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Dreizehntes Kapitel

Grau erhielt einen Brief von Adele. »Warte! Mama ist besser, ich will mich ihr anvertrauen. Habe Geduld!« Er traf die Schwestern Sinding auf der Straße und wechselte einige Worte mit ihnen. Zufällig kamen sie auf Adele zu sprechen.

»Wir trafen sie bei unserer Stickmamsell,« sagten die Schwestern. »Sie soll ja in den allernächsten Tagen reisen.«

»So?«

Grau lächelte so eigentümlich, daß ihn die Mädchen erstaunt anblickten.

Ja, gewiß würde Adele in den allernächsten Tagen reisen, nur wußte niemand wohin und mit wem. Der Stadt stand eine kleine Überraschung bevor.

Grau war nicht ungeduldig, er wollte gerne warten, Wochen, Monate, Jahre, wenn es sein mußte, es war ja schön zu warten, er war dankbar, daß er es durfte.

Mit jedem Tage wurde sein Herz reicher, es frohlockte, es sang in seiner Brust. Er ging durch die Wiesen, die Felder, hinauf, hinab, bald waren seine Schuhe staubig, bald blank vom Grase. Er blickte ringsumher, seine Augen waren heller, goldener geworden in den letzten Tagen, er lächelte und seine Wangen waren rot, er sang leise vor sich hin, zuweilen lachte er und er hätte nicht sagen können, worüber er gelacht hatte. Ganze Strecken lief er dahin, den Hut in der Hand, die lächelnden Augen auf den Boden geheftet. Alle Dinge sprachen zu ihm, es strömte von allen Seiten auf ihn ein, unausgesetzt, und dabei pochte immerfort das Herz in seiner Brust, pochte und klopfte und zitterte. Reiche Tage waren das.

Wie aber waren Graus Nächte?

Diese warmen, feierlichen, funkelnden Nächte, nie würde er sie vergessen können! Wenn er oben am Waldrand lag und zu dem gestirnten Himmel emporblickte. Sterne hier, Sterne dort, Sterne überall. Es war kein Platz am Himmel leer. Da schimmerten sie, die großen Sternbilder spannten sich gewaltig aus, eine aus flimmernden Sternen gefügte mächtige Brücke stieg herauf, stieg empor, verschwand in den dunkeln Tannen. Aber wenn man hinein blickte in eine Gruppe von Sternen, so entdeckte man zwischen den kleinsten Sternen abermals Sterne, feine Fünkchen, Stiche. Da leuchteten große Sterne, die man mit Ehrfurcht anblickte, kleine, die man lieben durfte. Sternschnuppen fielen, oft kurz, gleichsam entschlüpft und wieder erhascht, oft lange Streifen, die hinter dem Horizonte verschwanden.

Grau konnte stundenlang in die Sterne blicken. Sie entzückten ihn. Sie zogen ihn an. Sie winkten ihm. Verwunderung und Staunen überkam ihn, Furcht, Schrecken, Grauen, Freude. Wie die Ameise im großen Walde, so war er unter den Gestirnen. Er konnte wandern, Millionen Jahre und würde ihnen nicht näher kommen. Auf tausenden von Planeten saß in dieser Stunde ein ihm verwandtes Wesen und starrte und starrte in die Gestirne, schwindelig vor Entzücken und Grauen. Schrecklich ist es für den Menschen an den unendlichen Raum zu denken. Fernen, Entfernungen, Leere, kein Laut, von den unverständlichen Lichtsignalen zahlloser Sternenheere durchzuckt. Er taumelt, er möchte schreien und doch denkt er wieder und wieder daran. Vielleicht aber tönen da draußen Melodien, vielleicht ist der Raum nicht leer, sondern von Geistern erfüllt. Vielleicht ist er die Wohnung Gottes und plötzlich könnte den Menschen die furchtbare Frage treffen: Was wagst du es?

Schrecklich ist es für den Menschen, ein Punkt am Rande der Unendlichkeit zu sein.

Grau zitterte. Er regte sich lange nicht. Scheu erfüllte ihn. –

Alle Nächte waren verschieden und jede Nacht erlebte Grau anders, eine Nacht machte ihn reicher als die andre. Jede Nacht hatte ihr besonderes Schweigen, ihren besonderen Geruch, ihre besonderen kleinen Laute. Der Wald war in jeder Nacht ein anderer. Bald flüsterte er, bald schüttelte er sich, er konnte sein wie ein Mensch, der im Traume: Ja, ja! murmelt, wie ein junges Mädchen, das im Traume kichert. Und er konnte schweigen, so tief.

Zuweilen hörte man tief im Walde einen hohlen Ton, als ob ein Stein ins Wasser falle. Knistern, Laute. Jemand ging im Moos, ein Schritt glitt in der Dunkelheit? Sang es nicht tief drinnen im Walde?

In einer Nacht wimmelte die Luft von Milben und Faltern, in der nächsten da war kein Leben, eine Nacht war still, kein Blatt regte sich, in einer andern da koste ein leiser Wind vom Abend bis zum Morgen mit dem Grase wie mit einer Geliebten.

Die Stadt mit ihren buckligen Dächern und blinzelnden Lichtern erschien wie eine große warzige Kröte an der Edelsteine funkeln. Da lag sie und kroch an den Fluß um zu trinken. Oft war die Ebene wie schwarzer, weicher Sammet, aber im Mondschein konnte sie sein wie ein See mit kleinen wandernden Silberwellen.

Einmal entlud sich mitten in der Nacht ein Gewitter. Gespensterhafte Wolken flogen daher, die vom Himmel bis zur Erde herabhingen und die Dächer der Stadt zu streifen schienen. Sie waren tiefschwarz, aber plötzlich zerrissen sie und Grau sah in eine riesige Schmiede hinein, wo wütende Schmiede arbeiteten. Die Funken sprühten, die Hämmer dröhnten, die Bälge heulten. Die Wolken jagen über die Höhe und nun rieselten die Blitze gleichsam über den Wald und Grau stand inmitten von Feuer. Das liebte er. Das Gewitter war kurz aber es hatte in Grau ein großes Erstaunen zurückgelassen, so daß er lange nichts andres denken konnte.

Wieder, da war die Nacht süß und träumerisch und Graus Herz war still und lächelnd und voller Liebe.

»Den Kindern Rosen auf die Wangen, wenn sie schlafen,« dachte er, »und sonnige Wiesen, wenn sie wachen, den Geknechteten gütige Anwälte unter den Mächtigen der Erde, dem Verzweifelten einen Freund!«

»Ich möchte der Traum sein und des Nachts vor den geängstigten Menschen tanzen und spielen, ich möchte ein Vogel sein und mich auf die Gitterstäbe des Gefängnisses setzen und meine schönen Farben zeigen.«

»Ich möchte ja, daß das Korn selbst auf den Dächern der Häuser wachse und die Tannen Wein und Früchte tragen, damit es keinen Hungernden mehr gäbe.«

»Dann möchte ich Ströme von Freundschaft aussenden in die Lande, damit der Hader und Zank endigte.«

»Dann möchte ich Blitze von Sehnsucht aussenden, damit sich alle Herzen entzündeten zu friedevollem Wettkampfe. Das möchte ich!«

Und Grau, der im Grase lag und ein heiteres Herz hatte, winkte leise mit der Hand und sagte: »Allen, allen Menschen einen Gruß! Dir und dir! Dem Mißmutigen einen Gruß, von jeder Glocke, jeder Geige, jeder Flöte will ich ihm einen Ton schenken, von jedem Vogel ein Federchen, das er entbehren kann, von jeder Blume ein bißchen Duft: Damit er fröhlich werde! Dem Fröhlichen einen Gruß und dir, du schönes Mädchen, das jetzt lacht, einen Gruß, und dir, dem Schwarzen einen Gruß, der jetzt im heißen Schiffsbauche arbeitet und glüht im Feuerschein! Allen, allen einen Gruß!«

Die schönste Nacht aber war die letzte Nacht, da Grau wartete.

Er war betroffen, als er auf der Höhe ankam und sich umblickte. Das glänzte! Der Fluß, die Stadt, die Ebene, die Höhenzüge, alles glänzte!

Grau war betroffen und sein Herz stand still. Da stand er und staunte. Das war ja sein Glanz, des großen Gottes Glanz, der auf Feldern und Wäldern und Dächern und Graus Hand lag! Niemals hatte er diesen Glanz vorher gesehen. Das Firmament, war es nicht wie ein gleißendes Antlitz, das sich über die Erde beugte?

Gott?

Der Furchtbare, der Pflanzen und Getier träumte? Unfaßbare Formen, verwirrende Gebilde. Sein Gedanke ward zum Feuer, sein Atem zum Gesang, seine Blicke schleuderten die tanzenden Sterne in den Raum, sein Blick fiel auf die Erde und aus dem dunkeln Haupt der Erde sprang der Mensch. Das Heben seines Lides kann das All zerschmettern, das Senken seines Lides ein neues schaffen und alles kreist und blüht wie zuvor.

War er so? Er, er? Er, nach dem die menschliche Sehnsucht irrt wie ein Hund, der die Spur des Herrn sucht.

Ist er überall? Im Grase, im Baume, in der Katze, die über die Mauer schleicht und in mir? Blickt er ewig auf mich mit einem seiner ungezählten Augen? Oder blickt er aus mir, pocht er in mir, ist er ewig in mir, in jedem Gefühle, folgt er mir jetzt in meine Gedanken? Duftet er aus der Blume?

Ist er in den Sternen, im Licht?

Oder ist er fern von allem, fern, fern von der Erde und wirft nur in Millionen Jahren einen Blick auf sie.

Ist er in der Bewegung – oder ist er das Einzige, das ruht?

Es ist ja nicht mehr wie früher, da er in einem Garten mit den Menschen wandelte, oder im Donner redete oder auf einer Wolke dahin fuhr.

Wir können ihn ja nicht mehr denken – aber wäre er nicht weniger groß, wenn wir ihn denken könnten?

Er ist eine Sehnsucht!

Plötzlich erstarrte Grau: Ist es verboten an ihn zu denken?

Verboten, verboten? Die Sterne blickten ihn an, Glanz blendete ihn. Er zitterte, sein Herz stand still und das Blut glühte in seinem Kopfe. Er hatte Furcht, entsetzliche Furcht. Er erbleichte und verhüllte sein Gesicht.

Wozu fragen, wozu denken, wozu Worte? Niederfallen, knien, sich beugen, beten, das ist alles, es gibt nichts andres.

Grau ging hinein in den Wald, wo es ganz dunkel war.

»Vergebung!« sagte er. Der Wald rauschte.

Durch die dunkeln Wipfel blitzte ein Stern. »Goldener Gott!« flüsterte Grau. »Auch hierher folgst du mir?« Er schloß die Augen – da fühlte er den Duft des Waldes. »Auch hierher? Das alles ist zu gewaltig für ein Menschenherz.« Er roch den Duft nicht mehr, da begann sein Herz zu pochen, fürchterlich schlug es. »Auch hierher folgst du mir!«

Sein Herz stand still, da begann ein großes Auge in ihm zu funkeln. – Er kniete nieder und beugte das Haupt. –

Als Grau nach langer Zeit wieder aus dem Walde trat, war er ganz blaß und erschöpft. Er lächelte matt und seine Augen standen voll Tränen. Er hatte gebetet zu seinem Gotte und ihn um Kraft angefleht, Adele würdig zu werden.

Nun fühlte er sich stark und frei. Nie hatte er sich freier und glücklicher gefühlt.

»Komm, Adele!« rief er. »Ich bin bereit! Komm!«


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