. Der Staat kümmert sich darum nicht. Da siehe du zu.«

Irene saß still da und stierte stumpf vor sich hin.

»Also, daher stammt unser Reichtum! Damit wird mein Luxusleben bezahlt! – Herr Präsident, konnte mein Vater im Jahre 1922 wissen oder wenigstens ahnen, daß eine Stabilisierung der Mark und damit voraussichtlich eine Aufwertung erfolgen würde?«

»Jeder einigermaßen Eingeweihte wußte Bescheid.«

»Und da hat er sich gedrückt! Verdient haben ja alle Schuldner viel, viel. Aber es war doch ehrlich, wenn sie ihre Schuld nicht kündigten, sondern die Entwicklung der Dinge abwarteten. Mein Vater hat nicht abgewartet, sondern im Schutz der Gesetzlosigkeit 750 000 Goldmark mit 450 Mark anno 22 rechtzeitig abgezahlt, noch ehe er zu einer anständigen Leistung gezwungen werden konnte.« Irene erhob sich.

»Herr Präsident, nichts für ungut, aber ich habe vor unserer Gerichtsbarkeit keinen Respekt. Wenn ein armer Teufel jemand einen Taler stiehlt, wird er eingesperrt, wenn mein Vater die Familie Bruckner um ein großes Vermögen bringt, geschieht ihm gar nichts –«

»Die ganz besonderen Verhältnisse –« warf der Präsident ein.

»Ganz besondere Verhältnisse gibt es nicht. Es gibt Recht und Unrecht, es gibt mit Gott oder gegen Gott. Sonst nichts. Gott wenigstens läßt sich auf faule Ausreden und unsaubere Kompromisse nicht ein, das werden wir alle einsehen, wenn wir nach unseren paar Lebensjahren die Augen werden schließen müssen und oben die Abrechnung finden werden, die dann sicher bis auf den hundertsten Heller stimmt. Diese Rechnung wird haargenau beglichen werden müssen; niemand wird da fragen, ob die preußische Regierung ein Schutzgesetz erlassen hatte oder nicht, ob es große Löcher in der Umzäunung der Pflicht gab, durch die man entweichen konnte. Das ist mein Glaube, das ist meine sichere Hoffnung auf einmalige wirkliche Vergeltung jenseits der irdischen Gesetzbücher.«

»Liebes Fräulein, die Gesetze dieser Erde sind von fehlbaren Menschen gemacht –«

»Von schachernden Parteien sind sie gemacht.«

»Nun, sie stammen wohl aus ehrlichem Wissen und Willen, wenn Sie auch trotzig die Schultern zucken. Und diese Gesetze werden ausgeführt von Richtern, die ja nicht einmal eine persönliche Veranlassung haben, das Recht zu fälschen, sondern die einfach ihre Pflicht erfüllen.«

»Das weiß ich nicht; ich weiß nur, daß Urteilssprüche ergehen, die kein unvoreingenommener Mensch versteht. Schließlich geht mich nur mein eigener Fall an. Ich werde meinen Vater zwingen, das veruntreute Geld den Brucknersöhnen zurückzuerstatten.«

»Wie wollten Sie denn das zuwege bringen? Das tut er doch nie und nimmermehr! Keine gesetzliche Handhabe zwingt ihn dazu, und ein so subtiles Empfinden und Gewissen wie Sie hat er sicher nicht.«

»Ich besitze eine Handhabe. Ich stelle ihm die Wahl: entweder du gibst den Brucknersöhnen ihr Vermögen zurück oder du verlierst mich, dein einziges Kind, für immer. Dann werden wir sehen, wie er sich entscheidet.«

Der Präsident schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Nun, wenn Sie sich von Ihrem Vater trennten, können Sie sich in der Welt allein behaupten?«

»Ich habe mein Mutterteil, allerdings ist es nicht groß, nur zehntausend Mark.«

»Und wenn diese Zehntausend in der Inflation zu Wasser geworden sind?«

»Ich weiß nicht, wie das Geld angelegt war; ich vermute, es steckt im Geschäft.«

»Haben Sie einen verbrieften Geschäftsanteil?«

»Nein!«

»Hm! Liebes Fräulein, mein Rat geht dahin: versuchen Sie nicht, Berge zu verrücken, die nicht zu verrücken sind. Tragen Sie den Zeitverhältnissen Rechnung! Wagen Sie nicht voreilig den Schritt in die Fremde. Wovon wollen Sie leben, wenn Sie sich von Ihrem Vater trennen und wenn Sie sich etwa Ihr Mutterteil erst in einem langwierigen Prozeß erkämpfen müssen, oder es gar nicht bekämen, oder wenn es, etwa in Kriegsanleihe angelegt, zu nichts wurde?«

»Ich werde arbeiten.«

»Was werden Sie arbeiten?«

»Ich werde meine handelswissenschaftlichen und sprachlichen Kenntnisse verwerten. Ich kann auch perfekt stenographieren, Maschine schreiben und in Buchführung, sowie in deutscher und fremdsprachlicher Korrespondenz tätig sein.«

»Alle Achtung! Aber – haben Sie schon eine Stellung in Aussicht?«

»Nein!«

»Nun, liebes Kind – ich darf wohl einmal so sagen – dann warne ich Sie vor dem Sprung ins Ungewisse! Die tüchtigsten Menschen müssen heute Kette stehen vor einer Bewerbungsstelle und werden trotz hoher Qualitäten schließlich doch abgelehnt. Ungeheures Angebot, fast gar keine Nachfrage. Sie ahnen nicht, wie riesig schwer der Lebenskampf heute für alle die ist, die keinen festen Besitz haben, die sich ihren Erwerb suchen, ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen.«

»Aber wenn sie diesen Lebensunterhalt verdienen, haben sie das Glück und die Ehre, sich als ehrliche Menschen fühlen zu dürfen. Und das ist schließlich doch das Wesentliche! Das ist überhaupt alles!«

»Das ist richtig! Fräulein Irene, erlauben Sie einem alten Manne, Ihnen offen seine Meinung zu sagen: Sie sind sehr schön! Schütteln Sie nicht den Kopf; Sie sind sehr schön, nicht nur körperlich, sondern was bedeutend wichtiger ist: seelisch. Aber Sie sind auch eigentümlich, sind trotzig, ja fanatisch. Und mit solchen Eigenschaften können Sie, liebes Kind, in einer Zeit, die kein Geradehindurch kennt, sondern immer und immer kluges, geschicktes Ausweichen verlangt, ins Unglück rennen. Der Wanderer auf heilig stillem Waldwege kann geradeaus seines Weges wandern, der Automobilist auf belebter Straße muß ausweichen, höchste Vorsicht walten lassen; sonst verunglückt er und die, die ihm begegnen.«

Irene erhob sich.

»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für alles Wohlwollen und alles Interesse.«

»Ich stehe Ihnen als Berater und auch als Helfer, soweit ich dazu imstande bin, jederzeit zur Verfügung.«

Irene bedankte sich noch einmal und ging.


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