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Dritter Teil


Erstes Kapitel

Grau lag in leichtem Fieber und dachte über die Menschen nach. Diese Zwietracht in vielen Familien! Daran dachte er. Ein geistiges Band fehlte. Man sollte in den Abenden ein gutes Buch vorlesen. Geld? Nein. Es gibt Bücher zu lächerlichen Preisen. Der Sohn oder die Tochter liest vor, die andern arbeiten nebenbei – es ist ein Genuß! Gewiß, er mußte eine Broschüre schreiben: Wegweiser –

Grau erwachte.

Da standen die Fenster offen und die Luft war lau und würzig. Die Bäume grünten. Es war Frühling geworden.

Plötzlich erschien Adeles schönes Bild in seinem Geiste. Er lächelte und stand auf.

Die Stadt hatte sich vollständig verändert, grüne Wipfel und blühende Bäume ragten über Häuser und Mauern. Man blickte in eine Gasse hinein und sah einen kleinen blühenden Kirschbaum leuchten, man blickte durch einen Torweg und sah zu seiner Überraschung ein ganzes Beet von Tulpen brennen. An den Häusern und Erkern kletterte allerlei Rankenwerk empor, als wolle der Frühling die kleine alte Stadt in ein grünes Netz einspinnen.

Der Fluß strömte rasch und jung dahin und die Schiffe und Fähren zogen an der Stadt vorüber. Ein kleiner Kettendampfer heulte und schleppte eine Reihe flacher Frachtschiffe hinter sich her. Am letzten Schiffe schaukelte ein kleines Boot und darin saß ein Mann mit einer Pfeife im Munde. Im Schaukeln des Bootes war der Frühling und auch in der Art, wie der Mann im Nachen saß und auch im lustigen Rauche der Pfeife war der Frühling.

Die Ebene glänzte in der Sonne, die Dächer ferner Dörfer leuchteten; Burgen auf den Höhen und weite grüne Wälder.

Grau saß in seinem Garten, noch geschwächt und müde von dem langen Krankenlager und lächelte. Seine Seele in diesen Wochen der Genesung war empfänglicher, fröhlicher noch als sonst und voller Dankbarkeit.

Er lauschte, blickte umher und wunderte sich. Sein Herz klopfte. Zuweilen kam das Fieber zurück, ein leises, fast angenehmes Fieber, dann empfand er alles wie einen Traum. Eine wunderbare Frische stieg aus dem jungen Rasen und wehte von Adeles Park her, alles war so frisch und neu. Die Vögel zwitscherten in allen Wipfeln und zuweilen vereinigte sich das Klingeln all dieser kleinen Vogelstimmen zu einem einzigen schwingenden Ton: Der Frühling stand auf grüner Wiese und blies auf seiner Flöte einen betörenden Schmeichelsang.

Graus Blick glitt über die Stadt hinweg bis zu den kleinen Dörfern, die in der Ferne lagen. Da standen Häuser, vor den Häusern lagen Gärten. In den Gärten wuchsen Blumen, unter den Hecken Veilchen, auf den Hängen Schlüsselblumen. Die blauen Höhenzüge am Himmelsrande waren grün, hinter ihnen dehnte sich grünes Land. Grün, grün – die ganze Erde war nichts als eine grüne Insel, die im Äthermeere schwamm.

Im Tale arbeiteten Leute auf den Feldern, die Erde zu bestellen. Bei der großen Steinbrücke wimmelte es von Arbeitern, die einen neuen Bahndamm aufwarfen. Schaufeln und Picken blitzten in der Sonne. Auf einem Neubau kletterten die Zimmerleute im Dachstuhl und hämmerten, auf der Landstraße knarrten Wagen mit Steinen, die zum Ausbessern der Wege bestimmt waren.

War es nicht schön hier zu sitzen und zu sehen, wie der Mensch sich seine Wohnstätte bereitete?

Und Grau dachte daran wie klein die Erde vordem war. Eine flache Insel von einem Meere umbraust, über ihr der Himmel als Decke. So klein war die Erde und so klein war die Welt. Aber die Erde sprach: Entdecke mich! Und der Mensch spähte aus und die Erde wuchs. Die Erde ruhte nicht, und flüsterte und flüsterte und plötzlich stand ein Mensch auf, einer von den Schlaflosen, und sagte: Nach Ost und West, Nord und Süd kannst du wandern, die Erde hat kein Ende, sie ist ein Ball, um den Sonne, Mond und Sterne kreisen. Aber die Erde ruhte nicht, sie flüsterte und flüsterte und ein Mann erwachte in der Nacht und erschrak und sagte: Die Erde steht nicht still, sie bewegt sich! Und fand keinen Schlaf mehr. Die Erde wuchs und die Welt wuchs. Die Gestirne rückten auseinander, in erschreckende Fernen rückten sie, aber sie hörten nicht auf, den Menschen anzustarren und er ersann Mittel ihnen bis in die fernste Ferne zu folgen. Und mit jedem Tage wächst die Welt. Der Astronom schreibt die unfaßbare Ziffer nieder, in jeder Nacht starren hundert Rohre in den Raum, spähen und suchen – und morgen wird eine Depesche über die Länder fliegen: Die Welt ist gewachsen, abermals ist sie größer geworden!

Und mit jedem Tage wächst die Erde. Die Pioniere sind an der Arbeit. Wenn jener Mann zurückkehrt, der jetzt den Nachen durch den fernen Schilfwald stößt, wenn das Schiff im Norden nicht vom Eise zerdrückt wird: Sieg! Die Erde ist gewachsen, sie ist größer geworden! Erobere mich, spricht die Erde, ich bin dein!

Grau lächelte. Wahrhaftig, dachte er ergriffen, ich liebe den Menschen, den Entdecker, den Eroberer, den Pionier, den Rastlosen!

Und er sah zu, wie die Menschen im Tale arbeiteten und Schaufeln und Picken triumphierend in der Sonne blitzten.

Niemals hatte sich Grau reicher gefühlt als in diesem Frühling, niemals empfand er stärker die Wunder der Welt und verwebte er sich inniger mit ihnen. Unausgesetzt durchschauerte ihn das Gefühl lebendig zu sein, selbst in den Nächten. Er erwachte oft und hörte sein Herz pochen und Freude erfüllte ihn und er dachte: Und morgen und übermorgen und jeden Morgen beginnt ein neuer Tag.

Jedes kleinste Ding bekam Sinn und Beziehung. Das Leben war wie das Buch des Meisters, wo man es öffnet, Wahrheit, Schönheit, tiefes Gleichnis und tiefes Geheimnis – aber was ist das Buch des Meisters anders denn ein Gleichnis des Lebens?

Die Sonne ging unter und ein leiser Wind trug Duft und Wärme über die Stadt und berührte Graus Wangen. Grau errötete und wußte nicht warum. Er blickt sich um, ob niemand seine sonderbare Erregung beobachtet habe. Dann ging er zurück in sein Haus.

Selbst der Wind, dachte er, wie kostbar ist er? Ohne ihn wäre das Leben nicht das Leben und nicht so reich wie es ist. Der Wind und der Sturm, die Morgensonne und die Nachtfrische, die warmen Regentropfen und der Hagelschauer – sie alle erwecken ein geheimnisvolles Leben in uns, wir atmen, es rieselt in uns, es erfüllt uns, wir erschrecken, erschauern: Das ist das Leben.


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