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Viertes Kapitel

Die kleine Stadt lag schon ganz ausgestorben. In den krummen Gassen brannten einige Laternen, halb zugeschneit, mit kleinen verrußten Petroleumlämpchen. Die alten buckligen Häuser standen stumm und vornüber gebeugt und erinnerten an im Stehen schlafende Pferde. Da und dort schimmerte ein helles Fenster. Der Schuhmachermeister Männlein saß friedlich über die Arbeit gebeugt, der Fleischer Keim hackte etwas auf einem Blocke und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch Fräulein Karola Sperling, Modes, hatte noch Licht. Denn sicherlich war sie es, die da droben im Giebelzimmer wohnte.

Über den öden Marktplatz fuhr der Wind und kämpfte mit einem Zeitungsblatt, das offenbar die Absicht hatte, die Kirchgasse hinauf zu rollen. Aber der Wind zwang es, umzukehren, zerrte es an den Häusern entlang und ließ es endlich die Gasse, die zum Flusse führte und Fischergasse hieß, hinabflattern.

Sobald das Zeitungsblatt in der Fischergasse verschwunden war, tauchte der Fremde, der sich Richard Grau genannt hatte, aus der langen Gasse auf, den Reisesack in der Hand.

Er ging langsam auf das Hotel »Zum weißen Elefanten« zu und sah sich das Hotel von oben bis unten aufmerksam an. Es war ein alter gelber Fachwerkbau, der die Fenster gerade da hatte, wo niemand sie suchte und sich im Gegensatz zu all den andern Häusern ringsum zurückbog. Rechts unten hatte es einen kleinen Erker, der sich auf eine kurze, plumpe Säule stützte. Aus dem Erker schimmerte Licht. Vor dem breiten Tor stand der Hotelwagen, der einer großen Hutschachtel ähnlich sah.

Die Aufschrift »Hotel zum weißen Elefant« zog sich über die ganze Breite des mächtigen Hauses hin und zum Überfluß hing noch ein Schild über dem breiten Tore, ein kleiner, drolliger Elefant mit kurzen Stoßzähnen und geschwungenem Rüssel und listigem Schmunzeln, ähnlich jenen ausgestopften Exemplaren, die die Kinder an einem Stricke hinter sich herschleifen.

Der kleine weiße Elefant schwang sich im Winde und schmunzelte.

Grau stellte die Reisetasche ab und ordnete sein Halstuch. Es wird wohl besser aussehen! dachte er und suchte in den Manteltaschen nach den Handschuhen. Aber diese Handschuhe, dicke, warme Handschuhe, die er erst gestern gekauft hatte, waren nicht zu finden. Plötzlich hörte Grau auf zu suchen. »Aber natürlich!« rief er aus und lächelte und sein Antlitz nahm einen glücklichen und träumerischen Ausdruck an.

Er räusperte sich und zog die Klingel. Ein kleines Fenster an der Wand fiel herab und eine hastige, sich überstürzende, ärgerliche Stimme fragte: »Wollen Sie Bier?« Es hörte sich wie Gebell an.

Grau nahm den Hut ab. »Nein,« sagte er, »ich will ein Zimmer – ein einfaches Zimmer, nicht zu teuer. Nur für diese Nacht.«

»Äh!« bellte die Stimme und ein ärgerliches kleines Gesicht fuhr zum Fenster heraus. »Sie haben an der Gassenschenke geläutet, sehen Sie denn nicht die Fremdenglocke? Können Sie denn nicht lesen?«

Grau lächelte. »Natürlich kann ich lesen,« sagte er, »entschuldigen Sie nur, wenn ich an der Gassenschenke geläutet habe –«

»Jajajaja!« Der Wirt, ein x-beiniger Mann mit winzigem Kopfe kam heraus und musterte Grau. Er schlich im Halbkreis um ihn herum, wog den Reisesack mit den Blicken, betrachtete Graus alten Hut, abgetragenen Mantel, seine frostroten Hände und endlich machte er die Augen scharf und musterte sein Gesicht, das vor Erschöpfung bleich und ausgehungert und vor Kälte blau gefroren aussah.

»Treten Sie ein! Ins Gastzimmer!«

Nach all der Dunkelheit erschien das Gastzimmer festlich beleuchtet, obgleich nur eine einzige Hängelampe brannte. Alles erschien nahezu weiß, die Wände, der lange, mit Vasen, Papierblumen und Gipsfiguren barbarisch geschmückte Tisch, die Vorhänge, die Wände und selbst der Fußboden. Die Decke aber war braun. Es war wohltuend warm hier, und der Duft einer feinen Zigarette vermischte sich mit dem abgestandenen Geruch von Speisen und etwas Ranzigem. Aus dem Geruch schloß Grau, daß hier die unverheirateten Beamten der Stadt aßen, etwa zehn an der Zahl, die alle gut zu speisen liebten. Ihr durch die Tafel angeregtes Gespräch schien noch in der Luft zu hängen und irgendwo zu stecken, gleich dem Rauche der schweren Zigarren, die sie nach dem Essen pafften. Nun war das Zimmer öde. Irgendwo zirpte eine Spieldose eine Arie, und an einem Tischchen in einem Erker saßen eine Frau und ein junger Mann vor einer Batterie von Weinflaschen. Die Frau saß sehr unschön da, den Stuhl weit zurückgeschoben, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, das Gesicht in den Händen. Der junge Mann saß in seinem Stuhle, die Füße, an denen er abgeschabte Reitstiefel trug, weit von sich gestreckt und rauchte. An seiner weißen Hand blitzten Steine. Er kitzelte die Frau mit einer Reitpeitsche am Halse. Beide wandten das Gesicht zur Türe, als Grau eintrat und Guten Abend wünschte, die Frau tat es, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. Sie war blond und schön wie eine Puppe. Sie hatte auch das Puppenlächeln. Der junge Mann hatte ein fahles, langes Gesicht und seine schwarzen gescheitelten Haare spannten sich wie glänzender Atlas über den Schädel.

»Hö!« schrie der junge Mann und sprang auf. Er eilte auf Grau zu, nahm die Reitpeitsche unter die Achsel, verbeugte sich wie ein Kellner und rieb sich die Hände, als wasche er sie.

»Was befehlen der Herr?« fragte er mit einer für seine zwanzig Jahre außerordentlich tiefen und rauhen Stimme und lachte betrunken. In seiner Rocktasche zirpte die Spieldose.

Grau sah ihn mit erstaunten Blicken an. »Sind Sie der Kellner?« fragte er, indem er sich, unangenehm berührt, abwandte und den Mantel auszog. Ein alter, etwas knapper, dunkelfarbiger Gehrock kam zum Vorschein. Die Ärmel waren mit schwarzen Borten eingesäumt und die Brustaufschläge zeigten etwas wie schwarze Seide. Da und dort schien der Stoff mit Tinte nachgefärbt zu sein.

Die blonde Frau lachte kichernd. »Aber, Herr Baron!« rief sie mit einer Mischung von Vorwurf und Koketterie in der inhaltslosen, hohen Stimme und sah Grau mit ihren großen Augen neugierig an.

»Ich fühle mich hier zu Hause, Tante!« sagte der junge Mann, den die Frau Baron nannte und lachte. »Deshalb, mein Herr, deshalb. Außerdem, weil Sie mir gefallen. Sagen Sie das eine, sind Sie kurzsichtig?«

Ja, er sei ein wenig kurzsichtig, entgegnete Grau höflich.

»Aha – deshalb. Deshalb sehen Sie einen so eigentümlich an. Wenn Sie nun nicht kurzsichtig wären, so wäre – aber Ihre Kurzsichtigkeit entschuldigt Sie, natürlich, haha – natürlich. Haben Sie schon den Trompeter von Säckingen gehört? Wie? Ja, wenn Sie ihn noch nicht gehört haben, sofort soll das Orchester antreten – sofort –«

Der Baron lachte und sprach auf Grau unausgesetzt ein. Er nahm die Spieldose aus der Tasche und zog sie auf. Der Blick seiner dunkelgrauen Augen war unsicher und flackernd, ruhelos und gequält. Grau erinnerte sich, diesen Blick bei einem Manne gesehen zu haben, der mit nackten Füßen auf Glasscherben tanzte, um sich zu vergessen, um sich selbst zu foltern – der Mann hatte wohl seinen Grund gehabt. – Auf der rechten Wange hatte der junge Mann einen kleinen Schmutzflecken und gerade dieser Schmutzfleck allein schien sein Gesicht brutal und betrunken zu machen, denn außerdem war es fein und regelmäßig, ja sanft.

»Hören Sie das Orchester? Behüt’ dich Gott – Onkel!« schrie er den Wirt mit dem kleinen Kopf an. »Bringe mir den schwersten Wein, den du hast im Keller – schwarz muß er sein – sofort! Das heißt, du brauchst dich nicht zu beeilen. Du kannst wegbleiben, solange du willst, Onkel, wir brauchen dich ja nicht hier – keine Seele fragt nach dir! Herrgott im Himmel, Onkel, wie ein Floh kommst du mir heute vor, genau wie ein im Dienst ergrauter Floh –«

»Herr von Hennenbach, Herr Baron!« rief die blonde Frau im Erker und kicherte in die Hände.

Der Wirt murmelte eine Verwünschung und näherte sich Grau. »Was wünschen der Herr? Abendbrot?«

»Ja, eine Kleinigkeit.«

»Schweinebraten, Schnitzel, Nieren –«

Grau winkte ab und schüttelte den Kopf. Der Wirt begann laut zu bellen. »Der Herr können auch Taube haben, Huhn –«

Grau machte ein hilfloses Gesicht. »Nein, danke,« sagte er, »ich bin nämlich gar nicht hungrig, müssen Sie wissen. Vielleicht haben Sie etwas Wurst und Bier?«

Der Wirt entfernte sich mit einer ärgerlichen Grimasse.

Die Frau im Erker begann zu kichern und zu keuchen und plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus. Dann hustete sie und rückte den Stuhl. »Sie sollten nicht mehr trinken, Herr Baron, Sie Wildfang!« kicherte sie.

»Ruhe, Tante, Ruhe!« sagte der junge Mann rauh. »Ich trinke die ganze Nacht, morgen, übermorgen, die ganze Woche, ich habe meine Periode und muß mich betäuben –«

Plötzlich stand er vor Grau und verbeugte sich. »Darf ich den Herrn zu einer Partie Billard einladen?«

»Danke.«

»Einsatz zwanzig Mark. Ich gebe dem Herrn fünfzig Bälle auf hundert vor.«

»Ich bedaure, ich spiele nicht Billard.« Grau sprach sanft und höflich.

Der Baron lachte. Also nicht einmal Billard spiele der Herr? »Sie waren wohl nie Student? Kann ich mir denken.«

»Doch, mein Herr!«

»Ja, du meine Güte, da haben Sie nicht Billard gelernt? Ich möchte schon wissen, was Sie dann in Ihrer freien Zeit taten?«

»Ich habe Stunden gegeben.«

»Aha! Das ändert die Sache allerdings. Aber hören Sie, ob Sie Billard spielen oder nicht, das ist ganz egal – ganz egal – Sie lernen es. Trotzdem Sie sehr kurzsichtig zu sein scheinen – trotzdem prophezeie ich Ihnen, daß Sie es in fünf Minuten können. Ich gebe Ihnen auf hundert Bälle neunzig vor – Einsatz zwanzig Mark –«

Grau lächelte. »Entschuldigen Sie –«

»Ich gebe Ihnen fünfundneunzig vor – neunundneunzig – hören Sie – und wenn Sie blind sein sollten – einen Ball werden Sie doch machen.«

»Nein, ich danke Ihnen vielmals. Ich bin zu müde.«

»Ah!« Der junge Mann warf sich rittlings auf einen Stuhl am Tische. »Dann vielleicht – Dame, Domino – oder Schach oder Mühle, was Sie wollen – Sie können ja sitzen bleiben, wenn Sie müde sind – ja, Sie brauchen nicht einmal zu ziehen, ich ziehe für Sie – die Hälfte Steine gebe ich Ihnen – ja, Donner und Doria!« rief er plötzlich aus und lachte laut und roh. Er hatte Graus Reisesack entdeckt. Er sprang auf und besah sich den Reisesack in der Nähe. Er lachte und bewegte die Reitpeitsche, als ob er die Henne kitzle. »Was für eine kostbare Sache!« schrie er. »Wohl ein altes Stück?«

»Es dürfte ziemlich alt sein, ja.« Grau lächelte, er änderte nicht den Ton der Stimme.

»Wohl ein – ein Familienstück – ein Erbstück?«

»Nein.«

»Nicht! Es sieht genau so aus. Was würden Sie sagen, mein Freund, wenn Ihnen jemand für die Tasche zwanzig Mark gäbe?«

»Ich verkaufe sie nicht,« antwortete Grau geduldig.

Der Baron lachte laut heraus. Er lachte Grau ins Gesicht, dicht ins Gesicht und sagte: »Hundert Mark! In die Hand! Na?«

Hier erhob sich Grau und verbeugte sich. »Ich sehe, der Herr sind in guter Laune,« sagte er, »ich verstehe das recht wohl, daß der Herr scherzen wollen, aber sollte es nicht jetzt genug sein?« Er sah den Baron an und plötzlich veränderten sich seine Augen. Eine leichte Glut begann in ihnen aufzuleuchten und ihr Blick schien langsam in die flackernden Augen des Barons einzudringen, bis hinab in die Tiefe.

Der Baron blinzelte, wie um sich von einer Macht zu befreien. Er kniff die Lider zusammen und lachte.

»Aber, Herr Baron!« kicherte die blonde Frau im Erker.

»Hundert Mark! Für die Tasche hier! Barzahlung? Nicht? Aber Herr, Herr, was ist mit Ihnen? Sie scheinen nicht allein kurzsichtig zu sein – aber hole mich der Teufel, ich darf Sie doch zu einer Flasche Wein einladen?«

»Ich danke Ihnen herzlich,« sagte Grau und errötete, »ich habe keine Lust. Ich bin zu müde, danke!«

Der Baron lachte und schrie: »Dieser Herr errötet, Tante, wie ein junges Mädchen, wie ein Jüngferchen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Also, Sie schlagen die Einladung aus?« wandte er sich wiederum an Grau. Er wartete ein wenig und sah Grau in die Augen; er wollte wieder zu sprechen beginnen, aber er zögerte und verlor von neuem unter dem Blicke Graus die Sicherheit. Einen Augenblick lang sah er überrascht aus, dann lachte er heraus und schrie: »Gut! Und wenn Sie mich auch noch so kurzsichtig ansehen, wissen Sie nun, was? – Hole Sie der Teufel!« Er klappte die Reitstiefel zusammen und drehte sich um.

Grau zuckte die Achseln und winkte den Wirt heran. »Wo ist das Hexengäßchen, bitte?« fragte er.

»Hexengäßchen? Hexengäßchen? Ja, was wollen Sie denn im Hexengäßchen, im Hexengäßchen?«

»Ich will jemand besuchen, der hier wohnt. Neben dem Armenhaus.«

»Armenhaus? Armenhaus?«

»Eine Frau Sammet möchte ich besuchen, eine Eierhändlerin. Sie wohnt doch da, nicht wahr?«

Nun verstand der x-beinige Wirt mit dem kleinen Kopf, der in Wirklichkeit mit den großen Augen, der langen, flachen Nase, dem kleinen Mund und dem verkümmerten Kinn dem Kopfe eines Flohs glich. »Der Herr kommen zur Beerdigung?«

»Ja,« sagte Grau und schlüpfte in den Mantel, während ihm der Wirt den Weg beschrieb.

»Wenn er doch zum Teufel ginge!« schrie der Baron mit einer zu Graus Verwunderung nahezu haßerfüllten Stimme.

Ah, wie traurig, dachte Grau, er ist unglücklich, und noch so jung!

Grau kehrte nach einer Viertelstunde unbefriedigt zurück und ging sogleich auf sein Zimmer. Er hatte die Eierhändlerin nicht zu Hause angetroffen.


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