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Zwölftes Kapitel

Der Mann mit dem gelben Gesichte und den Mausaugen begann sogleich zu sprechen; er sprach hastig und nahezu ohne Pause, bis sie das Häuschen erreicht hatten. Er kicherte und hüstelte, während er sprach, und er sah Grau immerzu mit seinen blinzelnden Augen an. Aber jedesmal, wenn Grau ihm den Blick zuwandte, tat er, als suche er etwas im Schnee. Er kicherte, auch als Grau einmal im Felde ausglitt.

Vorhin hatte er mit gezwungener Keckheit gesprochen, nun aber sprach er mit unterwürfiger, fast demütiger Stimme, nach der Art vieler Männer, die ihr Benehmen vollständig ändern, sobald sie die Gesellschaft von Frauen verlassen.

»Sie erlauben wohl, daß ich Sie begleite?« begann er und lüftete den spitzen Hut. »Ja, ich habe gehört, auf welche Weise der Herr mit dem Lehrer zusammengetroffen sind, man hat es mir erzählt. Sie haben den Lehrer natürlich nicht gekannt, sonst wären Sie wohl etwas vorsichtiger gewesen. Ich muß Ihnen leider sagen, daß man sich mit den Leuten hier in acht nehmen muß. Sogar gebildete Herren, Ärzte, Professoren, sie versprechen Ihnen das Blaue vom Himmel herunter und halten – nichts. Man kann hier Geld zusetzen, du große Güte!«

»Kennen Sie Herrn Lenz?« fragte Grau.

»Ja, und ob ich ihn kenne. Jedermann kennt ihn. Er kommt auch zuweilen zu mir, mitten in der Nacht kommt er angeschlichen. Er darf sich ja in der Stadt nicht blicken lassen.«

»Er darf sich in der Stadt nicht sehen lassen? Was heißt das?«

Der junge Mann zog einen kleinen Zigarrenstummel aus der Tasche und steckte ihn in Brand. »Er hat den Stadtverweis, mein Herr!« sagte er vergnügt lächelnd und paffte. »Auch seine Familie, seine Frau, seine Tochter, niemand darf die Stadt betreten.«

»Ja, was hat er denn Schreckliches getan?« fragte Grau und blieb stehen.

Der junge Mann lachte meckernd. »Er hat,« sagte er flüsternd und kicherte – »er hat sie durchgeprügelt! Die Polizeidiener zuerst und dann den Bürgermeister. Weil sie ihn entließen. Er war ja Lehrer hier in der Stadt.«

»Warum wurde er denn entlassen?«

»Oh, er machte Streiche. Er hat auch oft getrunken, mehr als er vertragen konnte. Einmal lag er am Morgen betrunken auf dem Marktplatze, gerade als die Sonne aufging. Ich muß lachen, wenn ich nur daran denke! Denn ich habe ihn liegen sehen, bevor noch jemand kam, und gewartet und gedacht: Was für ein Spaß wird das werden! Er lag so komisch da, er lag da, als ob er eben einen großen Sprung machen wollte, so lag er da. Ich dachte, das wird einen hübschen Spaß geben. Dann kamen die Leute, die Kinder kamen, die in die Schule gingen, Frauen, Männer, aber er lag da und schlief, er war nicht wach zu bekommen. Was ich gelacht habe!«

»Deshalb also wurde er entlassen?«

»Nein, nein. Damals unterrichtete er das Töchterchen des Bürgermeisters, deshalb wurde er nicht entlassen. Auch seine Frau, die lief zum Bürgermeister, flehte und winselte, und deshalb ließen sie es hingehen. Aber später. Er hatte so eigentümliche Einfälle und er machte Streiche über Streiche. Er sagte zu den Kindern: Heute ist keine Schule, es ist zu schönes Wetter, geht hinaus in den Wald. Das ist aber doch keine Schule, nicht wahr? Oder er hat ihnen keinen Unterricht gegeben, er hat ihnen tagelang Märchen erzählt. Aber das tollste, was er gemacht hat, sehen Sie, das hat ihm auch den Hals gebrochen. Ja, er ging also mit der Klasse spazieren, er hatte die Mädchenklasse, an einem sehr heißen Tag im Juni. Da kamen sie nun an einen Bach, es war sehr heiß, wie gesagt, und was meinen Sie nun, was er tat? Er sagte: Alle auskleiden! Nun, Sie können sich denken, das ging hui, hui, das kam den kleinen Mädchen gerade recht, sie kleideten sich aus und plätscherten alle dreißig im Bach herum. Er, Lenz, er saß dabei und lachte. Plötzlich aber kam der katholische Geistliche, der geistliche Rat – ein fetter – ein etwas korpulenter Herr – er kam – und so war es, der Lehrer mußte gehen. Aber hören Sie, er ging nicht, er ging nicht!«

»Er ging nicht?«

»Nein, er sagte es, er sagte es zu mir. Ich werde nicht gehen, sagte er, ich lasse es darauf ankommen. Ich werde morgen Schule halten und werde sie hinauswerfen, wenn sie kommen. Tue das, sagte ich, welch einen Spaß wird das geben, einen unbezahlbaren Spaß. Er sagte auch, daß der Bürgermeister sich ein wenig in acht nehmen solle, außerdem könne er Prügel fassen. Ja, tue es, tue es, sagte ich, das wird ganz unsagbar drollig werden. Du nimmst dich meiner Familie an, ja? Ja, sagte ich, du kannst ruhig sein. Und hören Sie, Herr, er tat es, er tat alles. Er hielt Schule und sie wollten ihn aus dem Schulhaus weisen, aber er prügelte die Polizeidiener durch, dann ging er ins Rathaus und prügelte den Bürgermeister durch – vor all den Schreibern –«

Der junge Mann lachte und hustete.

»Ich habe niemals mehr gelacht. Solch ein Mensch – er mußte dann sitzen, lange, lange Monate, er verlor seine Stellung, sein bißchen Vermögen, alles, alles – hähähä – nun treibt er sich in der Welt herum und seine Frau und seine Tochter sie sitzen hier. Wir wollen hoffen, daß der Herr ihn antreffen.«

Sie näherten sich dem Häuschen und Graus Herz begann eigentümlicherweise zu pochen.

»Sie hat keine Pension?« fragte er. »Die Frau?«

»Pension? Aber wieso denn Pension? Woher?«

»Hm. Sie hat auch kein Vermögen?«

»Hahaha, nein. Vermögen, um Gottes willen –!«

»Sie ist also arm,« sagte Grau leise zu sich selbst. »Wie sagten Sie? Sie glauben also nicht, daß wir Herrn Lenz antreffen werden?« fügte er hinzu und blickte den Mann mit dem Spitzbart an.

Der Mann mit dem Spitzbart zuckte zusammen. »Nein,« sagte er verwirrt, »ich glaube es nicht. Er bleibt immer nur da, bis ihn seine Frau zusammengeflickt hat, dann geht er wieder. Ich habe auch gehört, daß er in Weinberg in einer Wirtschaft alle Fenster eingeschlagen hat, nun wird ihm wohl der Boden zu heiß geworden sein. Vielleicht ist er da, wer weiß es? Er ist sehr amüsant und er kann deklamieren – was er doch alles im Kopfe hat! Er kann Ihnen ganze Theaterstücke vorspielen. Er hat mir oft die ganze Nacht hindurch vorgespielt.«

»Sie lieben es wohl, ihm zuzuhören?« fragte Grau lächelnd.

»Warum?«

»Nun, ich meine nur!« sagte Grau und lächelte.

»Ja, ich liebe es!« antwortete der Mann mit dem Spitzbart und errötete ein wenig und blinzelte. »Er deklamiert oft die ganze Nacht bei mir, bis er zu lachen anfängt –«

»Zu lachen?«

»Ja, zuletzt lacht er stets fürchterlich, so daß Sie Angst bekommen – dann wird er gefährlich – hier sind wir!« Er öffnete das Gartentürchen und ließ Grau eintreten. Man hörte keinen Laut hier außen, auch das Haus lag ohne jedes Zeichen von Leben. Eine ganz besondere Stille und Einsamkeit herrschte hier und auch der Wind, der leise um die Wände des Häuschens strich, schien ein besonderer Wind zu sein.

Der Mann mit dem gelben Gesicht klopfte an die Haustüre. Sie warteten und standen einander gegenüber.

Grau sah sich seinen Begleiter aufmerksam an. Eigentlich war das Gesicht nicht gelb, es spielte in allen Schattierungen von Gelb bis Grau, gegen die Schläfen zu ins Grünliche. Es war von tiefen Furchen durchzogen, die fächerartig von den Augenwinkeln ausgingen und sich hart um den Mund eingruben. Diese Furchen waren grau und es schien als sei Schmutz in ihnen. Der Bart am Kinn sprang vor wie ein Geißbart; seine Haare waren von unbestimmter Farbe, sie schienen feucht und klebend zu sein und waren grau an den Schläfen, obgleich der Mann die Dreißig kaum überschritten hatte. Seine Augen waren leicht entzündet, klein und neugierig bewegten sie sich in dem getrübten Weiß hin und her. Die Lider zwinkerten unaufhörlich.

Dieses Gesicht verriet keinen bestimmten Charakter; Schüchternheit, Keckheit, Demut und Hochmut, Habgier, Bosheit und Argwohn, alles konnte man in diesen Zügen finden; aber Grau entdeckte ein Paar schöngezeichneter Lippen, die sich zusammenzogen und gleichsam hinter dem dünnen Schnurrbart versteckten, der in feuchten, kurzen Büscheln über den Mund herabhing.

Ihre Blicke begegneten sich und plötzlich hörte der Mann mit dem Geißbart auf zu blinzeln; das Blut stieg ihm in die Wangen, als ob er tief erschrocken wäre, dann erbleichte er. Er griff hastig an den Hut und sagte mit kaum hörbarer Stimme: »Eisenhut!«

Grau reichte ihm die Hand. Eisenhuts Hand war feucht und schlaff.

Eisenhut begann wieder zu blinzeln. Er legte sein gelbes Gesicht in Falten zu einem Lächeln, so daß man seine schlechten braunen Zähne sah, und sagte: »Danke, danke, es ist mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er sprach hastig, ruckweise, und man hätte sagen können, auch seine Stimme blinzelte.

Die Türe öffnete sich lautlos, und ein schmächtiges Mädchen, eine Hornbrille auf der großen Nase, stand im Rahmen.


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