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Vierzehntes Kapitel

»Sie ist einer von jenen Menschen, für die man sein Leben lassen müßte!« sagte Grau, der in seinem dunkeln Zimmer auf und ab ging. »Nur um ihr einen einzigen glücklichen Tag zu schenken, müßte man tropfenweise sein Blut hergeben!« Es blieb lange dunkel in Graus Zimmer, dann machte er Licht und schrieb an Susanna einen langen Brief. Verehrte und bewunderte Freundin, schrieb er. Er trug den Brief zur Post. Vielleicht kommt der Briefbote selten in das kleine Haus da draußen vor der Stadt, dachte er und lächelte. Und morgen würde Susanna lesen, daß sie einen Freund und Bruder gefunden hatte.

Er fühlte sich froh und erleichtert, als er wieder die Staffeln hinaufstieg. Obwohl es empfindlich kalt war und der Schnee unter seinen Schritten knarrte, trat er nicht in das Haus, sondern er ging weiter, die Parkmauer entlang. Plötzlich stand er vor einem hohen eisernen Gitter und merkwürdigerweise pochte sein Herz, als er dieses Gitter sah. Der Park lag öde und kalt. Grau dachte an den Mohren aus Bronze, der drinnen in dem weißen Hause stand, an die Stille des Salons mit den zierlichen Möbeln und an den leisen Schritt, der sich plötzlich der Türe genähert hatte; dann kam sie. Ihre Stimme, ihre Augen – er ging weiter, diese Erinnerung schmerzte ihn. Er stieg die Höhe hinauf. Schnee, Düster und unheimliche Stille. Ein paar Lichter blinzelten im Tal, als ob die Kälte sie beize wie Augen, ein kleiner grüner Stern sprühte am Himmel, der fast schwarz aussah. Der Wald begann. In ihm war es noch stiller und ganz dunkel, aber es war wärmer zwischen den Bäumen, die ohne jedes Zeichen von Leben dastanden und sich gleichsam aneinander drängten.

Grau lauschte unwillkürlich, Scheu, Friede und Feierlichkeit erfüllten ihn inmitten des winterstillen Waldes, den ein Zauber in Erstarrung versetzt hatte. Die Herzen all der Bäume standen still und regten sich nicht mehr und schienen tot zu sein. Er ging leise, nur der Schnee ächzte unter seinen Schritten. Und er dachte an den großen Winterschlaf, den die Erde schlief, die Wälder schliefen, die Quellen, selbst ganze Völker im Norden schliefen, die Bären in den Höhlen. Aber Gott wird die Wimper heben und vom Süden wird der Tauwind kommen, die Bären werden die Tatzen lecken, der Schläfer wird vom Ofen kriechen, die Quellen werden sprudeln und die Wälder sich schütteln. Auch die erstarrten Herzen dieser Bäume werden wieder zu pochen beginnen: Denn da ist ja nichts Totes in der Welt. Was tot ist, ist nur scheintot und selbst der Stein am Wege, er schläft nur.

Grau blieb stehen. Ging nicht jemand an seiner Seite? Er lauschte. Nein. Aber hatte nicht eben eine feine Stimme in sein Ohr geflüstert? Es flüsterte und pochte. Es war sein Blut, das in seinem Körper strömte. Und mit einer Art von Schrecken lauschte er auf jenes Pochen, Pulsieren, Atmen in seinem Körper, das ihm Kunde gab von den geheimnisvollen Vorgängen, die ohne sein Wissen Tag und Nacht in ihm walteten. Die Zellen in ihm verschoben sich, änderten sich, er wußte es nicht, eine Stelle in seinem Körper mochte in großer Gefahr sein, die Blutkörperchen stürzten herbei, zu verteidigen, zu helfen, zu heilen, die Nerven zitterten, ein unausgesetztes Signalsystem war in Tätigkeit, er wußte es nicht. Die Blutwelle überschwemmte sein Gehirn, ein vergessener Ton erwachte, ein vergessenes Bild, ein Gedanke formte sich, ein Wunsch irrte hin und her, flackerte, leuchtete Monate und Jahre, bis er ihn entdeckte, oder er erlosch ungesehen, unbeachtet – und er wußte von all dem nichts! Er sprach, lachte, ging, er war nichts als Oberfläche, er lebte an der Oberfläche, während in ihm unausgesetzt eine Welt von Geheimnissen wirkte.

Plötzlich stand er vor einer Waldwiese, aus der ihm Kälte entgegenstürzte. Diese Wiese schien lebendig, bewohnt zu sein. Es war Licht auf ihr. Das Licht kam vom Mond, das Licht des Mondes von der Sonne – welches Licht, um des Himmels willen, war es doch, das ihn, den nichtigen Wanderer, hier grüßte? Aus welchen Zeiten, welchen Fernen kam es? Wie, wie, wie?

Er, der hier stand und nicht mehr war als eines der Millionen Schneesternchen, die auf einem Aste lagen, er wurde von Entsetzen gepackt, denken zu können und zu fühlen, daß er lebte.

Denn was Leben heißt, wer hat es doch je zu Ende gedacht? Niemand. Selbst der schnelle, scharfe Gedanke des Weisen, er erlahmt, er erschrickt, er kehrt entsetzt um.

Da ist zum Beispiel das Blut! Nicht seine Funktionen allein, die die wunderbaren menschlichen Apparate (ein Lob dem Menschen!) belauschen konnten. Ein Tropfen Wasser ist köstlich, wer ersann ihn? Eine Faser Eisen, köstlich, wer erdachte sie? Aber ein Tropfen Blut, wie –?! Das Blut verrichtet seine Arbeit – sein Schöpfer sagte: schaffe! und es gehorcht – aber es ist zugleich wie ein Volk, hat Gebräuche, Eigenschaften, Geschichte, denn das Volk es ist ja aus Blut erbaut, es ist ja nichts als die Vergrößerung des kleinen Tropfens. War nicht ein ewiges Vergehen in ihm, Grau, der durch den Wald ging, ein ewiges Vergehen und Erblühen? Von Eigenschaften und Fähigkeiten, von Völkern, Geschlechtern und Rassen, wer weiß, wann sie lebten, woher sie kamen? War nicht ewiger Kampf, Unterhandlung, Waffenstillstand dieser Geschlechter in ihm? Jene Rasse, die vom Osten kam, vielleicht erstarb sie in ihm in dieser Minute und übergab ihre Waffen an ein Geschlecht, das aus dem Norden kam, mit Ketten aus Bärenzähnen geschmückt? Woher sollte es doch kommen, daß ihn zuweilen namenlose Traurigkeit befiel, ohne jeden Grund? Namenloses Glück in ihm aufloderte wie ein Siegesgeschrei, ohne jeden Grund? Tod und Geburt in ihm wie in der Welt, Kampf und Sieg. Dieses Auf und Ab, dieses Gehen und Kommen, dieses Laut und Leise, Fragen und Befehlen, Erschrecken und Locken, wie wunderbar war es doch! Wie entsetzlich und wie köstlich schön!

Und doch – das war ja noch nicht das ganze Leben in ihm, nur ein kleines Stück, soviel wie ein Blatt vom Walde ist, nicht mehr, nicht weniger.

Die geheimnisvollen Lebenswellen, die ihn unausgesetzt umkreisten, durchdrangen, dieses Sausen des Lebens nah und fern, das Brausen der Sonne und der kräftespeienden Gestirne, das ihn erreichte.

Jene blitzartigen Offenbarungen einer verborgenen Welt, von der er ein Teil war, die sich öffnete und schloß in der gleichen Sekunde vor dem geblendeten Auge. Jenes Singen und Flüstern, Tag und Nacht? Oder erinnerst du dich nicht mehr, da du zwischen Schlaf und Wachen warst und deine Seele plötzlich in dir zu sprechen begann? Du erbebtest, Schreck und Freude erfüllten dich. Zu leicht, zu seicht, zu lau und flau bist du, sprach deine Seele. Und du antwortetest, gebannt von dem Unbekannten: »Ja, ja!« Deine Seele sagte: »Tue dies, tue das!« Und du sagtest: »Ja, ja, ich gehorche!« Das ist der Weg, sagte deine Seele und du sagtest: »Ich werde ihn gehen!«

Und solltest du dich nicht mehr daran erinnern, an jenen Moment, da plötzlich ein Auge in dir leuchtete und dich von innen heraus anblickte. Das Auge blickte mit großem, majestätischem Glanz auf dich und war in dir – und du, du sprangst auf. »Ich bin ja allein!« sagtest du laut, aber du glaubtest dir nicht. Hattest du den Mut, zu fragen: »Wer ist hier?« Nein! Denn du fürchtetest ja, eine Stimme könnte dir antworten!

Nichts fürchten wir ja mehr, als daß sich jenes geheimnisvolle Leben, das wir ahnen, uns offenbarte.

Grau ging nach Hause; er schüttelte den Kopf, seine Augen waren groß und leuchtend. Der Mensch geht auf schwankendem Grunde, dachte er, noch mehr: er geht in der Luft.

Auf dem Rückwege kam er wieder an dem hohen, eisernen Gitter vorbei. Es war noch immer angelehnt. Über dem Park sprühte wie vorhin der kleine, grüne Stern. Und wieder rief sich Grau jene Szene in dem kleinen Salon ins Gedächtnis zurück und es schmerzte ihn, daß er nicht genug in jenes schöne, stolze Mädchenantlitz geblickt hatte, um es für alle Zeiten zu behalten.

Er schlief erst spät ein. Das Auge nimmt ein Bild mit aus dem Tage und das Bild erscheint im Traum. So träumte Grau in jener Nacht von dem Gitter des Parkes. Es war nur angelehnt. Er träumte, er stände davor und wartete. Ja, worauf wartete er doch nur? Da kam ein hohes, stolzes Mädchen aus dem Park hervorgegangen, es war jenes Mädchen mit den hellen Augen. »Hast du mich heute wiedererkannt?« rief sie. Aber je näher sie kam, desto mehr veränderte sie sich. Es war Susanna, die kam; sie trug den kleinen grünen Stern auf der Hand und winkte ihm mit den Blicken, ihr zu folgen. Er zögerte – aber dann folgte er ihr.


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