Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Skandal im Continental

August Breise kam in höchst bedrücktem Gemütszustande nach Hause. Der Gutenabendkuß, den er trotz so langer Ehe seiner Alten immer noch verabfolgte, fiel aus. Er setzte sich schwer auf seinen Sorgenstuhl, griff nach seiner Pfeife, legte sie aber bald wieder fort.

»August, was ist denn mit dir?«

August stöhnte lange, fand keine Worte, endlich stieß er heraus: »Julia, unser ›Continental‹ ist im Begriff, zusammenzubrechen.«

»Was du nicht sagst,« rief Julia erschrocken.

»Ja, denn siehst du, unser Chef ist kein Hotelier. Ein Hotelier darf nicht an seinem Schnapsbuffet selber der beste Kunde sein, und ein Hotelier darf sich abends, wenn er seine Gäste begrüßen und unterhalten soll, nicht in fremden Amüsierbuden herumtreiben. Dabei geht das beste Geschäft zum Teufel. Und dann hat der Johann unser Haus blamiert, ja völlig in Verruf gebracht.«

»Welcher Johann?«

»Na, unser Johann, der Nachtportier. Ich wollte es dir eigentlich gar nicht sagen, damit du dich nicht auch so scheußlich ärgern solltest wie ich. Aber es kommt ja doch heraus. Morgen wird's in allen Revolverblättern stehen: ›Skandal im Continental‹ mit handhohen Überschriften.«

»So rede doch! Du regst mich auf!«

»In allen Skandalblättern wird's stehen: im ›Henker‹, im ›Drache‹, im ›Beulenaufschneider‹, im ›Kehrbesen‹, in der ›Zwickmühle‹ und wie sie alle heißen. Ach, wenn sie bloß meinen ehrlichen Namen nicht mit durch diesen Kot ziehen möchten!«

Julia rannte aus der Stube, brachte ein gefülltes Glas und sagte: »So, jetzt trinkst du diesen Doppelkümmel, und dann sagst du mir, was eigentlich los ist.«

August Breise trank den Kümmel, und dann war er kräftig genug, endlich Bericht zu erstatten.

»Der Johann, der unglückselige Johann! Johann ist tagsüber Haushälter, putzt Stiefeln, trägt Koffer. Abends, wenn ich nach Hause gehe, wird er Nachtportier, bindet die blaue Schürze ab, wäscht sich die Hände erst mit Bimsstein und Schmier-, darauf aber mit Lilienmilchseife und parfümiert sich.«

»Er parfümiert sich – der rotköpfige Johann?«

»Ja, mit 4211 und pudert sich mit Nivea.«

»Der eitle Affe!«

»Ja, das tut er alles, zieht seinen goldbordierten blauen Anzug an und setzt seine goldbebänderte Mütze auf; Grüngold hat der Mensch, Gelbgold ist ihm zu gewöhnlich. Also, dann setzt er sich großspurig in meine Loge und klemmt einen Kneifer auf die Nase, obwohl er ihn gar nicht braucht. Und wenn der letzte Gast um zehn Uhr heimgekommen ist, unsere Gäste sind ja meist äußerst solide, schnarcht er nebenan, auf einer Chaiselongue, die ganze Nacht, und wenn ich morgens um acht wieder antrete, geht Johann nach Hause und tritt erst zum Mittagessen um ein Uhr wieder in Erscheinung. Er hat einen bequemen Posten. Und was geschieht nun? – O Himmel, wenn ich daran denke, daß so etwas in einem bestrenommierten Hotel sich ereignen konnte, schaudert mir die Haut. Es wohnte auf Nummer 16 ein Kaufmann; sehr anständiger Mensch, bekneipt sich nur manchmal etwas. Nun, das kommt ja bei den anständigsten Menschen vor. Der sagt also abends zehn Uhr zu Johann: Herr Portier, ich muß mit dem Nachtschnellzug fort, er geht um 3,15 früh. Wecken Sie mich ganz bestimmt, denn ich muß fort; es handelt sich um einen wichtigen Gerichtstermin. Ich bin von etwas kräftiger Bettschwere heute, ich werde schlafen wie ein Bär. Schmeißen Sie mich raus, Herr Portier, und wenn ich grob werde, das werde ich in der Schlaftrunkenheit immer, dann werden Sie noch gröber, Sie sind ja stark, werden Sie kolossal grob, werfen Sie mich unbedingt Punkt zweieinviertel aus dem Bett. Wenden Sie Gewalt an!

Johann verspricht das Seinige zu tun, und Nummer 16 geht schlafen. Was aber geschieht nächsten Morgen um zweieinviertel Uhr? Johann wirft einen Herrn aus Nummer 6 mit aller Gewalt aus dem Bette, einen Engländer. Der Engländer, der gar nicht geweckt sein wollte, wird rasend, Johann dringt mit dem Portierschlüssel ins Zimmer, faßt den Engländer; der schreit um Hilfe, weil er glaubt, ein Einbrecher überfalle ihn. Der Engländer wehrt sich; er ist Boxer, ein tadelloser Kämpfer. Johann ist nicht Boxer, er ist nur Ringer, allerdings Schwergewicht. Er konnte die Boxangriffe des Engländers nicht erwidern. Schließlich, als dem Johann schon die Augen tränten, Zähne und Nase bluteten, die Ohren heulten, der Magen brummte wie ein Dudelsack, hat er den Engländer, mit dem er auf dem Flur rang, die Treppe hinabgeworfen. Der Engländer aber schrie von unten: ›Ich sein gemördert! Ich sein gemördert! Polizei! Polizei!‹ Und er ging ans Flurtelefon, alarmierte die Polizei. Inzwischen verließ Johann das Hotel mit der Begründung, der Posten eines Nachtportiers sei ihm zu anstrengend. Den Engländer betreute ein Arzt. Nun, es war glücklicherweise nicht gar so schlimm, nur drei gebrochene Rippen, ein verrenkter Fuß, blutunterlaufene Stellen und so. Die Polizei erschien, die Männer standen in ihren Pyjama auf den Fluren, die Frauen und Kinder schrien und jammerten in den Zimmern, Julia, ist es nicht entsetzlich, wenn in einem bestrenommierten Hotel, das gerade wegen seiner Friedlichkeit und absoluten Stille berühmt ist, solch Schreckliches geschieht?«

»Es ist ein unerhörter Skandal,« sagte Julia. »Kann der Mann nicht sechs und sechszehn unterscheiden? Was ist denn weiter geschehen?« »Die Polizei ist erschienen, denke dir, Julia, in unserem Continental erscheint nachts zwischen zwei und drei Uhr das Überfallkommando! Als wenn wir eine Räuberspelunke wären! Es ist zum Sterben traurig!«

»Das ist es!« sagte Julia. »Wart', ich hole dir noch einen Kümmel. Du bist ja ganz hin, du armer Mann.«

»Bin ich auch! Ach, die Skandalblätter!«

»Die können dir nichts tun, du bist doch ganz unschuldig!«

»Die tun jedem was, wo sie nur irgendwie rankönnen.«

Als Breise den zweiten Kümmel getrunken hatte, fragte Julia:

»Und was ist denn aus dem anderen geworden, aus Nummer 16, der um zweieinviertel für den Nachtzug durchaus geweckt sein wollte?«

»Ach, der saß, als ich um acht Uhr ins Hotel kam, hinter seiner Kaffeetasse und weinte. Er war der einzige Mensch im Hotel, der von dem ganzen Riesentumult nichts wahrgenommen hatte.«

*

Die Türschelle läutete. Julia ging öffnen. Zwei brummige Männerstimmen hörte Breise von seinem Sorgenstuhl aus, bald darauf aber Julias klaren, manchmal etwas scharfen Diskant.

»Was, Sie kommen hierher? Nach allem, was vorgefallen ist? Sie – Sie Johann, Sie? Schämen Sie sich nicht? Können Sie nicht sechs von sechszehn unterscheiden? Ruinieren das Hotel! Ruinieren meinen guten Mann! In die Skandalblätter kommen wir alle! Kaputt ist alles!«

Sie heulte.

»Sachte, sachte, Frau Breise,« hörte August nun sagen, und er erkannte die etwas gezierte Stimme des Oberkellners aus dem Continental, »wenn wir Ihnen alles erklärt haben werden, dann werden Sie die Dinge von einem ganz anderen Standpunkte aus ansehen.«

»Mein Standpunkt steht fest,« sagte Julia scharf. »Die ganze Sache ist eine Schweinerei!«

»Ist sie nicht, Frau Julia, sondern im Gegenteil eine ganz großartige Sache. Wenn Sie uns doch Gelegenheit gäben, uns mit Ihnen und Ihrem Gatten auszusprechen.«

»Gehn Sie rein in die Stube! Da sitzt mein Mann. Ganz hingerichtet ist er. Zwei Kümmel hat er schon trinken müssen!«

»Ach, der Arme! Aber, Frau Breise, wenn's geht, geben Sie uns auch jedem einen Kümmel.« »Auch das noch! Frechheit!« sagte Julia, ging hin und holte zwei Kümmel.

*

»Also,« sagte der Oberkellner Brantke, indem er den Daumen in sein tadelloses Gilet setzte und auf den Lackfußspitzen wippte, »die Angelegenheit entwickelte sich folgendermaßen. Ich erwachte nachts zweieinviertel Uhr von einem seltsamen Geräusch im Hotel, kleidete mich notdürftig an und stürzte die Treppe hinab, denn das seltsame Geräusch wurde immer seltsamer. Wir stellten bald fest, daß es aus Nummer 6 im ersten Stock kam. Es war klar, daß da drinnen was los war. Ich hatte keine Veranlassung, in Nummer 6 hineinzugehen, denn erstens bin ich kein Zimmerkellner und zweitens war nicht vorschriftsmäßig geläutet worden. Also ich wartete auf der Treppe ab. Da knäulte sich plötzlich aus der Tür von Nummer 6 etwas heraus, was sich bei der trüben Flurbeleuchtung –«

»Unsere Nachtflurbeleuchtung ist nicht trübe; sie ist ausgezeichnet!« widersprach Portier Breise.

»Sie ist nicht nur trübe,« klagte Johann, »sie ist überhaupt nicht vorhanden, sonst hätte ich doch nicht den Engländer mit dem Kaufmann aus Magdeburg verwechselt.« »Wie dem auch sei,« fuhr der Oberkellner fort, »es knäulte sich aus der Tür von Nummer 6 plötzlich ein Klumpen, den man bei näherem scharfen Zuschauen als zwei in sich verkrallte Menschen identifizieren konnte. Ein gigantischer Kampf entwickelte sich vor unseren Augen, ein Sportskampf. Sie wissen wohl, Frau Julia, daß ich – man kann das wohl sagen – ein guter Sportkenner bin.«

»Jawohl,« sagte Julia, »man sagte mir, daß Sie all Ihr Einkommen auf Sportplätzen verwetten.«

»Das ist nicht wahr,« sagte Oberkellner Brantke, »ich habe auch schon ungeheure Erfolge erzielt. Ohne Tipps, Frau Julia, so lediglich aus mir heraus habe ich gewonnen, und das will was heißen. Doch zur Sache! Der Klumpen, der sich aus Nummer 6 auf den Flur herauswälzte, schälte sich schließlich in zwei Personen auseinander, einen Engländer in Nachtdreß und unsern lieben Freund Johann in der stattlichen Portieruniform des berühmten Hotels Continental.«

August Breise schnaufte schmerzlich auf.

»Und nun stellen Sie sich vor: der Engländer ist Boxer, er ist nur Federgewicht, aber er ist ausgezeichnet in Form; unser Freund hier, Johann, ist Ringer, Schwergewicht. Der Engländer kann nicht ringen, unser Freund hier hat keine Ahnung vom Boxen. Und die beiden geraten aneinander. Der Kampf war sensationell. Als Johann in das Zimmer des Engländers eindrang, hat der um Hilfe geschrien, weil er glaubte, ein Einbrecher überfalle ihn. Der Engländer wehrte sich, er hat dem Johann ein paar furchtbare Kinnhaken gegeben, die Folgen sehen Sie an diesem ehrenvoll verbundenen Gesicht. Auch hat der Engländer eine Menge Treffer oberhalb der Gürtellinie gelandet, davon einen gegen die Magengrube und einen gegen die Herzgrube, was totgefährlich ist. Johann, der kein Boxer ist, konnte diese schweren Angriffe nicht abwehren, er konnte nicht einmal richtig in die passive Abwehr gehen; er hieb einfach wild darauf los. Der Engländer schrie ›Unfair, unfair! Disqualifiziert!‹ Aber selbst der Teufel kämpft ›unfair‹, wenn er es ›fair‹ nicht gelernt hat. Da, als bei Johann schon vier Zähne und das Nasenbein kaputt waren, besann er sich endlich auf seine Ringerkunst. Er umfaßte das Federgewichtsmännlein und spielte nun mit ihm wie ein Kind mit einer Hanswurstpuppe. Glänzend, sage ich Ihnen: Nackenhebel, Armdurchzüge, Überstürzer, Seitenaufreißer, Hüft- und Schulterschwünge – großartig! Ich hätte gern Punkte notiert, ja Viertelpunkte, aber ich hatte keinen Bleistift, nicht einmal Papier. Der Engländer wehrte sich ›fair‹. Was sagt unser Arzt? Das linke Auge von unserem Johann, sagt er, ist in Gefahr, und was der Engländer durch seine Hinterschwünge an Johanns Niere kaputt geklopft hat, ist auch noch nicht erwiesen. Schließlich machte Johann einen genialen Untergriff von hinten mit Kopfzug und der Engländer flog die Treppe hinab über Mezzanin ins Paterre, schrie ›Ich sein gemördert!‹ und rief nach der Polizei.

Johann, das kann ich bezeugen, kämpfte ganz unschuldig. Als sein Gegner knock out unten lag, beugte er sich mit seinen blutenden Zähnen, seiner tropfenden Nase und seinem halbausgelaufenen Auge übers Geländer und rief wohlwollend nach unten: ›Sind Sie nun munter? Ihr Zug geht drei Uhr fünfzehn.‹ Er glaubte immer noch nichts getan zu haben, als seine Pflicht. Ist das nicht deutsche Gründlichkeit?«

»Das ist es!« sagte Julia, »aber verdammt blödsinnig war's auch; ich hole den Herren jetzt noch einen Kümmel.«

»Ja,« sagte der Oberkellner, »es gibt nur zwei Sportarten: Boxkampf und Ringen. Alles andere ist unmännlicher Quatsch, Rasenspiele und so! Haha! Alles andere können die Weiber auch. Rennen und Hopsen und Tennisspielen und so. Pfui deibel! Urkraft muß sein!« Julia brachte die Neuauflage an Kümmel.

»Ihr Wohl, Herr Breise! Sie haben eine Seele von einer Frau. Ich beneide Sie.«

»Kohlen Sie nicht, Brantke. Erzählen Sie lieber, was Sie noch weiter von dieser höchst fatalen Geschichte wissen.«

»Sie ist nicht fatal, Frau Breise; im Gegenteil, sie ist für uns alle von unschätzbarem Vorteil. Heute in zwei Jahren können wir alle steinreiche Leute sein – Millionäre!«

»Treten Sie sich nich auf'n Schlips!«

»Also jeder Mensch hat einmal im Leben eine Stunde der Erleuchtung. Bei dem einen schlägt sie früher, bei dem anderen später. Ich hatte meine große Stunde der Erleuchtung in voriger Nacht!«

»Na, das war Zeit, daß diese Stunde kam! Sie sind über fünfundfünfzig!«

»Bitte, Frau Breise, noch nicht ganz vierundfünfzig –«

»Lassen Sie die Stunde Ihrer Erleuchtung schlagen!«

Brantke erhob sich und wippte wieder auf den Zehenspitzen.

»Also womit läßt sich heute in Deutschland noch Geld verdienen? Etwa mit Handel? Allenfalls in der Lebensmittelbranche, denn essen wollen die Leute – sonst aber mit nichts im Handel! Mit Landwirtschaft? Die Steuerbehörde fegt den Furchengeologen das letzte Saatkorn vom Schüttboden. Mit Kunst? Dichtkunst, Malerkleckserei, Steinkloppen der Bildhauer – ach, die Hühner gackern über die Hungerleider! Na, mit dem Bankgeschäft? O, den Bankiers ginge es ganz ausgezeichnet, wenn sie nicht so nebenbei pleite würden. Hotelbetrieb? Nächstens gibt's Menü für dreiundfünfzig Pfennig inklusive Bedienung, sonst nimmt's niemand!«

»Das ist richtig!« rief August Breise und hieb auf den Tisch. »Und die Zimmer stehen zur Hälfte leer. Es reist niemand mehr wegen der unverschämten Fahrpreise.«

Julia sagte: »Brantke, sprechen Sie weiter. Sie sprechen gut.«

Brantke verneigte sich geschmeichelt.

»Was bleibt also übrig? Einzig der Sport! Sehen Sie sich doch eine einzige Zeitungsnummer an. Hohe Politik eine Seite; Rauferei im Reichstag eine Seite; Verbrechen und Unglücksfälle eine Seite; Kunst und Literatur eine viertel Seite; Annoncen dreiviertel Seiten; Sport fünf Seiten. Also, worauf muß sich der Mensch werfen, wenn er Bedeutung haben, Geld verdienen will? Auf den Sport!« »Darauf werf' ich mich nicht,« sagte Frau Julia; »soll ich etwa mitrennen oder hupfen? Soll ich den Großmutterrekord brechen?«

Alle lachten.

»Nein, Frau Julia,« sagte Brantke, »aber Sie werden Gelegenheit bekommen, sich in weit hervorragenderem Maße am Sportleben zu beteiligen. Ich komme auf die Stunde meiner Erleuchtung in dieser vergangenen Nacht zurück. Der Sport steht also in hoher Blüte. Aber was ist heutzutage beständig? Schon zeigt sich hie und da eine gewisse Sportmüdigkeit beim zuschauenden Publikum. Was sollte denn aus unserem Volke werden, wenn diese Müdigkeit zunähme, wenn sich unsere ganze herrliche Gegenwartskultur wieder zurückentwickelte etwa bis zum Zuhausebleiben oder gar zum Bücherlesen? Nicht auszudenken! Nein, nein, das darf nimmermehr geschehen! Was dem Sport fehlt, sind die großen Sensationen. Es ist eben alles schon dagewesen; unerhörte Leistungen sind erreicht. Es gibt nichts Neues, es gibt kein Erstaunen mehr. Und das Publikum, dieser Königsdiktator unserer Zeit, will Neues, immer wieder Neues, es will sich aufregen bis zur Raserei, es soll ihm die Haut schauern oder es wendet sich ungnädig ab. In dieser Nacht kam mir in der Stunde meiner Erleuchtung ein großartiger Gedanke, ein Gedanke, auf den noch niemand gekommen ist und auf den auch niemand nach mir verfallen wird.«

Brantke mußte in seinem Redestrom verschnaufen, er schaute in sein Schnapsglas, daß es leer sei, und warf einen fragenden Blick auf Julia. Aber diese schüttelte still den Kopf. Da fuhr Brantke fort.

»Ein grandioser Gedanke! Bei den alten Römern, das wissen wir alle aus unseren geschichtlichen Studien, gab es Schaukämpfe zwischen gewaltigen, aber in der Art ganz verschiedenen Tieren. Bei den Römern kämpfte z. B. der Löwe gegen den Elefanten. Als ich nun in dieser Nacht einen Boxer gegen einen Schwergewichtsringer angehen sah, dachte ich an den Kampf zwischen Löwe und Elefant.«

Julia unterbrach ihn.

»Da dachten Sie, ein Boxer könne mit einem Ringer kämpfen und einer schmisse den andern die Treppe hinab, daß er alle Knochen bräche. Das kommt in den Zirkus und Sie streichen das Geld ein!«

»Woher wissen Sie denn das?« fragte Brantke ganz verblüfft, setzte sich und nippte an seinem leeren Kümmelglase.

»Das denke ich mir!«

»Herr Breise, Sie haben die klügste Frau der Welt. Ich beneide Sie! Ich gratuliere Ihnen! Hat doch diese Frau denselben einzig dastehenden Gedanken wie ich! Ja, Frau Breise, Sie haben es fast erraten: Boxer gegen Ringer – Löwe gegen Elefant! Der Boxer macht's mit der Pranke wie der Löwe, der Ringer durch seine Masse und Körperkraft wie der Elefant. Der Löwe richtet den Gegner durch seine Tatzenhiebe halb zu Grunde, der Elefant faßt ihn schließlich mit aller Gewalt, wirbelt ihn durch die Luft und zertrampelt ihn. Das wird ein Schauspiel für Götter! Bedingung ist natürlich die ehrenwörtlich gegebene und amtlich beglaubigte Zusicherung, daß der Boxer keine Ahnung vom Ringen, der Ringer keine Ahnung vom Boxen hat. Eine Sensation, wie sie noch nicht da war! Keine Arena in den Hauptstädten der Welt wird imstande sein, die Volksmengen aufzunehmen, die herbeiströmen werden. Ein Geschäft, wie es noch nicht da war! Unsere Posten im Continental haben Johann und ich natürlich aufgegeben. Wir haben heute eine Neugründung getätigt: Sportgesellschaft Löwe und Elefant. Was sagen Sie dazu?«

»Nun, das kann schon was Großartiges werden in dieser verrückten Zeit,« brummte August Breise.

»Wieviel Mitglieder hat denn Ihre Sportgesellschaft schon?« erkundigte sich Frau Julia.

»Drei! Zunächst ich und mein Freund und Compagnon Johann. Den dritten würden Sie nie erraten. Es ist der Engländer von heute Nacht, der rausgeschmissene Engländer von Nummer 6. Wir haben ihn heute im Hospital besucht, Johann hat ihm ein Veilchensträußchen überreicht und obwohl es jetzt in der Frühlingszeit nur zehn Pfennige gekostet hat, war der Engländer tief gerührt. Er hat mit Johann »Shake hands« gemacht und von unserem Plane war er begeistert. Er beteiligt sich mit Kapital und wird, sobald er wiederhergestellt ist, gegen Johann in der Arena antreten. Die einzige Bedingung, die er stellt, ist die, daß in der Nähe des Kampfplatzes keine nach unten führende Treppe vorhanden sein darf. Wie wäre es, Freund Breise, wie wäre es, kluge Frau Julia, wenn Sie sich mit etwas Kapital an unserem so überaus erfolgversprechenden Unternehmen beteiligten? Wir wählen Sie beide sofort in den Aufsichtsrat, hundert Prozent Tantieme sind Ihnen auf alle Fälle sicher.«

August Breise wiegte den Kopf hin und her und sagte schließlich:

»Abraham a Sancta Clara lehrt: ›Wer nicht zufaßt, dem bleiben die Hände leer‹.«

Julia sagte weiter nichts als:

»Ich hole den beiden Herren jetzt noch ein Glas Kümmel.«

»Herrn Breise nicht auch?« »Nein, mein Mann dankt; er hat genug!«

Als sie mit den gefüllten Gläsern zurückkam, sagte sie:

»Also prosit, meine Herren, und in den Aufsichtsrat wollen wir nicht und in die Löwen- und Elefantengesellschaft auch nicht!«

Gegen diese Willensäußerung war nichts mehr zu erreichen.


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