Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Aber am nächsten Morgen ...

So schön und friedlich der eine Tag beschlossen hatte, so stürmisch begann der nächste. Es war morgens gegen acht Uhr; Breise, Kurt und Elmar waren eben nach ihren Arbeitsstätten aufgebrochen, Richard war zu Hause, ebenso Julia. Da kam Irene Bruckner in die Breisesche Wohnung geeilt mit allen Anzeichen größter Erregung.

»Da, Julia – lies – lies!«

Sie sank auf einen Stuhl, Julia hielt ein Telegramm in der Hand.

»Kommerzienrat Bruckner schwer erkrankt, wünscht Tochter noch einmal zu sehen, sofort kommen.«

Unterzeichnet war das Telegramm von der Verwaltung eines Neapeler Hospitals.

»O Gott – o Gott – der Vater! Es muß doch sehr schlimm um ihn stehen. Was soll ich nur im ersten Schrecken tun?«

Statt jeder Antwort öffnete Julia eine Tür und rief hinaus: »Richard!«

Der eilte herbei.

»Sieh, Richard, unser armes Irenchen; sieh, sieh, es weint. Hier, lies dies Telegramm.«

Richard las und wurde blaß.

»Das sieht leider sehr ernst aus.«

Irene weinte lauter.

»Mein Vater! Mein Vater!«

»Mut, Irene, Mut! Noch lebt er ja. Das Telegramm ist heute früh 4 Uhr in Neapel abgegangen.«

Sie stand auf und lehnte sich leicht an ihn an.

»Helfen Sie mir, Richard.«

»Mit allen meinen Kräften werde ich zu Ihnen halten. Mut, Herzenskind, Fassung! Es muß sofort gehandelt werden, es ist keine Minute zu verlieren.«

»Wie sollen wir es anfangen?« fragten die Frauen.

»Zunächst geht ein herzliches, dringendes Telegramm von Ihnen, Irene, an den kranken Vater, in dem Sie Ihre baldige Ankunft anzeigen. Dieses Telegramm kann er mittags schon haben. – Dann baldmöglicher Aufbruch, und zwar mit Flugzeug, der Eisenbahnweg ist viel zu langwierig. Aber vierzig Stunden Fahrt. Soviel Zeit haben wir nicht zu vertrödeln. Ich fahre mit Ihnen, Irene; allein können Sie nicht fahren.«

»Und ich fahre auch mit,« sagte Julia, »denn allein könnt ihr nicht fahren.«

»Das ist richtig, Tante Julia. Und nun bereitet alles vor. Nur das Allernotwendigste einpacken! Ruft Onkel Breise telefonisch nach Hause. Ich besorge eiligst die Pässe, bestelle die Fahrkarten, um 12 Uhr 30 fährt das Flugzeug nach München. Hoffentlich klappt alles.«

Er küßte Irene die Hand, sagte noch einmal:

»Mut, Fassung, Herzenskind!« und war davon.

*

August Breise erschien aufgeregt, fragte nach Irene und Richard, die beide abwesend waren, und zählte dreitausend Mark auf den Tisch.

»Das sind die dreitausend, die du verlangt hast. Ich geb's gerne; verloren geht uns da nicht ein Pfennig, wenn's nur langt, denn wenn euch der Alte einen Streich spielt und da unten stirbt, das wird eine teure Sache.«

»Red' nicht so gruselig!«

»Nun, das Telegramm klingt doch so, als wenn er in den letzten Zügen läge. Was es bloß sein mag?«

»Selbstmord!« sagte Julia erbittert. »Wegen der Kanaille, der Sabine.«

»Denkst du das?«

»Ja, das denke ich! Das arme Irenchenl«

August machte sich an der Reisetasche seiner Julia zu schaffen, bis sie sich das verbat. Dann brachte er heraus:

»Sag' mal, Julia, hältst du eigentlich Richard und Irene für anständige, charakterfeste Menschen?«

»Welche Frage! Sie sind die anständigsten Menschen der Welt.«

»Nun, siehst du, Julia, so anständige Menschen können doch allein miteinander reisen. Die brauchen doch keinen Anstandswauwau.«

»Ich bin kein Anstandswauwau, mein Lieber; ich reise mit, weil das so zu Tode erschrockene Irenchen meines Beistandes bedarf.«

»Na ja,« sagte August, »das ist gut und richtig; aber wenn eine so hochbetagte Dame wie du im Flugzeug –«

»Was? Hochbetagte Dame? Etwa ich?«

»Nun, nun, du bist immerhin fünfundfünfzig durch und da ist eine solche Luftreise –«

»Kümmere dich um dich! Setz dich in deinen Lehnstuhl, ich fliege!«

Gleich darauf reute Julia der rauhe Ausspruch. Sie wandte sich um, schmunzelte August an und sagte:

»Sage mal, du alter Esel, du hast wohl tatsächlich Angst um mich?«

»Ja, dein alter Esel hat tatsächlich Angst.«

»Komm, August, gib mir einen Kuß. Bist ein guter Mann, aber trotzdem, ich fliege!«

*

Draußen auf dem Flugplatz zerdrückte August Breise eine heimliche Träne. Da war Julia dem Heulen nahe. Aber sie straffte sich.

»Leb wohl, lieber Mann, habe keine Angst um mich; es wird schon alles gut gehen! Komm, Irenchen, komm, Richard!«

Sie bestiegen die Kabine. August Breise stand unten und winkte betrübt mit seiner goldbordierten Portiermütze. Als sich aber das Flugzeug in Bewegung setzte und einen überraschend steilen Anstieg nahm, hörte man trotz des Propellers einige schallende Angstschreie.

»Julia!«

August Breise riß die Mütze vom Kopfe.

»Anhalten! Wieder runter kommen! Rauslassen!«

Das Flugzeug war längst fort.

Tief beklommen kehrte August Breise nach seiner Portierloge zurück. Er griff nach seinem Trost- und Lebenselixier, nach Abraham a Santa Clara. Doch er hatte Pech. Das erste Buch, das er faßte, war die »Totenkapelle«. Entsetzt legte es August weg. Dann suchte er in seinem Bücherschatze und wählte endlich den »Geflügelten Merkur«.

Ach, seine Julia war jetzt auch so ein geflügelter Merkur, flog hoch dort oben, wo sich die letzten Schwalben grüßen und die Blitze beheimatet sind, flog über Städte, Dörfer, Berge und Seen, ja über das hohe Alpengebirge nach dem fernen Italien. Welch ein gefährliches Abenteuer!

*

Am Abend desselben Tages wurde Vater Breise noch einmal in gelinde Aufregung versetzt. Kurt läutete ihn an, er käme heut nicht nach Hause; er hätte »Nachtdienst«. Papa Breise glaubte nicht recht an den »Nachtdienst« des Eleven, sondern witterte irgend einen Unfug kriminalistischer Art, der natürlich leicht gefährlich werden konnte. Er hielt also eine lange Rede, die reichlich mit Zitaten aus Abraham a Santa Clara verziert war, in den Telefontrichter, blieb aber ein Prediger in der Wüste, da Kurt, sobald er seine Meldung gemacht, den Hörer, ohne eine Rückäußerung abzuwarten, sofort wieder angehängt hatte.


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