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Fünfzehntes Kapitel

Grau stand auf. Es ziemt einem Manne dem Schicksal ins Antlitz zu blicken ohne zu zittern, sagte er. Aber seine Knie bebten, ihm schwindelte. Nun erst fühlte er, daß seine Stirne glühte. Er hatte Fieber. Er legte sich auf das Sofa und blickte zur Decke empor. Er staunte. Sein Gesicht war erstarrt in einem großen, schrecklichen Staunen.

Die Schwestern Sinding stiegen die Stufen herauf und plauderten von Adele. »Wie ruhig und gefaßt sie Abschied nahm!« sagte Marie Sinding, die ein wenig mit der Zunge anstieß.

»Ja, so merkwürdig ruhig. Sie lachte und plauderte bis der Zug fuhr. Sie beherrscht sich so. Wir sind nicht so – haha!«

»Nein, nein!« Die Schwestern lachten.

Plötzlich sagte eine tiefe Männerstimme: »Was wird der Tennisklub als Hochzeitsgeschenk geben?«

Grau lag still. Er regte sich nicht. Er hörte wohl, was die Mädchen sagten, er lächelte nicht, er weinte nicht, er staunte. Gegen Abend schleppte er sich an den Schreibtisch und schrieb so gut es ging einen Brief an einen Gärtner, bei dem er einige Tage zubringen wollte. Dann versank er wieder in ein leichtes, fast angenehmes Fieber. Er lag einige Tage auf dem Sofa, er fieberte, schlief, aber selbst im Schlafe wich der Ausdruck des Staunens nicht aus seinem Gesichte.

Die Antwort des Gärtners traf ein. Grau packte langsam, mit Anwendung all der Klarheit, die ihm das Fieber noch ließ, seine Sachen, auch den roten gestickten Reisesack mit der zornig aussehenden Henne. Er füllte nochmals den Teller für seinen Kostgänger, den gelben, zottigen Hund und legte alle Speisereste unter den Schrank für die Maus. »Eine Maus findet ja immer etwas,« murmelte er vor sich hin und wiegte langsam den Kopf hin und her, »sie ist auch klein und ißt nicht viel.«

Es ist Zeit, Zeit! flüsterte eine Stimme in ihm. Er antwortete: »Ja!« und ging.

Er wollte Mütterchen Adieu sagen und wählte den Weg durch den Wald, hoch über der Stadt. Er ging langsam und trotzdem schmerzte seine Brust und glühte seine Stirn.

Die Sonne schickte sich an zu sinken, sie war verborgen hinter einer langen Wolke, deren Ränder gleißten, der Himmel war weinrot. Das Tal schien schon leise zu schlummern. Aber da zerschmolz der untere Rand der Wolke und die Sonne flammte plötzlich hell auf. Das Tal funkelte und erwachte wieder, wie ein Kind, das nochmals lebhaft wird, wenn die Mutter mit dem Lichte durchs Zimmer geht.

Grau nahm den Hut ab, er strich sich das feuchte Haar aus der Stirn und versuchte zu denken, das zu erfassen, was ihn so mächtig beschäftigte. Da stand er lange Zeit, die Brauen hoch gezogen, den Mund halb offen und starrte mit großen Augen in die sinkende Sonne. Endlich lachte er. Er lachte leise und fiebrisch und nickte. Unklare Gedanken zuckten durch seinen Kopf, daß das Tal da unten ein Altar sei, auf dem zur Ehre Gottes geopfert werde, daß die Menschen kleine wandernde Sonnenstäubchen seien und tausend Altäre bauten zur Ehre Gottes. Ach, er konnte ja nicht denken, aber er fühlte, daß etwas Herrliches in ihm war. Ihre Kunst, ihre Wissenschaft waren Altäre und sie opferten Tag und Nacht darauf.

Er sah sie wandern, zu Millionen, diese kleinen Sonnenstäubchen und opfern. Sie zerschmolzen, Königreiche und Völker und Rassen zerschmolzen, eine neue Rasse ging daraus hervor, eine herrliche Rasse. Neue Städte, neue Tempel, immer herrlicher und schöner. Ein Jubelbrausen künftiger Jahrtausende – Schönheit, Adel –

»Es ist ja alles gut, alles gut!« sagte Grau und lachte. Er war nicht imstande zu denken, aber eine mächtige Freude durchströmte ihn. Er begann rasch den Weg hinab zu steigen und lachte immerzu vor sich hin.

So groß, so herrlich und unfaßbar schön war ja alles!

Auf der Brücke traf er einen Landstreicher, einen kleinen, alten Kerl mit rostroten Borsten auf dem Kopf und im Gesicht. Er war buchstäblich in Lumpen gehüllt. »Wohin geht die Reise?« fragte Grau und gab ihm die Hand und lachte. »In die Stadt,« antwortete der Vagabund, der nicht einmal ein Hemd an hatte, »ich will dort einen Herrn aufsuchen, den man mir empfohlen hat, einen Herrn Grau. Wissen Sie, wo er wohnt?«

Grau lächelte. »Er ist abgereist, heute!« sagte er. »Aber was schadet es? Nehmen Sie, nehmen Sie!« Er gab dem Landstreicher seinen Geldbeutel, sein Taschentuch, sein Messer. »Nehmen Sie, nehmen Sie! Es ist ja einerlei, daß er abgereist ist. Keinen Dank! Nehmen Sie! Haha!« Er zog seinen Rock aus und warf ihn dem verdutzten Vagabunden in die Arme.

Dann lief er rasch davon in die Wiese hinein.

»Guten Tag, Mütterchen!« rief er aus. »Ich komme um dir Adieu zu sagen. Da bin ich nun, siehst du?«

Mütterchen sah ihn zuerst teilnahmslos an, aber dann erstaunte sie, als sie gewahrte, daß er in Hemdärmeln gekommen war. Sie starrte ihn an. »Du gehst? Ja, wohin gehst du denn? Tritt ein!«

»Es geht fort, Mütterchen. Zu einem Gärtner, einem Freund von mir, ein seelenguter Mensch. Ich kann getrost zu ihm kommen, er schrieb es und er unterstrich getrost. Verstehst du, er unterstrich es! Da werde ich dann sitzen und die Blumen ansehen, er ist ja ein Gärtner, du begreifst wohl nicht, ein Gärtner ist er! Blumen, Treibhäuser – Er wartet auf mich. Morgen früh! Ein guter Mensch, Mütterchen, ich habe ihn im Gefängnis kennen gelernt. Verstehst du, er sah mich an und ich dachte, kein Mörder, nein! Er war verurteilt wegen Mords, aber es war ja nicht wahr. Ich wußte das sofort. Ich machte Eingaben, Eingaben, fortwährend Eingaben, der Prozeß wurde wieder aufgenommen – Lüge! Sein Schwager war es, er, sie machten ihn betrunken –«

»Ja, was ist dir denn?« sagte Mütterchen erschrocken.

»Daher kennen wir uns. Er liebt mich und ich liebe ihn. Ich werde ihm nicht lästig fallen –«

»Warte!« stotterte Mütterchen und ging in die Küche hinaus, um eine Erfrischung zu holen. Als sie zurückkehrte saß Grau im Sessel und schlief und flüsterte im Schlafe und lächelte. Eisenhut, der sein Gepäck zum Bahnhof gebracht hatte, kam und legte ihn zu Bett. Das Fieber brach heftig aus, es dauerte einige Wochen.

Sobald Grau aus dem Fieber erwachte, kehrte wieder der Ausdruck des Staunens in sein Gesicht zurück.

»Ich mache dir wohl viele Mühe, Mütterchen!« flüsterte er. »Verzeihe!«

Nun lag er in Susannas Stube und sah durch das Fenster hinaus, bis zur Brücke, wo Susannas Pappeln standen. Zweimal im Tage kroch die gelbe Postkutsche über die kleine Brücke. Des Nachts schleppten sich die Güterzüge in der Ferne vorüber und der Expreßzug sauste jeden Nachmittag vorüber und sein Rauch hing lange in der Luft.

Häufig versuchte er aufzustehen; »Ich muß ja fort!« sagte er. »Mein Gott, es gibt ja so viel zu tun!« Aber seine Füße trugen ihn nicht. Dann lag er wieder ruhig und sah mit dem Ausdruck des Staunens vor sich hin.

Man mähte das Gras, es wuchs von neuem, man mähte es wieder, es verfaulte im Regen. Der Herbst kam.

Grau lag und fieberte. Er hatte nur wenig klare Tage. Dann schrieb er, aber er zerriß alles wieder, endlich schrieb er drei Briefe, zwei lange und einen kurzen.

»Hier,« sagte er, »Eisenhut, nimm sie. Ich werde dir alles erklären. In diesem Brief befindet sich ein Schreiben an das Gericht. Du öffnest ihn in einem Jahre, wenn nicht Ereignisse eingetreten sind, höre wohl zu, Ereignisse, von denen in dem Briefe an dich die Rede ist. Vergiß nichts. Es ist eine alte Angelegenheit, die ich in die Hand nahm, als ich hier in der Stadt eintraf. Ich möchte sie zu Ende bringen.«

Grau lag im Fieber und er winkte Eisenhut heran und flüsterte: »Die Pioniere, siehst du, man muß sie loben. Sie sind immer da, wo die Menschheit noch nicht ist. Man verfolgt sie, haßt sie, sie sind entsetzlich dran, aber sie sind immer, immer am Werke. Sie sind Säemänner, Eisenhut, auch ich, auch ich, wollte solch ein Säemann werden. Im kleinen natürlich, im kleinen nur –«

»Still, still!« sagte Eisenhut und legte ihm Eis auf die Stirn.

Grau schloß sofort die Augen. »Mein Bruder!« flüsterte er und drückte Eisenhuts Hand. Als Grau schon sehr schwach war, richtete er sich eines Tages plötzlich auf und sagte erschrocken: »Eisenhut, deine Mutter?« Er schwieg lange, dann fügte er hinzu: »Da ging ich ein und aus in diesem Hause und dachte nicht an sie. Stricken, Nähen, Gartenarbeit. Ihr geschwächter Geist, man kann ihn stärken – Gott verzeihe mir! – Versprich es mir, Eisenhut!« Er umklammerte Eisenhuts Hand und sank lächelnd ins Kissen zurück, als Eisenhut ihm das Wort gegeben hatte.

Dann kam die Zeit, da Grau still lag und immerfort leise flüsterte und lachte. Er lebte mit einer schönen Frau mit hellen Augen und schwarzen Haaren am Meer. Er ging im heißen Sande und sammelte Muscheln. Er blickte ins Haus hinein, bald in dieses Fenster, bald in jenes: Sie war da! Er lachte und trommelte an die Fenster. Er schrieb ihren Namen riesengroß in den Sand.

Einmal ging er hinein in einen Wald. Es war Sommer. Die Sonne glühte in den grünen Wipfeln. Da ging er dahin und sang. Plötzlich wurde es totenstill im Walde, die Hitze wurde unerträglich und langsam fiel Blatt um Blatt, mit einem singenden, seufzenden Laut. Die Blätter fielen dichter und dichter, sie schrumpften zusammen, knisterten, wie versengt von der großen Hitze, fielen, fielen, regneten auf ihn herab, die Äste starrten kahl und immer mehr Blätter regneten und drohten ihn zu ersticken –

– Da erwachte er mit einem Schrei und fuhr auf. Sein Mund war voller Blut.

Tagelang lag er nun geschwächt und atmete nur leise.

Eisenhut kam ans Bett. »Worüber staunst du doch nur?« fragte er. »Du staunst immer!«

Grau lag und staunte.

Dann kamen die Tage, da Grau schwer atmete und Mütterchen ihm immerfort die Stirne trocknen mußte.

Das war der Glutwind! Er trug ihn dahin und viele, viele trug er dahin. Es ging durch die kahlen Äste eines endlosen, verdorrten Waldes. Die Seelen jammerten. Wir kleinen schäbigen Seelen, Erbarmen! jammerten sie. Es fegte, Tag und Nacht, immerzu und endlich hoch über den Wipfeln des verdorrten Waldes, in balsamischer Luft. Tief unten jammerten die Seelen. Wir sind zu schwer, Erbarmen. Aber er flog und sauste und viele sausten mit ihm. Es wurde glühend heiß – er erwachte.

Sein Kopf war ganz klar. Er war durstig und seine Lippen brannten. Aber es war Nacht und er wollte Mütterchen nicht wecken. Er kühlte die Hände am Fenster und kühlte dann die Lippen.

Sofort versank er wieder. Er wanderte. Eine Felsenecke, wieder, wieder, eine endlose, schreckliche Wanderung. Ein Tor, eine Schlucht, ein furchtbarer Weg. Er kam in einen großen Felsenhof und hier waren viele Millionen Seelen und warteten. Wir sind die armen Seelen! beteten sie. Er wanderte und wanderte durch das Heer von Seelen hindurch und kam auf eine Heide. Hier ließ es sich gut ausschreiten.

Aber plötzlich warf ihn eine Stimme zu Boden.

»Mit Versprechungen hast du die Menschen getröstet und von Hoffnungen hast du gelebt!« sprach die Stimme, die furchtbar klang.

»Ich wollte beginnen! Vergib mir armen kleinen Seele!«

»Wie das Schwirren von Pfeilen und ein Schall von Hörnern hätte deine Rede sein sollen, deine Zunge war Stroh! Ich habe Antrieb und Neigung in dich gelegt, ich habe über deine Seele Ahnungen geschleudert wie Hagelschauer über das Feld, ich habe gefunkelt in dir wie der Mond am schwarzen Himmel funkelt, ich stand am Wege als kleine Blume, aber du hast mich nicht gesehen! Ich kam zu dir und fand dich schlafend, ich habe meinen Gedanken auf dich geworfen wie einen Felsblock, aber du bist nicht aufgewacht. Auf deiner Zunge saß ich als süßes Lied, warum hast du nicht gesungen? Zehnmal in deinem Leben ging mein großer Verkünder an dir vorüber, du sahst ihn an, aber du hast ihn nicht erkannt?«

»Ich habe dich als Feuer entsandt und du bist als Asche wiedergekommen!«

»Sprich, elende Seele, wo sind deine Früchte, wenn ich dich schüttele? Sprich, sprich, elende Seele?«

Er begann zu stammeln, verwirrt zu reden. Er stotterte Entschuldigungen. Er suchte in seinem Kopfe, nichts fiel ihm ein. Nichts, nichts. »Erbarmen, Erbarmen!« schrie er und krümmte sich.

»Sprich, sprich!« sagte die furchtbare Stimme.

Da fiel ihm ein, daß er einst für ein krankes Kind ein Bilderbuch gemacht hatte, geschrieben, gemalt, Tag und Nacht hatte er gearbeitet.

Aber die furchtbare Stimme sprach: »Sprich, elende Seele!«

Grau stöhnte. Drei Tage und drei Nächte sprach diese Stimme und drei Tage und drei Nächte flehte, bat Grau.

Eisenhut trat ans Bett und fragte, ob er wach sei. Grau sah ihn mit Augen an, die nichts sahen.

»Erkennst du mich?« fragte Eisenhut und lächelte, als ob er ihn lächelnd eher erkennen sollte.

Aber Grau sprach von einem Gefängnis und einem Gefangenen mit schrecklicher Sehnsucht nach seinem einzigen Kinde.

Eisenhut trocknete ihm die Stirne und kühlte sie mit Eis.

Nun war es ihm plötzlich leichter. Diese furchtbare Stimme war nicht mehr zu hören, und er ging in der Heide, wo es sich gut ausschreiten ließ. Er war fröhlich. Über die Heide kamen zwei Gestalten, sie kamen näher und er erkannte Susanna.

Er lief ihr entgegen und stürzte in die Knie: »Verzeihe, verzeihe, Susanna!« rief er. »Verzeihe das Zuviel – ich habe dich ja geliebt – aber verzeihe das Zuviel!«

Susanna hob ihn auf. »Es ist alles gut,« sagte sie leise und lächelte.

Da fiel sein Blick auf die andere Gestalt. Auch sie war eine Frau. Er erstaunte und richtete sich auf. Mit dieser Frau war er einst über die Heide im Sternschnuppenregen gegangen, nun war sie da.

»Bist du wieder du?« sagte sie und sah ihn an.

Bei ihrem Blicke aber erhellte sich sein Inneres, es war ihm, als ob er sein ganzes Leben verstände. »Ach so!« rief er aus und eilte ihr entgegen und weinte vor Glück.

In dieser Nacht starb Grau. Er starb als der Tag nahte und Eisenhut, der während der Wache eingeschlafen war, wurde durch das klagende Geheul eines Hundes geweckt. Er blickte auf Grau, und Grau sah so schön und friedevoll aus, daß Eisenhut sofort zu schluchzen begann. Er sah, daß er tot war.

Er fürchtete sich und ging hinaus, um den Hund zu vertreiben. Er warf Steine nach ihm, aber dieser gelbe, zottige Hund kümmerte sich nicht um Steine, er lief ihnen entgegen und heulte und winselte und gebärdete sich ganz unsinnig.

Als Mütterchen erfuhr, daß Grau gestorben war, sagte sie erschrocken: »Aber die Schuhe, wo hat er denn Susannas Schuhe?«

»Schwätzen Sie keinen solchen Unsinn!« sagte Eisenhut ärgerlich. »Er wird die Schuhe wohl in seinem Koffer haben!«


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