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Erster Teil


Erstes Kapitel

Jener junge Mann, um den es sich hier handelt, ein schlichter junger Mann, wie es deren Tausende gibt, traf gerade zu einer Zeit in der kleinen fränkischen Stadt ein, als sich alle Welt in der größten Aufregung befand.

Ein Dienstmädchen nämlich, eine brave und beliebte Person, die jeder hundertmal mit ihren roten Backen und dem Mund voll weißer Zähne gesehen hatte, nahm sich das Leben. Sie war nicht zur Stelle, als man sie rief; man wartete, suchte und fand sie erhängt auf dem Speicher. Aber das war nicht alles. Dieses Dienstmädchen mit den roten Backen und weißen Zähnen, diese ordentliche, unschuldig aussehende Person hatte zuvor ein Kind geboren und es in ihrer Kammer versteckt. Sie hatte das Kind in ein Körbchen gebettet und in die Ecke hinter einen Schrank gelegt. Ein Gesangbuch lag dabei, ein goldenes Kreuzchen, ein silberner Ring mit einem winzigen blauen Stein. Das Kind war in ein weißes seidenes Tuch gehüllt. In die Wand, oberhalb des Körbchens, hatte sie eine Unmenge von Kreuzen geritzt, einen ganzen Friedhof. Plötzlich nun schrie das Kind jämmerlich in der Kammer der Magd. Ja, da schreit ja ein Kind, sagten die Leute, in ihrer Kammer! Und die Frau des Hauses, Frau Häberlein, die Gattin des Bezirksamtmannes, fand das Kind in der Ecke. Es war in ein seidenes Tuch eingehüllt, das die Frau des Hauses dem Dienstmädchen einige Wochen vorher zu Weihnachten geschenkt hatte. Ein fast neues, feines Tuch.

Die Stadt geriet mehr und mehr in Aufregung. Man riß die Fenster auf und rief: Was ist denn wieder? Ein Kind, sie haben ein Kind in ihrer Kammer gefunden! Zwei barmherzige Schwestern schwebten über den Marktplatz und verschwanden im Hause des Bezirksamtmannes. Sie trugen das Kind in das Waisenhaus.

Aber damit war es noch nicht zu Ende. Plötzlich hörte man ein Geschrei auf der Straße, ein schreckliches Geschrei, und man sah eine verschrumpfte, alte Frau, ein winziges Etwas von einer alten Frau, in großen Filzsocken durch die Straßen rennen. Sie lief in das Haus des Bezirksamtmannes, erschien wieder schreiend, lief zum Westtor und zurück zum Osttor, hin und her, und immer tauchte sie wieder auf und ihr Geschrei und entsetzliches Weinen schien überall zu sein und plötzlich dicht unter den Fenstern aus dem Erdboden zu dringen. Die Leute öffneten die Fenster: Beruhigen Sie sich doch! sagten sie. Sie sagten es mit eindringlicher, tiefer Stimme; sie sagten es weich und tröstend. Aber die kleine alte Frau sah nichts, hörte nichts. Sie schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, rannte Straße auf, Straße ab und schrie, schrie.

Vor dem Westtor gab es eine Szene. Hier kam ein Fleischergeselle auf einem Karren angefahren, in dem ein Rudel kleiner Schweine saß. Arbeiter, Handwerker stellten den Wagen und fielen mit den Fäusten über den Gesellen her. Der Bursche wehrte sich so gut er konnte und brüllte, daß man es bis in die Stadt hinein hörte. Die kleinen Schweine steckten die Schnauzen durch das Gitter und quiekten. Zwei Stadtsoldaten nahmen den Fleischergesellen in Schutz, man hätte ihn sonst erschlagen. Ich bin nicht schuld! schrie er. Sie führten ihn zur Sicherheit aufs Stadthaus. Auf dem Wege dorthin begegneten sie der alten, kleinen Frau, die in ihren Filzsocken hin und her rannte. Das ist er! riefen die Leute und deuteten auf den Burschen. Aber die schreiende Frau sah und hörte nichts, sie schrie und rannte weiter.

Man sprach den ganzen Abend und den folgenden Tag von nichts anderm als dem Dienstmädchen und dem Kinde und der kleinen schreienden Frau. Es gab förmliche Redeschlachten und erregte Szenen. Man verurteilte, verteidigte, mutmaßte, und in dem Abendzug, der von der Nachbarstadt zurückkehrte, wäre es beinahe zu einer richtigen Schlägerei gekommen. Da war ein Lehrer, ein entlassener Volksschullehrer, ein riesenhafter Mann mit einem schwarzen, wilden Kopf, der den Zorn aller Reisenden herausforderte. Er sagte, es wäre nun genug, immer nur dieses Dienstmädchen und nichts als dieses Dienstmädchen, eine solch alberne, beschränkte Person –

Kurz und gut, damit begann es.

»Genug nun von dieser albernen, beschränkten Person, die sich wegen eines Kindes und eines untreuen Geliebten aufhängt,« schrie er. »Genug und abermals genug –« Aber da erhob sich ein solcher Tumult in dem überfüllten Coupé, daß man nicht verstand, was er sonst noch sagte, trotzdem er mit einer ungeheueren tiefen Stimme wie eine Baßtrompete wetterte. Eine Bäuerin in Trauerkleidern, die bis jetzt ruhig dagesessen war, stand plötzlich auf und stieß eine Menge Schimpfwörter heraus, einen ganzen Strahl von Schimpfwörtern, allein ihre Stimme schnappte über, man hörte nichts als Gekreische. Sie schüttelte einen dünnen raschelnden Blechkranz in der Hand und machte Miene auf den Lehrer loszufahren; ein starker Geruch von Schmalz und saurer Milch drang aus ihren Kleidern. In der Mitte des Abteils saß ein jüdischer Viehhändler, ein dicker, fetter Kerl mit Brillantringen an den Händen und Stallmist an den Stiefeln, der vor Vergnügen auf- und abtanzte und mit den Händen seine kurzen, fetten Schenkel bearbeitete. Er lachte, daß ihm das Wasser aus den Augen sprang und stieß einen hohen gurgelnden Laut hervor, ähnlich einer Turteltaube, während er hin- und herschaukelte und die Leute zu beiden Seiten zusammendrängte. Im Nebenabteil hatte sich eine Dame erhoben, sie blickte über die Trennungswand, drehte den Kopf hin und her in einer bauschigen Boa aus schillernden Hahnenfedern und lächelte mit tief herabgezogenen Mundwinkeln. »Pfui!« rief sie, »Pfui! Welch entsetzliche Roheit. Pfui!«

Der Lehrer stand ruhig im Lärm und lächelte. »Sie vergeben, meine Dame!« wandte er sich mit einer Verbeugung zu dem Kopfe, der sich noch immer in der bauschigen Federboa hin und her drehte. »Aber ich denke, wenn dieses Dienstmädchen, diese Margarete Sammet oder wie sie heißen mag, mit Ruhe und Überlegung, mit Stolz –«

Aber man unterbrach ihn. »Ruhe! Ruhe!«

»Die Herrschaften müssen doch einräumen –«

Man räume nichts ein, gar nichts räume man ein! Alle schrien und der Lehrer lachte und zuckte die Achseln. Der jüdische Viehhändler schaukelte auf und ab, so sehr gurrte er, und schließlich bekam er einen brüllenden Hustenanfall, der jedes andere Geräusch verschlang.

In diesem Augenblick hielt der Zug und unwillkürlich wurden alle still. Aber sobald sich die Laterne in der Nacht draußen schwang und die Maschine heulte, begann der Lärm von neuem. Eine heisere Stimme arbeitete sich mühsam durch das Getöse.

»Davon war ja gar nicht die Rede!« sagte ein Mann mit aufgeblähtem Hals, ein Schuhmachermeister, und riß die Augen so weit auf, daß man fürchtete, sie fielen heraus. »Wir sprechen vom Dekan, vom Pfarrer, von der Beerdigung.«

»Ich würde sie auch nicht beerdigen!« sagte der Lehrer mit ruhigem Baß und der Kopf der Dame mit der Boa schnellte augenblicklich wieder empor.

»Schweigen! Schweigen!«

Der Viehhändler riß den Mund auf, um laut zu schreien, wurde aber im gleichen Moment vom Sitze geschleudert, die Bäuerin mit dem Blechkranz und alle auf der einen Bank flogen in die Höhe. Ein runder schwarzer Korb rollte aus dem Netz und fiel dem Händler auf den Rücken. Die Bremsen waren plötzlich angezogen worden, der Zug hatte sich kaum in Bewegung gesetzt gehabt.

Es wurde still und eine Stimme in der Dunkelheit draußen rief: »Ja, weshalb schlafen Sie denn, wenn Sie mitfahren wollen, Sie! Ein solcher Tölpel – marsch!« Die Coupétüre sprang auf und ein junger Mann wurde hereingeschoben. Hut und Mantel des jungen Mannes waren beschneit und mit Eiskörnern bedeckt, wie sie entstehen, wenn man sich lange in der Kälte aufhält. Er zog einen roten Reisesack nach sich, beugte sich zum Fenster hinaus und rief: »Vielen Dank, mein Herr!« Der Zug fuhr wieder. Alle sahen auf den jungen Mann, dessen Augen von Schlaf, Ermüdung und Kälte gerötet waren. Er kniff die Augen zusammen, blickte durch die Wimpern, die auffallend lang und dicht waren, in den Tabaksqualm und schob sich behutsam mit seiner Reisetasche zwischen den Stiefeln, Knien, Packen und Säcken hindurch.

»Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er leise, ohne die Lippen zu öffnen, »vielleicht erlauben Sie mir –«

Alle Augen folgten seinem Reisesack. Es war ein gestickter Reisesack. Auf einem abgewetzten roten Grund war eine Henne gestickt, die auf farbigen Eiern brütete. Sie hatte einen ziegelroten, flammenden Kamm und als Auge eine große schwarze Perle. Mit diesem roten Kamm und schwarzen Auge sah sie herausfordernd und zornig aus. Über ihr stand in weißen Perlen: Glückliche Reise. Der Viehhändler deutete auf den Reisesack und gluckste, und alle begannen plötzlich über die herausfordernd und zornig dasitzende Henne zu lachen. Nur der Lehrer blieb ernst, er sah sich aufmerksam den Reisenden an.

Der junge Mann fand ein schmales Plätzchen in der Ecke, er machte sich so dünn als möglich, nahm den Hut ab und legte ihn aufs Knie, knöpfte den Mantel eng zu und schloß sofort die Augen.

Der Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals betrachtete mit einem raschen Blick die vom Schnee rotgebeizten Stiefel des jungen Mannes, dann ließ er wieder die aufgerissenen Augen von einem zum andern gleiten und schrie:

»Ist das nicht – meine Herren – hören Sie! Ist das nicht empörend! Der Dekan will sie nicht beerdigen. Nein, er will sie nicht beerdigen!« wiederholte er und rollte die Augen.

Der Lehrer lachte belustigt.

»Schweigen Sie!« schrie der Schuhmachermeister empört und deutete auf den Lehrer. »Ja, Sie, Sie sollen schweigen! Ich finde es unbegreiflich! Er beerdigt sie nicht. Wie einen Hund wird man sie einscharren, kein Glockengeläute, kein Gesang, kein Segen.« Tränen traten in seine großen Augen. Er zog die Dose heraus und schnupfte. »Keine geweihte Erde!« fügte er hinzu. Die Bauernfrau in Trauerkleidern jammerte. »Oh du lieber guter Himmelsvater –«

»Es wird sich nicht mit den Kirchengesetzen in Einklang bringen lassen,« sagte der jüdische Händler, »so scheint es mir – die Kirchengesetze – eben –«

Hier begann der Schuhmachermeister sich vollständig zu verändern. Er schwoll an, sein Hals, sein Gesicht, er wurde dunkelrot, und mit den stierenden großen Augen hatte er Ähnlichkeit mit einem jener rotlackierten chinesischen Götzenbilder. Er sah aus, als wolle er den Händler vernichten, aber im letzten Momente schrumpfte er zusammen, er beugte sich zu dem Händler und reichte ihm mit übertriebener krampfhafter Freundlichkeit die Dose. »Mein Freund!« zischelte er. »Mein Freund, Kirchengesetze, ich bitte Sie! Kirchengesetze hin, Kirchengesetze her. Gehen Sie zum Henker, mein verehrter Herr, mit Ihren Kirchengesetzen. Kirchengesetze? Ich will Ihnen –«

»Ich will Ihnen mal einen Fall erzählen,« unterbrach ihn der Händler, die Prise Tabak auf dem Daumen.

»Lassen Sie mich mit Ihrem Fall in Teufelsnamen in Ruhe. Ich sage Ihnen, die Mutter, hören Sie, eine alte, kleine, eine arme kranke Frau, rannte wie verrückt herum und schrie, verrückt, ich wiederhole. Sie lief also ins Pfarrhaus, obwohl sie doch wissen sollte, daß unser Pfarrer gestorben ist. Sie klopft also, trommelt an die Tür, schreit, jammert. Er ist ja gestorben, der alte Hummel, sagten sie, ja, bei allen Heiligen, Sie wissen doch, daß er gestorben ist, vor einem Monat, Sie waren ja selbst bei der Beerdigung. Aber die Frau, hören Sie, sie verstand kein Wort, sie klopfte, pochte, hämmerte an die Tür. Sind Sie denn ganz verrückt, sagten sie, wie kann er aufmachen, wenn er tot ist? Es ist niemand da, keine Seele, der neue Pfarrer ist ernannt, aber er ist noch nicht da. Gehen Sie nach Weinberg, zum Dekan, er hat die Verwesung, gehen Sie dahin. Sie lief also nach Weinberg – sie lief eine Stunde weit im Schnee, geängstigt, gehetzt, verzweifelt – sie lief und lief – sie stellte sich vor das Haus des Dekans und schrie. Meine liebe Frau, sagt der Dekan – Gesundheit, Sie beniesen es – meine liebe, gute Frau, es tut mir leid. Hören Sie in Teufelsnamen, ich brauche also gar nicht erst Ihren Fall zu erfahren – lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Fall, lassen Sie mich in Ruhe und Frieden damit – diese verzweifelte Frau wirft sich ihm zu Füßen, jammert, schreit. Aber alles ist umsonst, für die Katze, alles. Meine liebe gute Frau, sagt der Dekan, ich kann nicht. Es ist unmöglich. Ja, wenn der Lebenswandel Ihrer Tochter – ich kann nicht – ich sage, der Lebenswandel Ihrer Tochter – es tut mir leid. Die alte Frau, eine Greisin, grau, alt, ein beklagenswertes Mutterherz, wirft sich ihm zu Füßen, beschwört ihn in des Heilands Namen, aber er sagt, liebe, gute Frau, trösten Sie sich – des Allmächtigen Wege sind unerforschlich –«

»Da sehen Sie eben die Vorschriften!« sagte der Händler und nieste dröhnend, indem er Mund und Nasenlöcher und Augen läppisch aufsperrte und das Coupé mit sprühendem Dunst anfüllte.

»Die Frau Dekan hat der verzweifelten Mutter eine Tasse Kaffee angeboten, es sind gute Menschen – aber eine Tasse Kaffee macht ihr die Tochter nicht lebendig, eine Tasse Kaffee ist kein Trost für ein verzweifeltes Mutterherz, keine Einsegnung.«

Hier wurde der Schuhmachermeister von einem Herrn mit langem messinggelben Schnurrbart und großer Glatze, Postadjunkt Kaiser, unterbrochen. »Sie hat ihn zurückgewiesen, den Kaffee«, sagte er. »Die Frau Dekan hat es mir selbst erzählt. Mein Mann kann nicht, es ist unmöglich«, sagte sie.

Der Händler nieste zweimal, leckte sich den Bart und sagte:

»Die Kirchenverordnung meine Herrn, es steht fest, die Kirche muß einen Unterschied machen zwischen einem Selbstmörder und einem anständigen Menschen –« Der Lehrer ließ ein lautes Lachen hören – »zwischen einem Mädchen, das außerehelich entbindet und einer, sagen wir, einer barmherzigen Schwester –«

Aber der Schuhmachermeister mit dem Blähhals fiel ihm ins Wort. »Hören Sie auf!« zischte er und sein Gesicht schwoll an, als werde es von einer unsichtbaren Macht bis zum Zerplatzen aufgeblasen. »Was verstehen Sie? Ich sage, solch ein Jammer, eine alte arme Frau, die nahe daran ist, den Verstand zu verlieren, ja, vielleicht hat sie ihn schon verloren? – Sie kniet vor dem Pfarrhaus und schreit wie besessen, sie rennt in alle Häuser und bittet die Leute zu bezahlen – die Kosten zu bezahlen – ein jeder ein wenig, dann ginge es. Sie will ja alles zurückbezahlen –«

Die Stimme eines kleinen graubärtigen und sauber gekleideten Mannes, der sich bisher mit keinem Worte an dem Gespräche beteiligt hatte, sagte: »Der Herr Dekan wird recht wohl wissen, was zu tun ist!« Die Stimme sprach so bestimmt und die Kinnladen des alten Herrn bewegten sich mit solcher Würde, daß alle auf ihn hören mußten. »Weshalb also ereifern Sie sich so, meine Herren? Die Kirche kann ihre Segnungen nur Gliedern derselben angedeihen lassen, die sich ihrer würdig zeigen. Ein Mädchen jedoch, das einen solch unzüchtigen Lebenswandel führte und zuletzt zu all den Sünden noch jene des Selbstmordes fügte, ist meines Erachtens dieser Segnungen unwürdig – unwürdig, voll und ganz –«

Der Lehrer, der in der Mitte des Abteils stand, funkelte mit den Brillengläsern und brach in ein lautes lustiges Lachen aus, der alte Herr hielt inne und starrte ihn mit offenem Munde an. Diese Pause benutzte der Schuhmachermeister. Er rollte die Augen und schrie zu allen gewendet:

»Sodann also rannte die alte Frau, dieses gepeinigte Mutterherz, zu dem katholischen Geistlichen. In des Heilands Namen, helfen Sie mir! Aber der geistliche Rat sagt, es tut mir leid, liebe Frau, gehen Sie zum Herrn Dekan nach Weinberg. Ich habe hier nichts zu tun!« Er schlug die Hände zusammen und ließ die Augen fragend von einem zum andern wandern.

Der graubärtige Herr hatte sich von seiner Verblüffung erholt und nahm das Wort wieder auf. »Ich selbst habe Angehörige auf dem Friedhof liegen,« sagte er, »ich glaube den Herrschaften bekannt zu sein – Messerschmied Ulrich, eingesessener Bürger und Magistratsrat – ich wünsche nicht, daß meine Angehörigen in der gleichen geweihten Erde ruhen mit einer Person – nun, ich habe nicht zu richten – aber es ist in Ordnung, was der Herr hier sagt: Es muß ein Unterschied herrschen! Wer unwürdig ist, ist unwürdig.«

O Gott, o Gott, jammerte die Bäuerin in Trauerkleidern.

»Hier!« schrie der Schuhmachermeister, »hier sitzt sie! Hier sitzt eine Tante von ihr! Sie muß so etwas mit anhören!«

Der Händler sagte: »Ein Unterschied muß herrschen, das ist klar!«

Da erhob sich der Schuhmachermeister und schrie zornig: »Was verstehen denn Sie, wie? Sie als Israelit, was verstehen Sie?« Das rief ein lautes Gelächter hervor. »Nein!« fuhr der Schuhmachermeister fort und dämpfte die Stimme. »Ich kann dem Herrn Dekan nicht recht geben und auch Ihnen, Herr Rat Ulrich, auch Ihnen kann ich nicht recht geben, niemals, niemals!« Er flüsterte.

Messerschmied Ulrich zuckte die Achseln. »Ich äußerte nur meine bescheidene Meinung!« sagte er und ein böser Glanz kam in seine Augen. »Ich gebe dem Herrn Dekan vollkommen recht und kann auf keinen Fall dulden, daß man eine Behörde öffentlich in dieser beleidigenden Weise kritisiert. Das ist meine Meinung! Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!«

»Ja, Gott helfe ihm, Amen!« sagte lachend der Lehrer. »Gott helfe dem Herrn Messerschmied Ulrich, eingesessenen Bürger und Magistratsrat und mache ihn selig, Amen! Er kann nicht anders! Er hat gestritten für die gute Sache und sein Leben dabei aufs Spiel gesetzt! Gott helfe ihm! Hahaha! Aber die Wahrheit ist die, meine Herrschaften, daß morgen Hochzeit auf Schloß Bruck ist, der Dekan hält die Trauung. Hohe Herrschaften kommen von allen Himmelsgegenden, nach der Feier ist großes Diner, bei dem der Herr Dekan beileibe nicht fehlen kann. Das ist – hol’ mich der Teufel! – der Grund, weshalb er so standhaft und mutig die in der Erde ruhenden Bürger, Ulrich und Konsorten verteidigt. Im übrigen kann er nicht da und dort sein, das versteht sich von selbst.«

Der dicke Händler ließ wiederum den hohen gurrenden Laut hören, ähnlich einer Turteltaube, und sein Bauch begann zu zittern. Er zog ein gelbes Taschentuch heraus, eine Art Fahne, die für einige Zeit durchs ganze Coupé flatterte und einen Staubregen von Schnupftabak, Brotkrumen und andern Dingen ausstreute; dahinter verbarg er sich.

Aber, was der Lehrer doch daher schwätze! Der neue Vikar sei ja angekommen – he! – hier, Kaiser habe es erzählt!

»Ja, ich habe ihn gesehen!« sagte der Adjunkt und wischte sich etwas unsicher den langen messinggelben Schnurrbart. »Auf Ehre! Er sieht wie ein Offizier in Zivil aus, schwarzer Schnurrbart, Zylinder. Im übrigen hat mir die Frau Dekan erzählt, daß es der neue Vikar ist. Aber ich bitte Sie, meine Herrn – das ändert an der Sache ja nichts. Der Dekan ist sein Vorgesetzter und er hat zu gehorchen, fertig!«

»Also, trotzdem ein Verweser da ist, trotz alledem, das ist ja – das ist ja –« sagte ratlos der Schuhmachermeister.

Der Lehrer lachte. »Alterieren Sie sich nicht, mein Freund!« sagte er. »Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß es dem Dienstmädchen ganz gleichgültig ist, ob man sie einsegnet oder nicht, ob man sie beerdigen wird wie einen eingesessenen, ehrenhaften Bürger oder nicht.«

»Wie? Wie?«

»Sie hat, was sie will. Sie ist tot. Basta! Und gesetzt den Fall, daß es einen Himmel gibt – was ich für meine Person nicht glaube – so ist es einerlei, ob sie erster, zweiter oder dritter Klasse beerdigt wird. Sie kommt hinein, ob ihr der Herr Dekan von Weinberg einen Empfehlungsbrief mitgibt oder nicht. Oder? Deshalb sage ich, ich würde sie auch nicht kirchlich beerdigen – ganz wie der Magistratsrat Herr Ulrich – ebenfalls nicht, nein!«

»Wie? Wie?«

»Nein, denn es ist ja absolut einerlei, absolut einerlei. Ich für meine Person verzichte freiwillig auf jede Einsegnung, ja, ich verbiete diesen Pfarrern, Vikaren und geistlichen Räten, sich überhaupt einzumischen. Ich will nicht einmal etwas zu tun haben mit dieser Gesellschaft!«

»Wie? Wie? Ja, da hört sich denn doch –«

Ein unbeschreibliches Getöse entstand. Einige sprangen auf, und der Kopf der Dame tauchte wieder hinter der Scheidewand empor und drehte sich empört hin und her. Der Händler schaukelte vor Vergnügen hin und her und der Schuhmachermeister saß wie niedergeschmettert da und starrte mit großen, leeren Augen auf den Lehrer.

Der Lehrer antwortete mit einem dröhnenden Gelächter.

Aber hier nahm die Sache plötzlich eine Wendung.


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