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Zehntes Kapitel

Der Schnee im Garten draußen leuchtete stahlblau, die Nacht brach schnell herein und mit ihr kam die Kälte, die kahlen Bäume begannen zu glitzern.

Grau gab sich dem schönen Gefühle des Alleinseins hin. Er setzte sein Abendessen zu, Linsen, dann ging er wartend hin und her in seiner Stube und dachte an tausend Dinge. All diese vielen Menschen, die er in den letzten Tagen kennen gelernt hatte, welche Mannigfaltigkeit und welche Einheit trotzdem.

Die Linsen begannen zu duften. Herrlich! Welch wunderbare Produkte es doch auf dieser Erde gab, Linsen, Nüsse, Erdbeeren, die Birne, die Weintraube. Man brauchte Stunden dazu sie alle aufzuzählen, nur um die Namen aller Nüsse zu nennen, wie lange doch? Und schon von den Namen dieser Dinge geht ein Zauber aus, man sieht sie, man schmeckt und riecht sie, sie sind die Meisterwerke von Millionen großen Chemikern, jeder noch so unscheinbare Strauch hat gearbeitet mit aller Kraft, um seine Frucht herrlich zu bereiten in dieser Welt, da in die kleinsten Dinge der Wunsch nach Vollendung gehaucht ist.

Man spricht ja nur von den einfachsten Produkten, wie Eisenbahnzüge und Schiffe sie in jeder Stunde über Kontinente und Meere tragen – Eisenbahnzüge und Schiffsbäuche gefüllt mit Wohlgerüchen, Farbenräuschen und Formenwundern! Man spricht ja von nichts anderem, oder?

Spricht man hier zum Beispiel von den Steinen? Von den Kristallen, den Quarzen, den Topasen, Smaragden, Diamanten? Oder von Perlen, Korallen und Muscheln? Nein. Man kann ja nur an ein Ding denken, man kann ja nur in eine Richtung denken. Wenn man gleichzeitig in alle Richtungen denken könnte, in tausend Richtungen? Man hat zuerst an die Nüsse gedacht, dann an die Diamanten, aber wenn man gleichzeitig an alle Dinge denken könnte? An die Steine, die Pflanzen, die Tiere und alle, alle Dinge zu gleicher Zeit? An die Muscheln, den Sand, die Palmen, die Kirschblüte, die Orchidee, die Mammutfichte, den Seestern, den Sägefisch, die Wale, die Tiger und die Giraffen, an die Papageien und die Adler – an alles in seinem Wesen, seinem Charakter, seiner Form und Farbe, würde man nicht taumeln wie der Habgierige, auf den es Gold herabregnet?

Man spricht ja nur von den einfachsten und nächstliegenden Dingen.

Und doch da draußen existiert das alles, jetzt, in diesem Augenblick wehen die Palmenwälder, die endlosen Fischzüge ziehen durch die Flut, die Elefantenherden weiden, da und dort ist eine Insel, auf der sich Schwärme von Paradiesvögeln sonnen, da und dort glüht jetzt eine Wiese in der Sonne und Tausende von farbenprächtigen Faltern schaukeln sich, an einem fernen Flußufer stehen Armeen von Flamingos, die Wölfe heulen im Schneefelde, in diesem Augenblick öffnet die schönste purpurne Blume in irgend einem einsamen Gebirgstale den Kelch, einerlei wo, in dieser Sekunde funkelt der Gischt einer Woge im stillen Ozean in der Morgensonne – es ist schön das zu denken, es betäubt, berauscht. Hat man an alle Dinge gedacht, nein, nur an wenige. Hat man an die jüngsten Geschöpfe gedacht, die der Mensch selbst schuf? Die Geige, die sausenden Maschinen, menschliche Gehirne in Eisen, die großen Dampfer, die mit ihren Schrauben die Flut des Meeres peitschen? Es ist schön daran zu denken, es macht reich.

Aber man hat ja nur an die Oberflächen der Dinge gedacht, an das Sichtbare der Erscheinungen. Würde man erst in die Dinge hineinblicken, wie? Schon wie Zelle sich an Zelle gliedert, wie das Blut in den Adern rollt. Der Gedanke allein macht schwindlig.

Hätte man auch das getan, hätte man schon alles getan?

Man hätte ja nur an das gedacht, was auf der Erde ist, an nichts anderes, nicht an den Raum, die Sterne, die Geheimnisse, die sich zwischen Wesen und Wesen spinnen, nicht an die ungesehenen Ströme, die in jeder Sekunde aus unendlichen Fernen fluten und das Menschenherz erbeben lassen.

Es ist ja gut, daß man nicht an alle, alle Dinge in einer Sekunde denken kann –

Die Linsen waren gekocht und Grau setzte sich zur Mahlzeit nieder. Es war schön, allein zu sein. Er konnte denken an was er wollte, an alltägliche Merkwürdigkeiten, zum Beispiel an den Löffel, den Teller, an die Fliege dort auf dem Buche.

Draußen erwachte ein leiser Wind und Grau lauschte auf ihn. Bald hörte er ihn wie ein Geräusch, bald unterschied er kleine Melodien, die immer wiederkehrten und doch nie dieselben waren. Wie merkwürdig ist doch mein Ohr nur, dachte er. Etwas Merkwürdigeres kann ich mir kaum denken. Wie eine Orgel, in die der Wind fährt, wie eine Geige, wie eine Trommel, was man will. Dazu habe ich zwei Ohren, aber weshalb wohl zwei? Ich habe zwei Augen um rund zu sehen, vielleicht habe ich zwei Ohren um rund zu hören? Sollte es das sein?

Grau lächelte. Hat nicht jeder Punkt meines Leibes Augen und Ohren, sieht und hört nicht mein kleiner Finger?

Er lachte: Ah, ich denke für mich, ich spreche für mich, niemand schadet das etwas, das sind meine Gedanken und ich bin gerne bereit, die andern Leute zu vernehmen.

Meine Haare, zum Beispiel, welch geheimnisvolle Funktionen – genug!

Er winkte mit der Hand, als ob er jemand zum Schweigen auffordern wolle, und lächelte. Dann machte er sich an die Arbeit.

Zu den Mürrischen und Griesgrämigen wollte er reden, zu den Kleinherzigen, Eng- und Kaltherzigen, den Armen, den Geizhälsen und Ofenhockern. Es ist ja zuviel Armut in der Welt, meine Freunde, zuviel Geiz. Zuviel Zaghaftigkeit, Schwäche, Mißtrauen und Trägheit und Haß! Zuviel Hader und Zank!

Da bist du zum Beispiel, du Kleinherziger! Wenn du allein bist, so ist dein Herz mit Liebe angefüllt, du denkst, das werde ich tun und jenes, das wird ihn freuen – sobald du aber einen Menschen siehst, so mißfällt dir seine Stimme oder sein Anzug und deine Seele zieht sich zurück wie die Schnecke in ihr Haus. Habe ich dich entdeckt, Kaltherziger! Ich halte dich fest! Du sollst ihn ansehen, er hat gelitten, er hat gewartet, ja siehst du nicht, daß er gewartet hat im Wachen und im Schlafen, daß jemand zu ihm spräche, sich Mühe gäbe ihn zu verstehen.

Und du, Empfindlicher, der für jedes Wort empfindlich ist, das man ihm sagt, und so rasch die Laune verliert?

Und du, du Fauler, wie? Du bist dick und rund und deinem Gesichte sieht man die Gutmütigkeit an. Eine Bettlerin pocht an deine Türe und fleht, ach, denkst du, ich habe mich eben ein wenig ausgestreckt, ich würde ihr ja gerne etwas geben, aber ich bin müde, ich werde still sein und sie wird denken, es ist niemand zu Hause und wird fortgehen. Willst du denn dein ganzes Leben lang so faul bleiben? Sprich?

Die Menschen wußten ja nicht, welche Schätze in ihren Herzen lagen. Er war gekommen darin zu graben und die Schätze ans Licht zu heben.

Ein Mensch ohne Liebesfähigkeit, wie sollte er fähig sein, die Schönheit zu empfinden – oder jenes Größte zu fühlen, das Liebe und Schönheit einschließt und sich dem Menschen nur in seltenen, kostbaren Augenblicken offenbart?

Ja, wolle Gott ihm die Kraft verleihen, für die Griesgrämigen und Geizigen und Faulen die richtigen Worte zu finden! Was war es doch, das sein Herz so wild schlagen ließ, wenn er sich vorbereitete zu den Menschen zu reden, so wild, daß er stets glaubte, sterben zu müssen?

Bald war Grau in die Arbeit vertieft, und der Heilige an der Wand, dessen Füße sogar nachdachten, sah ihm zu.


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