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Viertes Kapitel

Eisenhut eilte dem Ausgang zu und war plötzlich spurlos verschwunden. Gleichzeitig wurde Grau von Dr. Nürnberger aufgehalten.

Dr. Nürnberger war ein junger Mann mit schwarzem Scheitel, niedriger Stirn, goldenem Kneifer; er war im Frack. Seine Manieren waren gewandt, seine Höflichkeit stets von leichtem Spott begleitet, seine geheuchelte Unterwürfigkeit abstoßend.

Er nahm den Kneifer ab und verbeugte sich vor Grau.

»Welches Vergnügen, Sie zu sehen!« rief er mit etwas näselnder Stimme aus.

Grau erkundigte sich nach dem Kinde im Waisenhaus. Es gedieh prächtig. »Wie haben Sie Susanna bei Ihrem letzten Besuche angetroffen, Herr Doktor?« fragte er dann.

Der Arzt verfolgte ein schönes Mädchen mit den Blicken und erwiderte: »Ja, was soll ich sagen? Ich habe leider keine Besserung beobachten können. Ich möchte fast sagen, im Gegenteil, der Zustand der Patientin hat sich verschlimmert. Der Körper leistet leider gar keinen Widerstand.«

Ob man nicht jetzt daran denken könne, die Kranke nach dem Süden zu bringen?

»Nein!« Der Arzt schüttelte den Kopf und sandte dem schönen Mädchen, das zurückkehrte, ein Lächeln zu. »Man hätte es vor einem, zwei Jahren tun sollen – jetzt ist nicht daran zu denken. Sie würde die Reise nicht vertragen. Ich spreche offen, ich könnte die Verantwortung, die Dame jetzt reisen zu lassen, nicht übernehmen. Später vielleicht, sobald es Frühling sein wird.« Doktor Nürnberger reichte Grau die Hand. Er lächelte und legte die niedrige fliehende Stirne in tiefe Falten. Er möchte ihm nicht leichtfertigerweise Hoffnungen erwecken – immerhin, im Frühjahr, ja, da könne man ja Entscheidungen treffen. »Guten Abend. Herzlich gefreut.« Im Begriffe sich zu entfernen, wandte sich der Arzt, gleichsam überrascht von einem Einfall, zu Grau zurück und sagte in verändertem Tone: »Vielleicht darf ich Herrn Grau einladen, mit mir in eine Herrengesellschaft im ersten Stock zu kommen? Es geht sehr animiert dort zu – das heißt, vielleicht ziehen der Herr vor –«

»Sehr liebenswürdig!« sagte Grau. Er sagte sofort zu und zwar mit einem Eifer, der den Arzt in Verwunderung versetzte. »Gewiß werde ich mich freuen, ich danke herzlichst, Herr Doktor!«

Sie verließen den Saal und stiegen eine Treppe empor. Grau werde hier die Intelligenz der Stadt kennen lernen, das heißt, präzis ausgedrückt, alle Elemente, die auf eine relative Intelligenz Anspruch erheben könnten; angenehme und gesellige Leute. Nur sei er außerstande, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen, im Falle der Ton nicht gerade jenem eines Salons entspräche. »Aber, bitte, ich liebe Ungezwungenheit,« sagte Grau. – »Sie werden gewiß auf Ihre Kosten kommen, wenn Sie Ungezwungenheit lieben.« – Sie gingen hin und her in breiten Gängen, die vom Tanzen im Saale drunten zitterten. Durch ein kleines Fenster konnte Grau hinab in die chinesische Straße blicken, es war ein hübsches Bild: Die wimmelnde Menge, die Lampione, der Rauch. Er sah einen Augenblick lang Adele, die gerade ihr Haar zurechtrückte. Sie wandte merkwürdigerweise im selben Moment den Blick zu dem kleinen Fenster, sie konnte ihn natürlich nicht sehen.

Sie weiß nicht alles, dachte Grau und ein leiser Schmerz griff an sein Herz. Er folgte dem Arzte, treppauf, treppab; dieses alte Haus war ein Labyrinth.

Endlich hörten sie den wüsten Lärm einer Herrengesellschaft und Dr. Nürnberger verbeugte sich und öffnete eine kleine Türe. Augenblicklich drang ihnen heiße Luft, Zigarrenrauch, der Geruch von Punsch, Lachen, Rufen entgegen und ein halbes Dutzend verschwimmender Gesichter wandte sich ihnen zu.

Grau machte die Augen scharf. Er entdeckte zuerst Eisenhuts Gesicht, daneben das bleiche schmale Antlitz des jungen Herrn von Hennenbach, auf dessen Knien die puppenschöne Wirtin saß.

Grau war erstaunt Eisenhut heiter und guter Dinge zu sehen.

Da saß er, eine Zigarre in der einen Hand, in der andern ein Glas, lächelte und plauderte.

»– die Stühle sind aus Leder, aus gepreßtem Leder. Ein Löwe in Gold ist auf die Lehne gepreßt.«

»Ja, aber der Minister, Eisenhut,« unterbrach ihn jemand, »du wolltest doch von ihm reden?«

»Das Zimmer ist überhaupt ein Saal!« fuhr Eisenhut fort und blinzelte. »Der Minister rauchte eine Zigarette.«

»Aber was sagte er denn?«

»Er sagte, ‚Herr Eisenhut, Sie haben also die Steine für die Brücke geliefert, schön. Ich werde an Sie denken.‘ Er klopfte mir auf die Schulter.«

»Also sollst du wohl einen Orden bekommen?«

Eisenhut lächelte. »Was ich bekomme, das weiß ich nicht. Aber er sagte: Ich werde an dich denken, Eisenhut.«

Haha! »Er duzte dich?« Gelächter.

»Vielleicht hat er auch Sie gesagt, was weiß ich – seht an!« Er hatte Grau bemerkt.

Die Herren waren in bunten Kostümen, einige im Frack und einer, Postadjunkt Kaiser, saß in weißen Hemdärmeln da. Sie spielten Karten. Sie erhoben sich mit vielem Tumult und warfen einander Blicke zu. Man war nicht sonderlich erfreut über den Gast, das konnte jeder sehen. Aber die Herren verbeugten sich höflich.

Grau sah sie mit freundlichen, leuchtenden Augen an. »Ich bedaure unendlich im Falle ich stören sollte,« jagte er leise und verlegen, »Herr Dr. Nürnberger hatte die Liebenswürdigkeit mich einzuladen.«

Plötzlich schlug ein dicker Chinese mit einem großen gelben Schirm auf dem Rücken ein lautes Gelächter auf und einige fielen ein.

»Willkommen, Pfirsichblüte, im Reiche der Mitte!« schrie der dicke Chinese und machte eine tiefe Verbeugung. Er drückte Grau die Hand und setzte hinzu: »Im bürgerlichen Leben heiße ich Richter, Professor Richter, Doktor der Naturwissenschaften.«

Der Arzt schob ihn beiseite. »Erlauben Sie doch, Professor,« sagte er, »und geben Sie den Herren Gelegenheit ihrer gesellschaftlichen Pflicht zu genügen. Sie gestatten, die Herren, Herr Grau –«

Er machte Grau mit den Herren bekannt. Da waren Amtsrichter Leutlein, ein gutmütig aussehender Herr mit blaurasiertem Gesichte und spärlichem flaumigen Haar auf dem runden Schädel, Rechtspraktikant Schmidt mit scharfen stechenden Augen, vielen Schmissen, hohem Stehkragen, peinlich gestriegelt und gebügelt, Redakteur Heinrich, vom »Gauboten«, ein kleiner Mann mit struppigen schwarzen Haaren, der die Angewohnheit hatte, immer die Zungenspitze herauszustrecken und heiter auf seinen Bauch herabzulächeln, Assistent Pechmann, ein langer Mensch mit hellblauen träumerischen Augen, der junge Freiherr von Hennenbach, ein junger bartloser Lehrer, der so betrunken war, daß er leichenblaß aussah und die Augen weit aufreißen mußte um zu sehen.

Die Herren hatten alle ein wenig über den Durst getrunken. Sie lachten sonderbar, sie verbeugten sich zu tief oder schief, dem Rechtspraktikanten fiel der Kneifer von der Nase, Redakteur Heinrich setzte sich beinahe neben den Stuhl, als er sich niederließ. Ihre Augen waren scharf oder ausdruckslos, die Vorhemden zerknittert, fast jeder hatte irgend etwas Lächerliches an sich, einen Schmutzflecken, einen emporstehenden Haarbüschel, die Krawatte war in Unordnung oder das Kostüm so zugeknöpft, daß oben ein Knopf übrig blieb. Sie rauchten alle und es war solch ein Rauch im Zimmer, daß man kaum die Wände sah. Sie saßen um einen ovalen Tisch herum, über dem eine Hängelampe brannte. Auf dem Tisch herrschte ein wüstes Durcheinander und eine Manschette rollte darauf herum.

»– Herr Redakteur Heinrich, die Herren kennen sich, Pardon – auch Herr Eisenhut wird Ihnen schon persönlich bekannt sein –«

Eisenhut beachtete Grau nicht; er rief: »Spielen, weiter spielen, ich habe zwei Mark von der Bank gut! Keine unnötigen Pausen, meine Herren!« Er trommelte auf den Tisch und lachte.

»Er ist in etwas ungenießbarer Stimmung heute, unser Herr Eisenhut,« entschuldigte ihn der Arzt. »Herr von Hennenbach!«

Die Blicke der beiden tauchten ineinander. Grau lächelte nicht. Er verbeugte sich zurückhaltend, ja kühl, und Herr von Hennenbach blickte ihn verblüfft mit seinen grauen Augen an und zuckte mit den Mundwinkeln. Die schöne Wirtin raffte eilig einige Gläser auf und machte sich aus dem Zimmer.

»Spielen, weiter spielen! Keine unnötigen Pausen!« wiederholte Eisenhut und goß Punsch in sein Glas. Seine Hand zitterte und er verschüttete das halbe Glas, als er es an den Mund führte. »Tante! Du besorgst jetzt die Sektbowle, auf meine Rechnung! Alles auf meine Rechnung!«

»Ruhe!« rief ihm der dicke Chinese zu. »Einen Augenblick noch, ich nehme das Spiel sofort wieder auf – unser verehrter Gast – geben Sie ein Glas herüber, Doktor! – ich darf doch einschenken? – oder sollten Sie etwa Abstinenzler sein?«

Grau lächelte. »Nein.« Er nahm Eisenhut gegenüber Platz.

Der dicke Chinese ließ sich an seiner Seite schwer in den Sessel fallen und mischte die Karten; er hielt den Schirm mit dem runden Schädel, rauchte eine Zigarre in einer langen Spitze, die er beim Sprechen von einem Mundwinkel in den andern schob. Sein Gesicht glänzte vor Vergnügen und Behagen. Er hatte kurzgeschorenes rotes Haar und seine feisten Backen waren mit goldenschimmernden Bartstoppeln bedeckt. »Fertig!« rief er, und die Karten schlüpften blitzschnell aus seiner Hand. »Die Bank ist bereit. Herr Adjunkt Kaiser! Was setzen Sie? Bei allen Teufeln, mehr Aufmerksamkeit, meine Herren! Einsatz auf den Tisch! Endlich! Herr Großkapitalist Eisenhut? Sie spielen hoch, das läßt sich sehen, nur keine Knickerei, nur das nicht. Herr von Hennenbach – Herr – von – Sie wünschen noch eine Karte? Gut. Die Bank hat acht, acht! Hurra! Alle Gewehre aufs Rathaus – hahaha!«

Der feiste Chinese stieß ein rasselndes fettes Lachen aus und strich den Gewinst ein. Alle, außer dem Arzte, hatten verloren und schrien und fluchten.

Eisenhut lachte und warf dem Chinesen ein Zehnmarkstück zu. »Es ist alles einerlei!« rief er und trommelte mit den Knöcheln auf den Tisch und blinzelte.

Der Chinese mischte, während das fette Lachen noch leise in seinem Halse rasselte und seinen ganzen Körper erschütterte, so daß der Schirm auf seinem Kopfe tanzte. »Sehen Sie, welch ein Geschäft, verehrter Herr!« wandte er sich an Grau. »Dreiundzwanzig Mark bei einem einzigen Gang. Hurra! Darf ich Ihnen vielleicht eine Karte geben? Es ist ein sehr einfaches und höchst anregendes Spiel, absolut, ich betone, absolut unschuldig. Bakkarat, ist es Ihnen nicht bekannt? Könige und Damen gleich Null – übrigens durch die Praxis lernen Sie am schnellsten. Wollen Sie ein Spielchen wagen? Höchster Einsatz zwanzig Mark, niederster fünfzig Pfennig – staatlich konzessioniertes Spiel – Gewinn und Verlust gleichen sich stets aus. Nun?«

Grau lehnte ab. »Ich danke, ich habe kein Geld!« sagte er. »Übrigens macht es mir großes Vergnügen, zuzusehen, lassen sich die Herren, bitte, gar nicht stören.«

Er könne auch auf Borg spielen. Nicht?

»Spione vor die Tür!« sagte Eisenhut leise und räusperte sich! »Nicht wahr? Spione vor die Tür!« wiederholte er und klopfte dem leichenblassen Lehrer auf den Arm. Der riß die Augen auf und sah ihn verständnislos an.

Das Spiel machte einige Runden. Der Chinese schrie und brüllte und trieb zur Eile. Am eifrigsten spielte Eisenhut. Er saß da, lächelnd, blinzelnd, er schrie, fluchte und trank mehr als alle andern. Er war erstaunt, das Glas immer leer zu finden, goß immerzu ein, schrie nach der Sektbowle! Ja, Himmel und Hölle: Die Sektbowle! Lustig sein, fröhlich sein! Hier und da wandte er den Blick auf Grau, der ruhig und heiter dasaß und mit seinen hellen Augen das Spiel verfolgte. Ihre Blicke begegneten sich dann und wann, und Eisenhut grub seinen Blick stets messerscharf in Graus Augen, verzog das Gesicht und wandte sich mit einem leisen inneren Lachen ab. Es schien, als ob ihn zuweilen ein Schwindelgefühl zu übermannen drohe, er heftete die Augen auf die Karten und zählte die Points unsicher und falsch.

»Sie werden doch wohl nicht betrügen, Eisenhut!« schrie der Chinese. »Das ist ja eine Sieben! Oder sind Sie betrunken?«

»Noch nicht, noch nicht!« kicherte Eisenhut. Da fiel ihm die Bank zu und er begann fieberhaft zu spielen. Nun schien nichts mehr für ihn vorhanden zu sein als dieser Tisch, der von verschüttetem Punsche tropfte und mit Asche und Zigarrenresten bedeckt war. Er beugte das Gesicht bis auf die Tischdecke herab, gab die Karten, mischte und ließ seine kleinen glitzernden Augen im Kreise wandern. Er lachte, wenn er gewann, und er lachte, wenn er verlor. Ja, er schien es darauf anzulegen zu verlieren. Er sah nichts mehr als die Hände, die nach den Karten griffen, Geld hin und her schoben, alle diese verknitterten, beschmutzten Manschetten, die Haare auf den Händen des Amtsrichters und den silbernen Armreif, den Herr von Hennenbach trug.

Nur zuweilen atmete er tief auf, schüttelte den Kopf, starrte vor sich hin, um sofort wieder das fieberhafte Wesen anzunehmen.

Herr von Hennenbach verlor. Grau sah, wie die Röte aus seinen Wangen wich und verstärkt wiederkehrte, als ihm plötzlich ein hoher Gewinn zufiel, um wieder langsam zu verschwinden, da zwei, drei erfolglose Einsätze den Gewinn zerstreuten. Er legte sich in den Stuhl zurück und suchte hastig in allen Westentaschen. Dann beugte er sich zu Eisenhut und flüsterte ihm ins Ohr. Aber Eisenhut meckerte, sah ihn mit einem schnellen haßerfüllten Blicke an und schrie: »Ich gebe nichts mehr!« Darauf erhob sich Herr von Hennenbach und sagte: »Ich habe dich leise gefragt, du hast mir leise zu antworten!«

»Ich tue, was ich will!« erwiderte blinzelnd Eisenhut und mischte rasend die Karten.

Herr von Hennenbach schnalzte mit der Zunge. »Ich bin bankerott!« sagte er und verließ das Zimmer.

»Auf das Wohl Bismarcks, des Deutschen Reiches großen Baumeister!« lallte Redakteur Heinrich und lud mit einem Schmunzeln das Glas auf dem Tische ein, ihm in die Hand zu laufen. Er gab sich einen Ruck und ergriff das Glas. »Auf das Wohl des Alten aus dem deutschen Eichenwalde, Ritter ohne Furcht und Tadel, des Deutschen Reiches eiserner Kanzler, Barbarossas Erwecker – alles hoch, hoch!«

Der Adjunkt in Hemdärmeln lachte. »Schreibe den Festbericht für dein Käsblatt und halte das Maul!« sagte er.

»Hoch das Deutsche Reich, das Vaterland, hoch der deutsche Dichterwald und die Armee, die den Franzmann schlug! Alles hoch!« fuhr der Redakteur schmunzelnd fort und plötzlich stand er auf und stand mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen, das Glas in der Hand, da. »Hochverehrte Festversammlung, meine Herren und Damen, Festgäste –«

»Keine Reden! Um Gottes willen!«

»– der einzige Mann, sage ich, der die Lage überblickt hat, fahre ich fort, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind, ein einig Volk, die erste Nation der Erde, bei deren Namen Klange die Erde erzittert – meine Herren! – Wir Deutschen fürchten Gott und sonst niemand in der Welt –« er sank auf den Stuhl zurück.

»Was setzen Sie?« schrie Eisenhut und schlug auf den Tisch, daß das Geld in die Höhe sprang.

»Meine Damen und Herren – fünfzig Pfennig – hoch die Fahne, sage ich, hoch! zum Kampfe gegen die rote und schwarze Gefahr, die des Reiches Wappenschild –«

»Schließen Sie endlich gefälligst die Klappe!« sagte der dicke Chinese und lachte rasselnd. »Ihr Geschwätz versteht ja kein Teufel und gehen Sie in die Hölle mit Ihrer Politik, Verehrter – noch eine Karte Eisenhut, neun! – Doktor, vergessen Sie nicht unserm Gast einzuschenken –«

Der Redakteur fuhr flüsternd fort: »Laut statistischer Ziffern sind wir die stärkste Heeresmacht in Europa – ich fordere die Herren auf –«

»Sie langweilen unsern Gast!«

»Er ist unser!« schrie der Redakteur und erhob das Glas gegen Grau. »Er ist unser, eine Stütze, ein Kämpe! Ja, wir müssen Brüderschaft trinken, unbedingt, eine Seele und ein Geist, der in uns lodert – wir sind im herrlichsten Fahrwasser mit unserer Politik. Die letzten Ergebnisse – was meinen Sie? Nicht, daß schon alles getan wäre – aber das Fahrwasser, das Fahrwasser, wie?«

»Ich bin leider nicht imstande, die gegenwärtige Lage zu überblicken,« sagte Grau.

»Oh! Sofort –«

»Gehen Sie in die Hölle! sage ich, mit Ihrer Politik!« schrie Professor Richter und schlug auf den Tisch. »Politisch Lied, ein garstig Lied! Es ist uns ja alles einerlei, der ganze Mumpitz ist uns schnuppe – schließen Sie ab! Lassen Sie sich, Herr Grau, um Gottes willen in kein Gespräch mit ihm ein, er tötet Sie, er tötet Sie buchstäblich.«

Aber der Redakteur mit den wilden Dichterhaaren gab sich nicht zufrieden. »Es ist die Begeisterung, die aus mir spricht!« rief er aus. »Echte deutsche Mannesbegeisterung. Man muß die Turn- und Kriegervereine unterstützen. Ein starkes Volk, ein Volk von Helden – nieder mit den Sozialdemokraten, mit diesen schmutzigen Kerlen!«

»Warum nennen Sie sie schmutzig?« fragte Grau leise lächelnd.

»Warum?« Ob er schon einen von diesen Dreckhammeln mit sauberen Händen und einem reinen Kragen gesehen habe? »Sie sind dreckig und unzufrieden und faul und trinken Schnaps und sie wollen, daß wir Jauche pumpen und die Straßen kehren! Ja, warum lachen Sie da, Sie lachen doch, Herr Grau, oder täusche ich mich?«

»Ja, ich mußte lachen, entschuldigen Sie,« sagte Grau.

»Sie stimmen mir also nicht bei?«

Grau lächelte. »Sie sprechen ja nicht im Ernste.«

»Im Ernste? Ich? Redakteur Heinrich?«

»Dann sind Sie nicht gerecht!« sagte Grau.

»Gerecht? Ich? Der Herr behaupten – eiei!« Der Redakteur lachte belustigt.

»Nun ja,« begann Grau, »diese Sozialdemokraten sind doch zumeist Arbeiter. Sie arbeiten für uns, sie bringen Geld ins Land –«

Der Redakteur steckte die Zungenspitze heraus. »Aber dafür bezahlt man ja diese Kerle!« schrie er, Grau ins Wort fallend.

»Dann gebe ich mich zufrieden,« sagte Grau. »Wenn man sie nur bezahlt und auch sonst menschlich behandelt –«

Redakteur Heinrich rückte näher. »Also sind wir einig, nicht wahr, wir sind einig, haben uns wiederum gefunden! Hoch! Prosit! Sie sagen, Sie sind nicht imstande die Situation zu überblicken? Ich werde mir erlauben – Nummer eins, Nummer zwei und drei – nieder mit der Sozialdemokratie, die mit schmutzigen Händen die heiligsten Güter der Nation betastet – Nummer eins – man bezahlt sie und fertig damit, fort mit dem Gesindel – Nummer eins, sage ich, Nummer zwei – nieder mit den Juden, die das germanische Blut saugen – Sie lächeln, ja bitte, darf ich bitten – Sie lächeln – nun, ich denke Sie sind ja doch kein Jude, nicht wahr – oder? – hier, Herr Doktor Nürnberger, er ist Jude – aber er ist Antisemit – wie jeder gebildete anständige Jude, den der deutsche Geist bestrahlt hat – kurz und gut – ich spreche wie ein echter deutscher Mann spricht – Nummer drei, vier und fünf – nieder mit den Ultramontanen, die deutsches Geld nach Rom schleppen und die Tugend unserer Frauen und Töchter gefährden – Sie lächeln? Ist es etwa nicht wahr? Ja, mein Gott, ich wage es ja nicht, die Kirche, welche es auch sei – denn ich bin ja tolerant – mit meinem kleinen Finger anzutasten – Kirche und Thron – prosit! – hoch! – aber der Ultramon – Ultramon –«

Er quälte sich ab, das Wort auszusprechen, aber zur großen Heiterkeit aller brachte er es nicht fertig.

»Ultramon –«

Der Chinese lachte laut heraus. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt, lassen Sie sich in kein Gespräch mit ihm ein. Er ist ein prächtiger Mensch, unser Redakteur Heinrich, aber sobald er ins Reden kommt wird er ungenießbar. Nun ist ihm Gott sei Dank ein Wort im Halse stecken geblieben. Er hat sich auf Sie geworfen, weil er mit uns kein Geschäft mit seinen Phrasen machen kann. Wir sind gar nicht für Politik, wir kümmern uns um nichts. Was liegt uns daran, was sie mit dem ganzen heiligen Bierstaat machen? Frage ich Sie? Hol mich der Teufel, nichts! Wir bezahlen unsere Steuern, weil wir müssen, fertig damit. Mögen sie da droben wirtschaften, wie sie wollen, das geht uns ja nichts an. Wie beliebt? Sagten Sie etwas? Nun, haben Sie keine Angst, welcher Partei Sie angehören, das weiß ich nicht, ich bekümmere mich auch nicht darum. Frei sind wir, frei, keine Parteifanatiker, wir tun unsere Arbeit, man bezahlt uns, fertig. Wir leben, wir sind Menschen. Partei ist Unsinn – wir alle hier sind Individualitäten – Aristokraten, basta! Ich setzte drei Mark, Eisenhut. Habe fünf!«

»Wie sagten Sie?« fragte Grau, als ob er nicht gehört hätte.

»Ultramontanismus! Ultramontanismus!« schrie laut triumphierend der Redakteur. Er hatte das Wort vor sich auf den Tisch geschrieben.

Der Chinese beugte sich zu Grau. »Individualitäten, Aristokraten, sagte ich, sind wir. Gehören zu keiner Partei. Wir alle, wie Sie uns hier sehen, und auch Sie, Herr Grau – wenn ich Sie recht kenne, nach all dem, was ich von Ihnen gehört habe – auch Sie sind Aristokrat und Individualität! Auf Ihre Gesundheit!«

Grau lächelte und schüttelte den Kopf. »Auf Ihr Wohlsein!« sagte er. »Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung, aber Sie überschätzen mich ganz ungeheuer. Ich bin kein Aristokrat, bei Gott, nein, noch lange nicht! Ich würde es auch nicht wagen, mich eine Individualität zu nennen. Ich bin noch weit entfernt davon, zu jung, zu wenig reif; ich danke Ihnen vielmals, aber eine Individualität – sehr schmeichelhaft, allein –«

»Ha!« schrie der Redakteur. »Prosit, Herr Grau! Ultramontanismus, Ultramontanismus, Prosit!«

»Aber?« sagte der fette glänzende Chinese gedehnt und sah Grau mit den kleinen Augen an, die schimmernd in den fetten Backen schwammen. »Ich dachte –«

»Keine Gespräche, Professor,« unterbrach ihn Dr. Nürnberger. »Keine Gespräche. Es nimmt kein Ende und kommt nichts dabei heraus zum Schlusse. Spielen Sie!«

»Ich spiele ja! Sehen Sie denn nicht, daß ich ganz verzweifelt spiele. Ah! wo bleibt denn deine Bowle, Eisenhut, machst immer ein großes Geschrei! – Sie sind ja zu bescheiden, verehrtester Herr,« wandte er sich an Grau. »Nun, Sie können sich nennen wie Sie wollen, aber wir hier sind alle Individualitäten und Aristokraten.«

Er beschrieb mit der Hand einen Bogen, der die ganze Gesellschaft einschloß. Dann erhob er das Glas und fügte hinzu: »Und nun lassen Sie uns ein Glas auf unsere Zeit leeren, die Zeit der Aufklärung!«

Redakteur Heinrich schrieb eifrig an seinem Festbericht für den »Gauboten«, er kritzelte mit dem Bleistift einige Briefbogen voll, spielte dabei und horchte noch dazu immer mit einem Ohre auf das Gespräch an seiner Seite. Sobald jemand prosit sagte, schrie er ebenfalls prosit, und als er etwas von Aufklärung hörte, sprang er auf und schwenkte das Glas. »Aufklärung in Stadt und Land, prosit!« schrie er.

»Nun?« sagte der dicke Chinese zu Grau. »Sie trinken nicht, Sie scheinen nicht einverstanden zu sein mit mir?«

»Gewiß, ich trinke,« sagte Grau. »Mein Glas ist leer – danke, Herr Doktor!«

Ob er nicht selbst sagen müsse, daß es eine Freude sei, in dieser, gerade in dieser Zeit zu leben: Eine Zeit der Entdeckungen, der horrendesten Entdeckungen, Erfindungen, eine Zeit der Ideen, ja zum Teufel, – einer gesegneten Zeit der Aufklärung, Abklärung und Erklärung, einer Zeit der Befreiung des Menschengeistes, einer neuen Zeit.

»Gewiß eine hochinteressante Epoche!« warf Dr. Nürnberger ein. »Das Mittelalter liegt weit hinter uns!«

Eine Zeit der Wissenschaft, der Sieg der Naturwissenschaften über den Aberglauben, Chemie, Physik hoch! Wie beliebt?

Grau lächelte. »Gewiß, eine hochinteressante Epoche!« sagte er.

Der Chinese sah ihn an. »Aber?«

»Wieso denn: Aber?«

»Sie akzeptieren also unsere Zeit ohne jeglichen Widerspruch, Herr Grau?« sagte Dr. Nürnberger mit feinem ironischem Lächeln.

Die Herren verbargen ihm nicht, daß er sich in grellem Kontrast zu seinen öffentlichen Äußerungen befände.

Grau lächelte fein. »Ich akzeptiere unsere Zeit als eine hochinteressante Epoche, meine Herren,« erwiderte er, »ohne ihr jedoch in allem zuzustimmen –«

»Ah – haha! Nun lassen Sie, bitte, hören!« fiel ihm der Chinese ins Wort.

Grau sah ihn an, dann fuhr er fort: »Auf jeden Fall ist es mir unmöglich, Ihre kritiklose Begeisterung zu teilen, meine Herren. Ich wiederhole nochmals, die Epoche ist hochinteressant, trotzdem kann ich nicht in Entzücken geraten über unsere Zeit. Vielleicht verstehe ich die Zeit nicht recht, aber ich darf wohl meine Meinung sagen, nicht wahr? Sie sagen, wir hätten das Mittelalter hinter uns, ich glaube das nicht, ich glaube es nicht ganz.«

»Wie? Aber –«

»Lassen Sie Herrn Grau reden, Herr Professor!«

»Nein, ich glaube es nicht ganz. Sondern ich glaube, daß wir in vieler Beziehung tief im Mittelalter stecken. Die Welt ist etwas reinlicher geworden, ja, das ist gut, wir haben Bahnen und Schnelldampfer, auch das ist ganz hübsch, wir haben eine Menge neuer Dinge, aber sind es wesentliche, wertvolle Dinge? Ich sage nein. Entschuldigen Sie, es ist meine bescheidene Ansicht. Sie erlauben doch, nicht wahr? Es kommt mir so vor, wenn ich es sagen darf, ich blicke auf unsere Justiz, auf unsere sozialen Verhältnisse, die Stellung der Frau, auf eine Menge Dinge. Das Beil hängt noch über ganz Europa, ach, ich brauche mich ja nicht auf Einzelheiten einzulassen, es gibt keine Leibeigenen mehr, nein, auf dem Papier existieren sie nicht mehr, aber es gibt Millionen Sklaven des Kapitalismus, wir haben das alte Kastenwesen, privilegierte Stände – und selbst die aufgeklärten und vornehmen Menschen, die meisten wenigstens, die ich kenne – treten die Privilegien des Standes an, in dem sie geboren sind, ohne weiter darüber nachzudenken. Die gleichen, nahezu die gleichen Ideen regieren – mit dem einen Unterschied, daß sie jetzt hohle Formen geworden sind, während sie früher wirkliche Kräfte waren. Kurz und gut, ich könnte Ihnen hunderte von Dingen aufzählen, die um kein Haar anders sind als sie im Mittelalter waren – vielleicht sehen sie etwas anders aus und vielleicht sehen wir sie anders, weil wir dicht vor ihnen stehen. Aber – und nun hören Sie – ich glaube, es ist ja nur meine Ansicht – eines haben wir verloren: Die Überzeugung, die das Mittelalter besaß, die Tiefe, den ganzen Mystizismus, die wilde und schöne Atmosphäre. Ja, Sie lachen, Gott, wie gesund und gut Sie lachen können, das freut mich, Sie sind ein guter Mensch, lachen Sie ruhig, es ist ja nur meine Ansicht. Sie sprechen von unserer Zeit, nicht wahr, vor hundert oder achtzig Jahren sah es viel besser in der Welt aus glaube ich, besonders in Deutschland.«

»Halten Sie ein!« unterbrach ihn der Chinese. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche: Nehmen Sie mir auch mein Lachen nicht übel. Ich lache und wir alle sind ja in guter Stimmung, hurra, hoch! Ja, wir sind alle gut aufgelegt. Eisenhut könnte die Bank nach und nach abgeben, er wird langweilig mit der Zeit! Wir brauchen – ja, was sagen Sie doch – tiefe Überzeugung, Mystizismus – ja, gehen Sie doch in die Hölle damit – Sie verzeihen meine starken Ausdrücke, es ist die Stimmung –«

»Bitte, bitte!« sagte Grau lächelnd. »Ich verstehe sehr wohl –«

»Wir sind ja gerade froh, daß wir all das los haben, Hochwürden! Es macht mir Freude, Ihnen zuzuhören, mit Ihnen zu sprechen, aber was sagten Sie doch alles? Es scheint mir doch, daß Sie den modernen Zeitgeist wenig spüren und ein bißchen altmodisch sind, Herr Grau, hahaha!«

Grau lächelte. Er könne recht haben, vielleicht sei er ein wenig altmodisch. Mindestens sei er sehr langsam, sehr schwerfällig. Aber wenn Herr Professor sich etwas Mühe gäbe.

Professor Richter räusperte sich und nahm einen tiefen Schluck. »Wir sind moderne Menschen, mein Freund,« sagte er. »Modern bis auf die Knochen. Ein moderner Mensch, haben Sie eine Vorstellung von einem modernen Menschen? Ich will es Ihnen sagen. Ein moderner Mensch, das ist ein Mensch dieser Zeit der Aufklärung, ein freidenkender, toleranter Mensch, dem es ganz einerlei ist, was der andere tut, er kann tun und lassen, was er will und soll schauen, daß er zurecht kommt, ein Mensch ohne Aberglaube und utopistische Träume und schwächliche Ideale, ein Mensch mit einem gesunden Egoismus und einer gesunden Sinnlichkeit, ein Mensch, der sich nicht schämt ein Mensch zu sein – bei allen Teufeln in der Hölle – eben ein Mensch mit gesunden Sinnen und kein Phantast, kein Mönch, kein Spießbürger – sondern ein Einzelwesen, ein Individuum – ja, zum Henker – das ist der moderne Mensch. Ich habe mich wohl deutlich genug ausgedrückt, wie?«

»Danke, ja!« Grau sah den Chinesen an. »Lassen Sie mir etwas Zeit, ich muß all das überlegen. Ich denke sehr langsam, das ist es. Als ich jung war, fiel mir einmal eine Leiter auf den Kopf und seitdem muß ich langsam denken.«

»Die Leiter hat Ihnen doch weiter nicht geschadet, wie?«

»Nein, ich glaube nicht.« Grau lächelte.

»Sie kennen Lombroso, nicht? So ein Anstoß von außen her kann zuweilen ein ganz gutes Resultat haben. Übrigens auf Ihr Wohlsein! Ich habe Sie vorhin unterbrochen.«

Grau lächelte und stieß mit dem Chinesen und Dr. Nürnberger an. »Es ist sehr angenehm in dieser Gesellschaft!« sagte er. »Ich danke Ihnen nochmals, Herr Doktor, daß Sie die Freundlichkeit besaßen mich einzuführen. Sie haben mir erklärt was der moderne Mensch ist, Herr Professor. Erlauben Sie mir nun eine Frage, ich verstehe manches nicht. Zum Beispiel: Gesunder Egoismus und gesunde Sinnlichkeit, das sind ebenfalls solche Worte, die ich überall höre, ohne mir viel darunter vorstellen zu können. Ja, bei Gott, ich muß in Wirklichkeit ein altmodischer Mensch sein – haha – Sie haben am Ende doch recht – denn ich wünsche mir den Menschen gerade mit recht viel Träumen und Idealen – sie brauchen ja nicht schwächlich zu sein, da haben Sie recht, wenn sie nur hoch sind! – mit recht vielen Träumen und Idealen sagte ich, auch Phantast kann er sein, weshalb nicht? Welche Rechte hat Ihr moderner Mensch?«

»Er tut, was er will!«

»Was er will?« sagte Grau leise und erstaunt. »Nun, aber er hat doch wohl Pflichten, Verantwortung –«

Der Chinese lachte. »Faule Fische! Er tut, was er will und jeder tut, was er will. Pflichten und Verantwortung, das sind ganz ekelhaft abgestandene Begriffe –«

Hm. Grau dachte nach. Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Sie mögen recht haben, daß ich ein altmodischer Mensch bin, aber ich glaube nicht, daß der moderne Mensch so ist, wie Sie ihn beschreiben. Der moderne Mensch fühlt sich im Gegenteil mehr durchdrungen vom Gefühle der Verantwortung als der Mensch irgend einer andern Epoche. Oft scheint es als ob in ihm erst jenes Gefühl richtig erwacht sei.«

Der Arzt unterbrach ihn.

Man müsse ja nur den Mut und die Ehrlichkeit haben die Wahrheit zu sehen und zu sagen, warf er ein. Ein Blick in die Natur genüge, um jeden zu überzeugen, daß das Prinzip des Egoismus überall regiere. Ebenso im Menschen. Man fange an, das zu erkennen und –

»Erlauben Sie,« sagte Grau, »das hat man schon vor Tausenden von Jahren erkannt. Es springt ja in die Augen und ist das Natürlichste. Aber seit Tausenden von Jahren haben sich nun die Weisen mit diesen Problemen beschäftigt, über Recht und Pflicht, den Einzelnen und die Gesamtheit, über Tugend und Laster – sie haben darüber nachgedacht, haben sich die Köpfe zerbrochen – die Allerweisesten der Menschen – ich bin ja ein Nichts im Verhältnis zu diesen Köpfen – aber mir erscheint nichts lächerlicher und kleinlicher als der Egoismus.«

In diesem Augenblick wurde die Sektbowle von der schönen Wirtin hereingetragen und mit lautem Hallo begrüßt. Der Redakteur ließ seinen Festbericht im Stiche und führte einen indianischen Tanz auf. Eisenhut pfiff auf einem Schlüssel und der Adjunkt segnete die Bowle mit feierlichen Gebärden. Herr von Hennenbach kam mit der schönen Wirtin herein und faßte sie um die Hüfte. Der leichenblasse Lehrer schlief in der Sofaecke, er erwachte bei dem Geschrei, blickte auf die Bowle, machte eine abwehrende Handbewegung und schlief weiter.

Die Bowle brachte neues Leben in die Gesellschaft. Man sang einen Rundgesang und stürzte sich dann mit neuem Eifer auf das Spiel. Eisenhut hielt noch immer die Bank. Er sah bleicher und erregter aus, schrie und lachte mehr als alle. Zuweilen lauschte er gegen die Türe, wenn die Musik hereindrang, dann bellte er, trommelte und sprach sinnloses Zeug.

»Ich werde jetzt mein Kostüm ausziehen!« schrie er.

»Du bist ein Chinese auch ohne Kostüm!« sagte der Adjunkt und der Witz fand großen Beifall.

»Vorsicht!« sagte Eisenhut böse und deutete mit dem Zeigefinger auf den Adjunkten, aber augenblicklich lachte er wieder heiter.

Herr von Hennenbach nahm wieder am Spiele teil. Es schien als ob das Glück sich ihm zuwende. Er strich sich aufgeregt das schwarze, glänzende Haar aus der bleichen hohen Stirne und lachte.

»Es beginnt!« rief er. »Nur los, Eisenhut! Ich brauche Geld! Noch eine Karte, wenn ich bitten darf. Ich setze zehn Mark!«

Aber er verlor, und obgleich Eisenhut unvorsichtig spielte, verlor der Freiherr fortwährend. Er wurde noch aufgeregter und erbleichte mehr und mehr. Er setzte nun stets zwanzig Mark.

»Zum Teufel!« schrie er und lachte nervös.

Dann aber gewann er. Er gewann fünf-, sechsmal nacheinander und gebärdete sich laut vor Freude. »Endlich wendet sich das Blatt! Prosit, prosit allerseits!«

»Die Bank hat acht!« rief Eisenhut.

»Neun!« schrie Herr von Hennenbach und schlug auf den Tisch.

Eisenhut sah ihn an und lächelte hämisch. »Sehen lassen!« sagte er.

Es waren nur sechs Points.

Freiherr von Hennenbach stand auf und stieß den Stuhl zurück und erbleichte. »Ich habe doch gezählt und gezählt!« rief er. »Sehe ich nicht recht? Das ist ja eine Figur – aber das ist ja zum Teufelholen – bin ich denn bezecht?«

Eisenhut meckerte. »Du hast dich getäuscht, Kurt – setze dich – getäuscht hast du dich, das kann vorkommen.«

Rechtspraktikant Schmidt aber sagte scharf: »Man muß eben acht geben!«

»Wie beliebt, Herr Grau? Wir haben die Telegraphie, das Telephon, Bogenlampen, Blitzzüge, die Röntgenstrahlen – all das hat unsere Zeit geschaffen. Imponiert Ihnen das nicht ein wenig? Kinematograph, Phonograph, ja, was haben wir doch alles. Die eminente Entwickelung der Naturwissenschaften.«

Herr Grau möge sich auch an die Errungenschaften der modernen Physiologie, Bakteriologie, Chirurgie erinnern, bemerkte der Arzt.

Grau lächelte. »Ich sagte schon, daß das alles ganz groß ist,« sagte er, »all diese Erfindungen, von denen Sie sprechen, wunderbar! Ich lege Ihnen sogar noch einen tieferen Sinn bei – sie sind in gewissem Sinne Offenbarungen – Verzeihung, ich spreche im vollen Ernste, meine Herren – aber –«

»Aber?«

»– trotz ihrer Größe und Wichtigkeit und Tiefe sind sie alle zusammen noch nicht imstande eine Kultur zu bilden. So groß sie sind, sind sie doch kein wesentlicher kultureller Faktor. Ich nehme an, ja, zum Beispiel, ein einziger Psalm von Salomo ist weitaus mehr wert als alle Fernsprechapparate und Dynamomaschinen zusammen –«

»Allen schuldigen Respekt vor Ihrem Salomo, aber –«

»Wir können ja auch sagen: Ein Gedicht von Heine, eine Kantate von Bach, ein Beethovenscher Akkord, ein Gedanke von Plato oder Goethe, wie Sie wollen.«

»Pardon,« unterbrach ihn der Arzt, »glauben Herr Grau vielleicht, daß ein Goethescher Gedanke, um nur eines herauszugreifen, kulturell höher zu werten ist als zum Beispiel die Erfindung des Serums gegen die Tollwut oder die Entdeckung des Cholerabazillus?«

Grau sah ihn erstaunt an. »Aber natürlich!« sagte er lächelnd. »Wir sprechen ja von Kulturwerten, nicht wahr?«

Hm!

Aber mit einem Serum könne man doch Tausende von Menschen heilen und ihr Leben retten?

Grau lächelte. »Haben Sie damit schon etwas zur Kultur beigetragen, Herr Doktor?«

»Hahaha!« lachte der dicke Chinese und zog seine Karten auf.

Hier geschah es, daß Herr von Hennenbach auf Grau blickte. Wiederum ruhten die Blicke der beiden eine Weile merkwürdig fragend und suchend ineinander. Grau blickte den Freiherrn lange an. Und es war eigentümlich, der junge Mann erbleichte unter Graus Blick. Er erbleichte ganz langsam. Er wandte die Augen ab, um Grau sofort wieder anzusehen. Er legte die Karten auf den Tisch, starrte Grau an und drehte mechanisch den silbernen Reif um das Handgelenk. Dann gab er sich einen Ruck, verzog den Mund und griff nach seinem Glase und erhob es gegen Grau.

»Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!« sagte er und lächelte.

Grau rührte sich nicht. Es war ein solcher Lärm, daß der Freiherr annahm Grau habe nicht gehört. Er wiederholte: »Auf Ihre Gesundheit, Herr Grau!«

Sah Grau nicht? Hörte er nicht? Er blickte ruhig und ohne eine Miene zu bewegen auf den jungen Mann.

»Auf Ihre Gesundheit, Herr!«

Grau sah und hörte nicht.

»Das ist doch unerhört!« stammelte der Freiherr und erbleichte.

Niemand hatte dem Vorfall Beachtung geschenkt.

Professor Richter rückte näher an Grau heran, so daß jetzt Grau ebenfalls unter den gelben chinesischen Schirm zu sitzen kam.

»Also unsere Zeit findet keine Gnade vor Ihren Augen? Seht an, seht an!« begann er von neuem.

Grau antwortete nicht zugleich. Er war müde von dem ewigen Geschwätz, übrigens beschäftigten ihn auch andere Gedanken, gerade jetzt.

»Bitte?« sagte er. Er lächelte. »Gerade vor meinen Augen? Ich bin ja nicht befugt, zu urteilen und zu richten. Aber wenn Sie mich fragen, so kann ich wohl antworten, daß ich nicht ganz zufrieden bin. Man arbeitet, man sucht, ja, gut, ich müßte ein Tor sein, wollte ich das leugnen, unsere Zeit bereitet gewiß eine andere vor, die einen höheren Wert besitzt. Wie es gegenwärtig aussieht – nein, ich kann nicht zufrieden sein. Ganz und gar nicht. Vielleicht hat es noch nie eine Kultur gegeben, die so tief stand wie die Kultur unserer Zeit. Sie lächeln? Ja, erlauben Sie mir, so scheint es mir. Andere Zeiten und Völker hatten ja nicht die grandiosen Kulturvorbilder wie wir sie haben. Trotzdem. Eine gewaltige Bewegung, ein Rausch, eine Begeisterung, Ideale? Nun? Wo sind sie? In Europa? Der Träger der Kultur ist meines Erachtens in unserer Zeit nicht Europa. Auch das belustigt Sie? Ich äußere meine Ansicht selbst auf die Gefahr hin, daß ich mich vor den Herren lächerlich mache und immer mehr und mehr altmodisch erscheine. Es ist doch ein Gespräch, nicht wahr? Was weiter? Ja, so scheint es mir. Europa ist sicherlich das reinlichste und zivilisierteste Stück Erde, natürlich. Große Gefühlsströmungen – wir haben das Mittelalter gehabt, mit einem großen Rausch, Sehnsucht nach Erlösung, Befreiung, wie haben doch die Menschen damals gefühlt? Ich weiß, daß Sie den Mönchen gegenüber nicht freundschaftlich gesinnt sind – aber der Gedanke des Mönchtums war doch tief. Oder? Ich weiß, daß man allgemein den Gedanken kurzerhand abtut – aber wenn man nachdenkt? Er ist doch tief. Die Märtyrer – die Fakire und Derwische – zu welchen Taten sind sie fähig gewesen, und die Fakire vollbringen heute noch die unglaublichsten Dinge. Was ist Gefühl, was ist Mysterium, Wunder, Tiefe? Freundschaft, Liebe? Religiöses Empfinden? Sehen Sie sich um? Nun, gewiß, ich erscheine Ihnen vielleicht altmodisch, weil ich mich danach umsehe. Übrigens weiß ich wohl, daß all das noch existiert, aber nicht als Bewegung, als allgemeine Empfindung. Wir haben viel Anerkennungswertes in unseren Tagen, aber wissen Sie, woran es uns vor allem fehlt?«

»Bitte?«

»An seltenen Tugenden, großen Gefühlen und außerordentlichen Eigenschaften.«

»Hahaha. Fahren Sie fort! Auf das Wohl der Fakire und heulenden Derwische!«

Grau erhob das Glas. »Auf ihr Wohl!« sagte er. Und er fuhr fort: »Wir haben in unserer Zeit eine Art von Bequemlichkeit, die mir bedenklich erscheint. Wenn ich richtig beobachte, so ist man im allgemeinen geneigt sich ohne jegliches tiefere Nachdenken den ärmlichsten und trivialsten Lebensanschauungen anzuschließen – zum Beispiel dem Materialismus, Atheismus und so weiter. Und wissen Sie warum? Weil es so einfach, so nüchtern ist, weil man nicht zu denken braucht und weil diese Anschauungen so gar keine Anforderungen stellen. Das erscheint mir so ärmlich und trivial und das ganze Leben ist so geworden, selbst die Literatur, sehen Sie sich die Literatur an, wie trivial ist sie doch zum größten Teil geworden, die Feste, jede Lebens- und Gesellschaftsform beinahe! Trotzdem,« fügte er hinzu, »ist unsere Zeit wertvoll, weil sie mit ungeheurer, wenn auch verborgener Kraft, eine neue, grandiose Kultur vorbereitet!«

Hier aber brach ein lautes Geschrei aus. Der Lehrer nämlich war langsam vom Sofa geglitten und unter den Tisch gefallen. Er schlief und man hörte ihn laut schnarchen.

Auch Adjunkt Kaiser war eingeschlafen. Sein Kopf lag mit dem Kinn auf der Brust und die Oberlippe stand läppisch vor. Aber er hielt seine Karten tapfer in der Hand und öffnete immer ein Auge, sobald die Runde an ihn kam. Das erriet er stets. Die Stimmen der Spieler wurden leidenschaftlicher, rauh und betrunken. Zuweilen trat eine Pause ein, da alle anfingen müde zu werden. Dann hörte man das Wiegen der Musik im Saale, die Geigen, die Klarinetten, die Pauken. Manchmal kam die Musik bis dicht an die Türe, kicherte durch die Spalten, verschwand in der Ferne und wiegte sich heiter.

Dann sah Eisenhut auf und starrte zur Türe.

Da erhob sich Grau plötzlich und sagte: »Meine Herren, ich bitte um eine Minute Gehör. Ich finde Sie alle bei guter Laune und ich möchte die gute Stimmung benutzen, um Sie zu einem wohltätigen Werke zu animieren.« Er zog den silbernen Ring mit dem winzigen blauen Stein aus der Westentasche. »Ich habe hier einen Ring,« fuhr er fort, »den ich zu Geld machen möchte. Er gehört einer armen alten Frau. Vielleicht findet sich hier ein Liebhaber?«

Er lächelte und zeigte den Ring. Seine weißen hübschen Zähne blitzten.

Der dicke Chinese lachte zuerst und alle fielen in sein Lachen ein.

»Nein, Sie sind schon ein wenig sehr altmodisch – hahaha – alles was recht ist –«

»Der Ring ist freilich einfach und schlicht,« sagte Grau, der leicht errötete, und zeigte den Ring im Kreise umher, »er gehörte Fräulein Margarete Sammet, die sich das Leben nahm – Sie erinnern sich gewiß alle – für die Mutter möchte ich ihn zu Geld machen. Natürlich gebe ich ihn nicht billig her, nicht allzu billig. Findet sich kein Liebhaber? Herr Redakteur Heinrich – oder vielleicht Sie, Herr Assistent Pechmann? Sie lachen, meine Herren, aber die Frau ist ja arm und hat Geld nötig. Herr Amtsrichter Leutlein, Herr Eisenhut?«

Eisenhut blickte auf den Ring und blinzelte, dann sah er Grau ins Gesicht. Er wurde totenblaß und hörte auf zu blinzeln. Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke!« sagte er leise.

Grau verbeugte sich und lächelte. »Nicht? Wie schade! Aber vielleicht Sie, Herr von Hennenbach? Ich habe die Angelegenheit in die Hand genommen und möchte sie auch zu Ende bringen, deshalb. Vielleicht Sie, Herr von Hennenbach? Wollen Sie sich den Ring nicht ansehen?« Grau beugte sich über den Tisch und zeigte den Ring. »Sie sind ja ein Liebhaber solcher Dinge, wollten Sie mir nicht einmal meinen Reisesack abkaufen? Sie erinnern sich, es war hier im Elefanten am Tage vor der Beerdigung des Dienstmädchens. – Ich habe Sie vorhin beleidigt, ich war unhöflich gegen Sie. Tragen Sie mir das nicht nach. Sie waren ja an jenem Abend ebenfalls nicht gerade freundlich gegen mich – vergessen wir es, wir sind quitt. Wollen Sie sich den Ring nicht ansehen?«

Grau spielte eine lächerliche Rolle. Alles belustigte sich über ihn.

Herr von Hennenbach begann augenblicklich laut aufzulachen. Er lachte, daß sich sein Gesicht rötete und hustete. »Danke, danke!« rief er aus.

»Oh, aber ich denke, Sie verstehen sich auf die Schätzung eines solchen Ringes –«

Der Freiherr lachte immer noch.

»Für den Ring habe ich leider keine Verwendung,« sagte er und lachte immerfort.

»Bitte sehr!« Grau lächelte sonderbar. »Selbst Sie also nicht!« sagte er und sah dem lachenden jungen Mann in die Augen.

Plötzlich jubelten alle und blickten zur Türe. An der Türe hörte man das Lachen von Mädchen, Adele und die Schwestern Sinding traten ein.

»Hurra! Hoch die Damen!«


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