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Zehntes Kapitel

Wie erstaunt war Adele doch, als sie das Gitter öffnete und plötzlich Grau im Dämmerlichte stehen sah. Er wartete hier, das konnte sie wohl sehen.

»Sie sind hier?« sagte sie und gab sich Mühe ihre Überraschung zu verbergen. Sie sah ihn freundlich an und lächelte leise. Ein seidnes Tuch von roter Farbe lag lässig auf ihren Schultern.

Der Abend war soeben gekommen und er war herrlich; die Luft war warm und dicht und man konnte sie gleichsam mit den Händen greifen. Sie hüllte einen vollkommen ein wie ein warmes Bad. In der Stadt klangen Laute, Singen, Lachen, die Grillen zirpten, die Frösche lärmten in der Ferne, aber hier oben war es auffallend still. Obgleich die Schatten schon tief und verschwiegen lagen, so sah man doch noch Gesicht und Hände, gleichsam leuchtend. Grau sah jeden Zug in Adeles Gesicht und doch war es ringsum dunkel.

Er nahm den Hut ab.

»Ja, ich bin hier,« antwortete er und trat näher. »Verzeihen Sie mir, es ist gewiß nicht schön vor einem Hause zu stehen und zu warten. Aber ich wollte nicht hineingehen. Ich warte schon seit vielen Tagen, Fräulein von Hennenbach, ich möchte mit Ihnen sprechen. Ich habe erfahren, daß Sie morgen reisen.«

Adele zog das Tuch fester um die Schultern. »Ja, morgen früh.« Sie lächelte und schloß das Gitter. »Es ist ganz zufällig, daß ich ausgehe.«

»Ich wußte, daß ich Sie heute treffen würde!«

Adele sah ihn mit großen Augen an. »Bitte?« sagte sie dann und das kleine Wort verriet ihre Bereitwilligkeit ihn anzuhören und alle Nachsicht. »Wollen wir ein wenig gehen?«

»Ja, gerne!«

Grau ging still neben ihr her. Adele atmete tief die Abendluft ein und blieb einen Augenblick unter einem Busche stehen, der auffallend stark roch. Er roch wie Vanille. Grau blickte zu Boden, dann sah er Adele an und begann: »Ich habe nachgedacht, ich finde keine Ruhe mehr.« Er schwieg; wie sein Herz doch schlug! So konnte er nicht beginnen. Er sammelte sich und setzte hinzu: »Sind Sie entschlossen zu reisen?«

»Ja!«

»Wirklich entschlossen?«

»Ja, aber – und weiter?«

»Ich wollte Sie nur dies fragen,« sagte Grau und senkte den Blick.

Adele schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich glaube wohl zu wissen, weshalb Sie fragen, Herr Grau. Sie haben ja vor einigen Tagen schon eine Andeutung gemacht, die ich nicht mißverstehen konnte! Sprechen Sie, bitte, nicht mehr davon. Sagen Sie doch selbst, kann ich denn das anhören?«

»Ich habe Sie verletzt, verzeihen Sie mir!« sagte Grau.

Adele lächelte.

»Ich will gerne heute noch ein wenig mit Ihnen plaudern,« sagte sie leise. »Sie sind mein Freund und darüber bin ich froh. Aber Sie müssen solche Dinge nicht sagen. Ich freue mich, daß ich Sie noch zufällig getroffen habe, aber – nein, nein, nein, all diese Dinge.«

Grau wollte sprechen, aber sie ließ es nicht zu. »Sie sind so merkwürdig,« sagte sie und lachte leise, gleichsam heiter, »Sie kümmern sich um mich, Sie ängstigen sich um mich – so sonderbar sind Sie manchmal.«

»Es ist vielleicht mein Fehler, daß ich mich zuweilen zu sehr um die Angelegenheiten anderer bekümmere,« entschuldigte sich Grau.

Sie gingen bergan. Auf der Höhe schimmerte der Widerschein einer erblassenden Abendwolke im Laub der Bäume. Unter ihnen lag die Dämmerung wie ein weiches Dunkel. Es raschelte zuweilen in den Zweigen, das waren Vögel, die zur Ruhe gingen. Es knackte da und dort, aber je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto stiller wurde es. Die Stimmen des Tales waren erloschen und den Lärm der Frösche hörten sie nur noch einmal gedämpft, als sie einen kreuzenden Weg überschritten, der wie ein Kamin zur Stadt hinablief.

Dann begann Adele mit gleichmütiger Stimme zu sprechen. »Sie haben ja Urlaub genommen, Herr Grau,« sagte sie, »ich habe es gelesen.«

»Ja, das habe ich getan,« antwortete Grau und dachte an ganz andere Dinge. »Ich habe gemußt. Der Herr Dekan hat es mir nahe gelegt.«

Wie solle man das verstehen?

»Und doch ist es so. Übrigens, wenn der Herr Dekan nicht so liebenswürdig gewesen wäre, so könnte ich nun die größten Schwierigkeiten haben; bei der Behörde bin ich schlecht angeschrieben. Man setzte zuerst große Hoffnungen auf mich, aber ich scheine sie leider nicht zu erfüllen. Da kam diese Broschüre über die Gefängnisse, andere Flugschriften, das Begräbnis der Margarete Sammet, dann meine Predigten. Ich kann nichts anderes predigen als was ich glaube. Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Dazu kam noch jene Affäre mit der Kollekte für innere Mission. Sie haben nicht davon gehört? Auf irgend eine Weise ist nämlich die Geschichte doch bekannt geworden, obgleich der Herr Dekan in liebenswürdiger Weise die Sache zu verdecken versuchte. Wie? Sehr einfach. Ich sollte die Kollekte abliefern, aber ich vergaß es, zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das passiert, etwas zu vergessen. Ich war in jener Zeit sehr beschäftigt. Kurz und gut, ich vergaß es und der Herr Dekan kam zu einer langen Auseinandersetzung. Er bemühte sich persönlich in mein Haus. Wegen der Gegenstände, die ich verschenkt und verliehen habe, obgleich sie zum Inventar des Pfarrhauses gehören, machte er wenig Worte. Hm, hm. Aber alle die andern Dinge, diese heillosen Dinge. Besonders die Pfingstpredigt im Freien. Zuletzt kam die Kollekte daran. Ja, bei Gott, ich hatte sie vergessen. Es waren vierzehn Mark. Ich wollte sie dem Dekan geben, ich hatte sie in eine Schachtel gelegt. Aber das Geld war fort, es war gar nichts mehr da. Nun sang zum Unglück der Handwerksbursche im Nebenzimmer und da wurde der Dekan ärgerlich. Es vertrage sich doch nicht gut mit meiner Würde, Handwerksburschen zu beherbergen – sagte er.«

»Ist denn der Alte noch immer zu Besuch?«

»Nein, ein anderer, ein Freund von ihm. Er hat ihn mir geschickt. Ebenfalls krank und die Papiere in Unordnung.«

Adele lachte leise. »Glauben Sie denn alles, was diese Leute Ihnen sagen?«

»Natürlich glaube ich es. Und die Papiere sind wirklich nicht ganz in Ordnung gewesen. Die Kollekte also war verschwunden. Ich habe das Geld am Abend zuvor in die Schachtel gelegt, muß es aber in Gedanken herausgenommen und verwendet haben – es war ja nicht mehr da. Der Dekan sagte: Nun, Sie haben den Betrag vielleicht verlegt – verlegt – senden Sie ihn mir bis morgen früh zehn Uhr, bitte. Er war sehr gütig, er hätte mir ja große Schwierigkeiten bereiten können. Eisenhut lieh mir das Geld gerne und damit war die Sache in Ordnung gebracht.«

»Nach dem Urlaub werden Sie aber wieder hierher zurückkehren?« erkundigte sich Adele.

Grau lächelte. »Ich glaube es nicht, ich werde wahrscheinlich entlassen werden.«

Adele blieb stehen. »Sie werden entlassen werden?«

Grau lächelte wieder. »Ja,« sagte er, »weshalb denn nicht? Ich mache zu viele Schwierigkeiten. – Übrigens, um offen zu sein, ich werde selbst um Entlassung einkommen. Ich kehre nicht mehr hierher zurück,« setzte er leise, wie beschämt, hinzu. »Es gibt so viele Dinge, die sich mit meinen Anschauungen, trotz des besten Willens –«

Was er aber dann beginnen wolle?

Grau lachte leicht. »Das?« sagte er, »Oh, das macht mir nicht die geringsten Bedenken. Ich finde auch in einem andern Beruf ein großes Arbeitsfeld. Ich werde Medizin studieren, ich trug mich schon früher mit dem Gedanken.«

»Also Arzt wollen Sie werden?« rief Adele freudig aus. »Ich liebe die Ärzte. Was für ein Arzt?«

»Nun, ein guter Arzt, denke ich, für die, die krank sind,« erwiderte Grau lächelnd.

Sie kamen an eine Lichtung und sahen tief unten die Stadt mit ihren blinzelnden Lichtern liegen. Man sah Adeles Park. Hier duftete es stark nach Honig. Ein Insekt schwirrte über den Kräutern.

»Wie hoch wir doch sind!«

»Ja!«

Sie stiegen höher und plötzlich sahen sie den Mond in einem Himmel so dunkelblau wie ein Kirchenfenster stehen. Er erschien wie ein bleiches Gesicht, das voll namenloser Sehnsucht immerzu in die ferne Sonne starrte. Sie kamen ganz auf die Höhe und Adele war überrascht, eine Ebene vor sich zu sehen. Sie hatte gedacht, es gehe hier wieder bergab. Im Mondschein lag ein kleines kalkweißes Dorf. Die Ebene sah auffallend hell aus im Licht des Mondes, die Grillen zirpten in den Feldern und ihr schrilles feilendes Gezirpe schien alles ringsum in Silber zu verwandeln. Einen Augenblick lang blickte Adele auf das kalkweiße, gespensterhaft aussehende Dorf, dann wandte sie sich wieder dem Walde zu. Hier war es warm und schwül. Der Mond lag in Streifen und silbernen Tümpeln im Walde und auf dem Wege und warf fortwährend ein glitzerndes Netz über Adele, gleichsam um sie darin zu fangen; sie aber schlüpfte jedesmal aus dem Netze heraus. Sie sah zu Boden.

Wie schön war es doch an ihrer Seite zu gehen!

Graus Seele füllte sich mit Heiterkeit. Er ging leicht und lautlos, er lächelte, und nie hatte er den Wald stärker gerochen. Er sah und hörte mit wacheren Sinnen. So schön war alles, solch feine Geräusche waren da drinnen in der Tiefe.

In seiner Seele begann es zu singen. Laß uns gehen durch die Wälder, laß uns wandeln in den Au’n! sang es in seiner Seele ganz von selbst. Er lachte leise und räusperte sich.

In seinem Kopfe wisperten die Gedanken – und sie flüsterten im Rhythmus der Schritte. Er wehrte ihnen nicht. Gib deinem Kinde Mondscheinnächte, flüsterten sie (weshalb sagten sie doch Kinde?), gib ihm Sonnenschein, Wald und Feld. Gib ihm den Anblick der Tiere. Es ist wichtig, wieviele Sonnentage es erlebte. Die Formen, die Farben, das Werk der Wurzeln, das Werk der Wipfel, sie bauen die Seele und machen sie reich. Von den Tieren lernt es Schönheit der Bewegung, Adel des Blickes, Fassung und Ruhe – ohne daß der Mensch es weiß – hahaha – der Mensch weiß ja nichts –

Er lachte leise. Wie merkwürdig das war! Er verlor alle Befangenheit und er fühlte wie seine Wangen vor Freude heiß wurden.

»Wie es duftet!« begann er mit freier klarer Stimme. »Es riecht, als ob der Wald eine Pfanne voll Harz und Wurzeln wäre. So schön! Wie regungslos diese Fichten dastehen, nicht wahr? Und sehen Sie die Sterne, die durch die Wipfel blitzen? Da ist besonders ein großer, geschliffener Stern, der immer wieder auftaucht und im Walde umherleuchtet, als suche er etwas, etwa Sie. Eben wieder! Wie herrlich! Dann dieser Friede, bei Gott! Er durchdringt einen. Ich habe auch das Gefühl, als ob der Herr des Waldes in der Nähe wäre, der Geist des Waldes. Er schleicht neben uns her, belauscht uns, beobachtet uns, zuweilen glaubt man seine Augen sehen zu können, aber sobald man hinblickt, zieht er sich ins Dunkel zurück. Die Nacht ist wundervoll! Ja, diese Nacht ist so herrlich! Fühlen Sie? Sprechen Sie ein wenig, es ist so schön die Stimme einer Frau des Nachts im Walde zu hören. Ihre Stimme ist sehr schön und weich. Sie sprechen auch ein wenig eigentümlich, einen fremden Akzent –«

»Das ist gemacht,« sagte Adele. »Ich liebe das Fremde!« Sie lächelte und sah Grau an, dann blickte sie wieder zu Boden und fuhr fort: »Wie leid tut es mir nun doch, daß Sie auf dem Liederkranzball nicht in ein Gespräch mit dem Baron gekommen sind, Sie würden eine ganz andere Meinung von ihm bekommen haben. Er ist sehr gebildet und sehr klug und liebenswürdig. Freilich, er ist zumeist so müde, daß er nicht spricht. Er liebt das Herrische, er hat zwei schwere Duelle ausgefochten; wegen seines Armes konnte er ja nicht dienen, aber er ist trotzdem mit Leib und Seele Offizier. Ich liebe ebenfalls das Heldenhafte, Kampf und Krieg und was es auch sein mag. Das Leben aufs Spiel setzen, ein Leben unter Gefahr – ich liebe das! Der Baron ist ja nicht gerade schön, aber er sieht sehr gut aus, männlich sieht er aus, sogar etwas rauh. Aber so soll ein Mann aussehen. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er etwas altmodisch denkt, das ist der Einfluß seiner Familie, seiner Mutter und Tanten – er sagt zum Beispiel, der Mann gehört auf die Jagd und die Frau ins Boudoir, der Mann ist der Beschützer der Frau und betet sie an, die Frau habe nichts anderes zu tun als schön zu sein und ihn zu lieben und ihre Kinder zu erziehen. Nun, Sie sagen gar nichts, Herr Grau?«

»Ich habe kein Recht, mich zu äußern,« antwortete Grau ausweichend.

»So müssen Sie es nicht auffassen, Herr Grau.« Adele lachte leise. »Es ist ja gut, wenn wir uns aussprechen, nicht wahr? Vielleicht tun Sie dem Baron doch unrecht –«

»Ich habe ja gar keine Meinung über den Baron,« entgegnete Grau, »ich kenne ihn ja gar nicht. Es handelt sich ja auch nicht darum, ich glaube nur –«

»Nun?«

»Es ist vielleicht besser, wenn ich nichts sage. Ich habe kein Recht dazu.«

»Aber ich bitte Sie darum, Herr Grau.«

Grau schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Recht dazu, Fräulein von Hennenbach. Aber ich kann eines eigentümlichen Gefühls nicht Herr werden – ich fühle das, fühle das so unsagbar stark – daß in Ihrem Verhältnisse zu dem Baron etwas nicht in Ordnung ist. Verzeihen Sie mir, bitte. Vielleicht ist Ihre Neigung –«

»Ich liebe ihn sehr!«

»Aber vielleicht lieben Sie ihn nicht genug, um seine Frau zu werden?«

Adele blickte auf den weißen Stamm einer kleinen Birke, der im Mondlicht leuchtete, und sagte: »Ich liebe ihn, ja. Oft denke ich, ich liebe ihn nicht genug, aber je mehr ich ihn kennen lerne, desto mehr liebe ich ihn. Ganz abgesehen davon, zumeist sind sogenannte Vernunftehen glücklicher als Liebesheiraten – ich sage ja nicht, daß ich den Baron nicht liebe, aber –«

»Trotzdem erscheint es mir besser, an einer Liebesheirat zugrunde zu gehen als in einer Vernunftehe zufrieden zu werden,« entgegnete Grau.

Adele lachte leise. »Sie sind ein Träumer!« sagte sie. »Man nimmt die Ehe ja gar nicht so wichtig in meinen Kreisen.«

»Nicht?« fragte Grau verwundert, beinahe erschrocken.

»O nein,« sagte Adele und fröstelte, während ihre Lippen lächelten.

»Unmöglich!« Grau schüttelte den Kopf. »Ich habe darüber nachgedacht,« sagte er nach einer Weile, »und die Ehe gehört zu jenen Dingen, die ich nie zu Ende denken kann. Es gehört ein beispielloser Mut oder ein großer Leichtsinn dazu, eine Ehe zu schließen. Ja, denken Sie sich: Die Ehe! Sie sind nicht mehr allein, Sie sind zu zweien. Sie haben zu jemandem gesagt, wir wollen bis zum Tode zusammen durchs Leben gehen! Sie sind plötzlich ein anderer Mensch geworden. Es ist als ob Sie immerfort einen vornehmen Gast im Hause hätten. Sie waren vielleicht gut genug, um allein zu sein, aber jetzt finden Sie, daß Sie sich bessern müssen, in jeder Beziehung, da Sie den Gast im Hause haben. Wenn Sie allein sind und Sie haben einen schlechten oder kleinlichen Gedanken, Sie sind allein, versuchen Sie mit sich selbst fertig zu werden – nun aber? Wenn er wüßte, daß Sie diesen niedrigen Gedanken haben, würde er nicht von Ihnen gehen? Beleidigen Sie ihn nicht durch den niedrigen Gedanken oder ein armseliges, kleinliches Gefühl. Sie müssen Ihre Gedanken und Gefühle veredeln, nun, da Sie den Gast im Hause haben, gleichsam geschmückt wie zu einem Feste muß allezeit Ihre Seele sein. Sie konnten früher nachlässig und träge sein, aber jetzt wäre es ja eine Kränkung Ihres Gastes, Sie müssen dreifach eifrig sein. Sie müssen den Gast bewirten mit guten Gedanken und großen Gefühlen, Sie müssen seiner würdig zu werden trachten. Das Leben ist lang und Sie müssen doch jeden, jeden Tag und jede, jede Stunde und jede, jede Minute mit einer festtäglich geschmückten Seele vor ihn hintreten. Und jeden, jeden Tag, der kommt, müssen Sie neu sein, erneuert, denn Sie dürfen ja nicht still stehen, was würde Ihr Gast dazu sagen? Keinen unschönen Gedanken, kein unschönes Gefühl dürfen Sie mehr haben, ja nicht einmal eine unschöne Gebärde – keine Müdigkeit, kein Sichgehenlassen – es ist ja schwer, es ist ja unendlich schwer und Sie müssen alle Ihre Kraft zusammennehmen, um vor Ihrem Gaste bestehen zu können, um seine Nachsicht zu verdienen.«

»Ich denke, es ist, als ob die beiden, die bis zum Tode durchs Leben zusammen wandern – als ob die beiden eine Kathedrale zusammen errichten wollten – eine herrliche stolze Kathedrale aus Schönheit und Reinheit. Von dem Tage an, da sie einander begegneten, beginnen sie zu bauen. Nur mit den schönsten und reinsten Gefühlen können sie die Kathedrale errichten. Die beiden sind vielleicht im Leben schon da und dort angestreift – aber die Kathedrale, die Idee ihrer Ehe, die können sie ja herrlich und groß errichten. Und die beiden haben vielleicht nicht das Recht, diese heilige Kathedrale zu betreten, die sie bauten und schmückten, nein, vielleicht ist die Kathedrale nur ein großes kühles Heiligtum über der Wiege ihres Kindes!«

»Ach, es ist ja so schwer, so schwer!« fügte Grau kopfschüttelnd hinzu. »Und denen, die es wagen, denen soll man Glück und Ausdauer wünschen! Ja, man soll für sie beten. All die Tausende, die es nicht wagen oder nicht wagen können, die sollen für die wenigen beten, die es wagen. Weil es so schwer ist – und so herrlich, es zu unternehmen.«

Adele sah lächelnd auf den Weg. »Wie Sie es doch auffassen!« sagte sie leise. »Und die Liebe? Wie denken Sie darüber?«

Sie wandte Grau ihre hellen Augen zu.

Grau lauschte. »Hören Sie das feine Sausen, das rings im Walde geht?« sagte er. »Hören Sie es? Bald ist es ferne, bald ist es ganz nahe bei uns. Es macht alles zum Traume, daß wir hier gehen, ist es nicht wie ein Traum? Sind wir nicht wie ein Traum im dunkeln Haupte des Waldes? Ich lebe und bin reich, weil ich hier mit Ihnen gehen darf. Sie hören mir zu, wenn ich spreche, wenn ich in meinen dürftigen Worten auszudrücken versuche, was ich empfinde, wie ich es empfinde, so geduldig und aufmerksam hören Sie mir zu. Ich danke Ihnen dafür, Fräulein Adele. Ich bin Ihr Freund und das macht mich glücklich. Sie sagten vorhin, es freue Sie, wie glücklich mich das gemacht hat!«

»Sie fragen, wie ich über die Liebe denke? Lassen Sie mir Zeit. Sehen Sie wie das Licht überall glitzert, es hängt in Tropfen an den Zweigen, es klettert an den Bäumen empor, bis in die feinsten Nadeln! Wie schön ist das! Ja, ich sage – Sie singen ein Lied, und es gibt ja wundervolle Lieder – Sie singen es und mitten darin bricht Ihre Stimme – denn plötzlich fühlten Sie, wie schön das Lied ist. So ist die Liebe! Es gibt im Werke der Orgel eine Stimme, die die menschliche Stimme heißt, ein süßer, flötender, lebendiger Ton, der durch alle andern Töne dringt, über ihnen schwebt – das ist die Liebe. Ich will Ihnen gern sagen, wie ich darüber denke – denn es ist ja so schön zu sehen, wie Sie zuhören.«

Grau schwieg eine lange Zeit und sah sie an. Er hatte plötzlich den Mut zum Sprechen verloren. Adeles Miene hatte ihn betroffen gemacht. Sie blickte auf den Boden, ihr Antlitz war kühl, fast abweisend, sie lächelte leise, fast spöttisch.

»Nun?« sagte Adele und sah auf.

Aber Grau schwieg und blickte sie an.

»Sprechen Sie doch!« sagte Adele ungeduldig. »Sprechen Sie doch. Es ist schön Ihnen zuzuhören und ich möchte gern wissen wie Sie über dies und jenes denken.«

Er sah, daß sie an der Lippe nagte.

»Was ist Ihnen?« sagte er. »Ich spreche ja gern, aber was ist Ihnen? Sie erscheinen bedrückt, ja, fremd erscheinen Sie mir. Wollten Sie doch glücklich sein? Aber Sie sind ja nicht glücklich!«

Adele lachte leise. Ja, mein Gott, was tue es? Was schade es im großen und ganzen, daß sie nicht glücklich sei? Sie rechne stets damit unglücklich zu sein und zu werden, es müsse so sein. Ja, wenn man ihr hier das Glück herlege und hier das Unglück –

»So werden Sie das Glück wählen!« sagte Grau.

»Wirklich?« Adele sah ihn an. »Nein, nein, ich werde es nicht tun. Ich werde das Unglück wählen, es liegt in meiner Natur. Und sobald ich etwas Glück in mir fühle, zerstöre ich es ja doch! Ich würde das Unglück wählen –« sie hielt inne und fügte zögernd und leise hinzu: »Oder würde ich das Glück wählen?«

»Sie würden es wohl tun!« sagte Grau. »Denn alle – wie wir leben – wir mögen uns noch so gleichgültig und trotzig gebärden, wenn wir allein sind, verzehrt sich unser Herz doch vor Sehnsucht nach dem Glücke. Nein, nein, Sie sind in einem Irrtum über sich selbst befangen, wenn Sie das glauben.«

Adele nickte. »Ich bin in einem Irrtum – in einem Irrtum über mich selbst befangen,« sagte sie. »Vielleicht, vielleicht? Oft scheint es mir selbst so, Sie haben recht. Oft scheint es mir, als ob ich meine Vision vom Leben verloren hätte. Was früher für mich groß und schön war – wüßte ich es doch noch! Ich habe mit so vielen Menschen gesprochen, jeder sagte etwas andres und keiner das gleiche, ich habe so viele Bücher gelesen und gelesen und gesucht – jeder große Geist hat mich überzeugt und mitgerissen – nun weiß ich gar nichts mehr. Wer bin ich eigentlich und was bin ich? Oft habe ich Sehnsucht nach Ruhe, nach dem Vergessen und oft bin ich müde und ich möchte mich fallen lassen – wohin ich auch falle. Ja, oft hab’ ich ein Verlangen nach unten – denn da ist kein Kampf mehr, es ist verlockend zugrunde zu gehen und gar nichts mehr zu sein. Oft habe ich diesen Wunsch, es ist die Wahrheit, ach, Sie brauchen mich nicht so entsetzt anzustarren und nicht den Kopf zu schütteln – ich kenne mich ja am besten. Wenn ich nun den Baron heirate, was schadet es? Zumal er mir ja sehr sympathisch ist. Sie können recht haben, es ist vielleicht nicht alles, wie es sein sollte und wie ich es mir wünsche, aber was schadet es, was liegt schließlich an mir? Nichts. Alle machen es so, denn alle werden nach und nach müde und geben sich auf und gehen nach unten. Vielleicht ist das ein Gesetz der menschlichen Natur? Ach, lassen Sie mich sprechen – ich liebe den Reichtum und der Baron ist reich. Ich habe unaussprechliche Furcht vor Armut und Dürftigkeit – grauenhafte Furcht und vor nichts habe ich solche Furcht wie davor, selbst vor dem Tode nicht. Ich liebe Bequemlichkeit, Luxus und Nichtstun. Ich bin ehrlich und sage Ihnen all das, es ist die volle Wahrheit. Oft denke ich an das Glück und an die Liebe – so fern ist es für mich – und ich denke, es ist nicht für mich, es liegt nicht in meiner Natur. Wenn ich eine junge Schwester hätte, die ich liebte, sie sollte es haben, das Glück und die Liebe, die Schönheiten des Lebens, sie und ich würde es mit ansehen. Für mich ist es ja nicht geschaffen. Ich höre Ihnen zu, ja, es lockt mich, aber ich glaube nicht daran, das ist es. Es ist alles so schön, zu schön, ich glaube nicht daran.«

Sie schwieg und brach einen Zweig in kleine Stücke. Die Stücke streute sie auf den Weg. Das letzte Stückchen wollte nicht brechen, sie bog es zwischen den Fingern, aber es brach nicht. Sie ließ es fallen.

Ihre Schritte glitten lautlos dahin, denn hier lagen Nadeln und der Weg war von Moos überwachsen.

Es hauchte hoch oben in den Wipfeln. Wie ein Bach im flachen Lande, mit vielen Inseln und Kanälen und Adern, so floß über ihren Häuptern der tiefblaue Nachthimmel dahin, kleine und große Sterne trieben darauf und glitzerten.

Nach langem Schweigen sagte Grau: »Wir Menschen fürchten uns ja nicht so sehr vor dem Unglück, aber es graut uns davor elend zu werden!«

Adele zuckte zusammen.

»Davor graut Ihnen ja so sehr!« fuhr Grau eindringlicher fort, indem er Adeles Arm leise berührte. Ihr erschrockener Blick streifte ihn. »Tag und Nacht graut Ihnen davor. Nicht davor würde Ihnen grauen, etwas Schlechtes zu begehen, denn es wäre vielleicht Trotz und Wille und Tat darin, aber es graut Ihnen davor unterzusinken in Unwürdigkeit. Ich habe auch wieder von jener Frau geträumt, die Ihnen ähnlich sieht – der Traum erschreckte mich, warnte mich –«

Adele machte eine abwehrende, fliehende Bewegung. Aber Grau berührte wiederum ihren Arm.

»Begehen Sie kein Verbrechen an Ihrer Seele, Adele!« flüsterte er.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich doch!« sagte Adele bleich. »Weshalb quälen Sie mich denn?«

Sie legte die Hände an die Ohren, als Grau wieder zu sprechen begann, und sah ihn mit zu schmalen Spalten zusammengezogenen Augen an.

Grau blickte sie an. Er war bleich vor Erregung.

»Verzeihen Sie!« stammelte er. »Oh, was habe ich doch getan. Es ist ja so unrecht von mir.«

Er lächelte schmerzlich und fuhr leise fort: »Ich sehe Sie an, wie schön sind Sie doch! Wie Sie den Kopf tragen, Ihr Gang, Ihr Wandeln! Es steht ein großer Geist auf und alle Menschen lauschen auf ihn und sie sagen: Der Weltgeist spricht aus ihm. Sie sehen eine Rose an, die Rose ist schön, ein eigentümliches Gefühl erfaßt sie: Der Weltgeist ist in der Rose, er duftet aus ihr, er glänzt aus ihr. Ich sehe Sie an. Adele – der Weltgeist strahlt aus Ihnen! Sie sind seine Priesterin, geschaffen umherzugehen und die Menschen mit Ehrfurcht zu erfüllen vor seinem Werke. Ihre Bahn sollte wie die Bahn eines Gestirnes sein, erhaben und gewaltig und sichtbar allen Blicken. Das ist Ihre Mission, ich will Ihnen sagen, was Ihre Mission ist! Das ist sie! So fasse ich es auf, so scheint es mir. Jeder Mensch muß doch eine bestimmte Mission haben und das ist die Ihrige!«

Adele hatte die Hände halb sinken lassen und hörte ihm zu, den Blick in seine Augen gerichtet.

»Sie sind ein vollendetes Werk des Schöpfers und haben Ihre Mission zu erfüllen,« setzte Grau hinzu, »und deshalb hat er Ihnen jenes schreckliche Grauen vor der Unwürdigkeit in die Brust gelegt.«

»Nein, nein –« stammelte Adele und entfloh.

»Adele!« sagte Grau und sie blieb stehen. Ihre Lippen bebten und sie sah ihn nicht an. Sie hatte abwehrend die Hände an die Brust gezogen und Grau ergriff ihre Hände.

Er sah sie an und lächelte wehmütig und scheu. »Sie sollen nicht vor mir fliehen,« flüsterte er, »denn ich habe ja kein Arg im Herzen gegen Sie. Hören Sie: Einmal lag ich als Knabe in einer Wiese und alles war so wunderbar schön, so ganz anders schön, und ich hörte zum erstenmal eine Stimme in mir sprechen. Dieser Augenblick bestimmte mein Leben. Als ich Abschied nahm aus dem Blindeninstitut, da kamen alle meine Kinder und küßten mich auf die Wange. Alle waren blind und alle spitzten die Lippen und drückten sie heiß an meine Wange. Was ich damals fühlte! Seitdem änderte sich abermals mein Leben. Dies sind meine größten und schönsten Erlebnisse. Dann sah ich Sie – ich war ja so scheu Ihnen gegenüber, weil Sie so vornehm und schön gekleidet sind und weil Sie so schön sind. Aber daß ich Ihr Freund geworden bin, das ist das schönste und größte Erlebnis meines Lebens, Adele. Aus Ihnen strömte mir Kraft und mein Leben wird sich ändern, ich weiß es, vielleicht werde ich jetzt gut und gerecht werden. Ich danke Ihnen, Adele! Sie sollen mir vergeben, alles vergeben. Was ich jetzt sagte, was ich über Ihr Verhältnis zu dem Baron sagte, alles, alles, ich habe ja nicht das Recht dazu. Als Sie mir sagten, daß Sie reisen wollten, von diesem Augenblick an hatte ich nicht mehr das Recht zu sprechen. Sie wissen wohl warum, Sie wissen es recht gut.«

Adele zog ihre Hände zurück und blickte ihn erschrocken an, aber in ihren Augen begann es zu leuchten.

»Es ist nicht nötig, daß Sie mir antworten, ich werde Sie nichts fragen. Sie sollen nichts sprechen, kein Wort, ach, das will ich ja alles nicht. Reisen Sie! Reisen Sie ruhig. Ich möchte nicht auf Ihre Entschlüsse einwirken. Sie gehen, gut, ich bleibe. Sie sollen mir nicht antworten, ich frage nichts, aber ich will Ihnen alles sagen. Ich habe Sie geliebt, als ich Ihr Haar gesehen hatte, Ihren Gang. Das war als ich ankam hier, auf dem Bahnhof. Aber ich habe es nicht gewußt. Der Schnee lag auf dem Dache Ihres Hauses und er kam mir wie etwas ganz Besonderes vor. Im Frühling stand in Ihrem Garten ein blühender Apfelbaum und ihn liebte ich am meisten von all den blühenden Bäumen. Nie in meinem Leben werde ich ihn mehr vergessen, seine Gestalt, seinen Glanz in der Sonne, nie mehr, obgleich ich so viele blühende Apfelbäume gesehen habe. Damals wußte ich das schon! Wissen Sie, wie das ist, Sie sitzen ruhig und plötzlich steigt Ihnen das Blut zu Kopf, Ihr Kopf wird heiß, glühend heiß, und Sie wissen eigentlich nicht warum – ein Gedanke, eine Ahnung, die in Ihnen aufsteigt! So kam es über mich und dann wußte ich es. Ich habe nicht gegen das Gefühl angekämpft, nein, ich habe es nicht getan, denn tat es Ihnen weh, tat es Ihnen Unehre? Ich habe Ihren Namen nie ausgesprochen, aber er war in mir, er lebte in mir verborgen, wie ein Vogel im Walde lebt. Wenn Sie kamen, wenn Sie gingen, wie mir da war! Nie werde ich es sagen können. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang – und ich sagte guten Tag und Adieu, kleine Worte.«

Je länger Grau sprach, desto bleicher wurde er, desto verzückter wurde sein rasches Lächeln, desto glänzender und begeisterter sein Blick. Adele wich gleichsam mehr und mehr zurück, obgleich sie sich nicht von der Stelle bewegte, der Ausdruck ihrer Augen wechselte rasch, Freude, Schreck, Liebe, Scheu.

Aber Grau hielt ihre beiden Hände und sprach und sprach.

»Ich werde die Stelle in meinem Zimmer nicht mehr vergessen, wo Sie standen, immer werde ich Sie sehen und ob ich auch hundertmal im Tage hin- und herginge. Ich sage es Ihnen, ich muß, Sie brauchen mir nicht zu antworten. Sie haben mich ja so reich beschenkt –«

Plötzlich stockte er, er wurde totenbleich, er zitterte, er schloß die Augen und schwankte.

»Was ist Ihnen?« fragte Adele.

Er lächelte und schüttelte den Kopf und öffnete wieder die Augen. Er atmete tief auf.

»Verzeihung,« sagte er, »es war nur ein Augenblick – Antworten Sie mir nicht, ich frage nichts, ich will nichts – ich danke Ihnen, daß Sie zuhörten. Vergeben Sie mir. Reisen Sie! Reisen Sie und werden Sie glücklich.«

Adele faßte Graus Hände fester, sie schüttelte leicht den Kopf, schüttelte ihn immerzu, ein feines, frohes Lächeln erschien auf ihren Wangen.

»Nein, nein!« flüsterte sie. »Ich werde nicht reisen, nein, nein.«


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