Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Eisenhut nahm eine demütige Haltung an. Er nickte und schloß die fleckige Tür mit dem kleinen Guckfensterchen auf. Er verneigte sich und sagte mit demütigen Augen und einer linkischen, rührenden Handbewegung: »Treten Sie ein in mein Haus!«

Im Hause war es ganz dunkel und es roch dumpf und feucht wie in einem Keller. Etwas raschelte und sprang über Graus Füße. »Es gibt Ratten hier, deshalb bewohne ich den ersten Stock,« sagte Eisenhut und zündete eine kleine Talgkerze an.

Grau blickte sich gespannt um: In der Ecke stand eine alte Holzfigur, ein Heiliger, dessen Arme abgeschlagen waren.

Grau nickte. Ich bin aber noch nie in diesem Hause gewesen, dachte er und starrte die Figur an. Er war wie betäubt.

Eisenhut öffnete unterdessen ein hohes eisernes Gitter, das das Treppenhaus abschloß. »Eine alte Figur, die ich auf dem Speicher fand. Bitte!«

»Ja!«

Kaum hatte Grau einen Fuß auf die Stufen gesetzt, als es im ganzen Hause schrill zu läuten begann. »Das sind Alarmglocken. Ich wohne ganz allein im Hause.«

Vor Eisenhuts Zimmern im ersten Stock stand ein kleines braunes Hündchen mit einem Backenbart wie ein Oberkellner, und wedelte vergnügt mit dem Schweife und streckte die Zunge heraus.

»Sehen Sie her!« sagte Eisenhut und schüttelte den Kopf. »Solch ein Hund!« Er stampfte mit dem Fuße und rief: »Warum bellst du nicht, wenn ein Fremder kommt!« Das Hündchen rannte entsetzt davon und kroch unter einen Diwan.

Eisenhut stellte die Kerze auf den Tisch und sank erschöpft auf den alten Lederdiwan. Er schloß die Augen und sah aus wie ein Greis. Er zitterte am ganzen Körper.

Das Zimmer war eine Art Halle und hatte eine gewölbte Decke und zwei breite Fenster in tiefen Nischen, der Boden war krumm und knarrte bei jedem Schritte; ein mächtiger hellbrauner Ofen in der Form eines Würfels, der auf vier Kugeln stand, der alte Lederdiwan, ein hoher zerrissener Sessel mit geschnitzter Lehne, ein großer schwarzer Schrank, einige Stühle, der Tisch, das war alles, was im Zimmer stand. Die Wände waren vollständig nackt, nur an dem Pfeiler zwischen den Fenstern hing ein Bild, jedoch bis zur Unkenntlichkeit vom Rauch geschwärzt. Die Fenster waren ohne Gardinen, das Zimmer kahl und unordentlich, man konnte glauben in einem Gefängnis zu sein.

Es war eisig kalt hier.

Plötzlich sah Grau Eisenhuts Augen auf sich gerichtet, Eisenhut verfolgte ihn mit den Blicken. Er lächelte spöttisch. Dann begann er zu sprechen, aber die Stimme versagte ihm, er räusperte sich und begann von neuem. »Weshalb gehen Sie denn nicht?« fragte er heiser. Er zitterte.

»Davon ist nun gar nicht die Rede. Vor allen Dingen will ich Feuer anschüren,« versetzte Grau. »Wo kann ich Holz finden? Sie müssen trachten ins Bett zu kommen, Herr Eisenhut.«

Eisenhut schloß wieder die Augen; er wiegte den Kopf hin und her und murmelte, daß er gewohnt sei, in den Kleidern zu schlafen.

Grau ging hinaus und suchte die Küche. Hier fand er einen großen Haufen von Tannenzapfen, Ästen, Stücken von Latten und Splittern von Bauholz. Das zerbrochene Rad eines Kinderkärrchens lag dabei, ein Peitschenstiel, ein unbrauchbarer Kochlöffel und viele Dinge, wie man sie auf der Straße finden kann. Auf ein Bord waren Kohlenbrocken gelegt, geordnet zu einem langen Zuge, Stückchen um Stückchen, einige Reihen. Ebenso entdeckte Grau auf einem Gesimse eine Sammlung alter Eisenteile, Schrauben, Nägel, Hufeisen, das Stück einer Eisenbahnschiene und einen Türdrücker.

Grau füllte den gelben Ofen mit Holz und machte Feuer. Dann kam er wieder aus der Küche zurück mit einem Kochtopf voll Wasser, mit Tellern, Messern, Brot und einem riesigen Stück Speck, das er in der Küche entdeckt hatte. Er stellte den Topf auf den Ofen, schnitt Brot und Speck und hantierte lautlos, während Eisenhut auf dem Diwan saß und zu schlafen schien. Zeitweise öffnete er ein Auge und lächelte spöttisch. Das kleine Hündchen streckte die Schnauze unter dem Diwan vor und verfolgte jede Bewegung Graus.

Der dicke Ofen begann zu prasseln und zu fauchen, manchmal knallte es wie Schüsse in seinem Innern und weißlicher dicker Rauch quoll aus den Fugen.

Es war lange still. Dann ging Grau hinaus und holte Gläser aus der Küche.

Eisenhut blinzelte. »Sie bemühen sich!« sagte er leise. »Sie bemühen sich!« Er lächelte spöttisch.

Grau lächelte und antwortete freundlich: »Die Mühe ist sehr gering, Herr Eisenhut. Wenn Sie mir einen Dienst erweisen wollen, so sagen Sie mir, bitte, ob ich nicht etwas Kognak finden kann.«

Eisenhut lächelte und deutete auf den alten schwarzen Schrank.

Dieser Schrank sah im Innern aus wie das Schaufenster eines Branntweinfabrikanten, er war angefüllt mit Flaschen von allen Größen und Farben und Formen, zierlichen Flakons, dicken Bocksbeuteln; Eisenhut schien auch Liebhaber von Phantasieflaschen zu sein, da stand eine Flasche aus zwei Kugeln, ein pechschwarzer Neger in rot-weiß-gestreifter Badehose und mit weißen lachenden Zähnen, und andere Sehenswürdigkeiten. Eine Menge von Kerzenstumpfen und Zigarrenresten, ein Revolver und ein Fernglas lagen in dem obersten Fach, das mit staubigen Weinflaschen vollgestopft war.

»Ah, das ist ja ganz prächtig,« sagte Grau. »Hier haben wir alles was wir brauchen.«

Er bereitete Grog und stellte ein Glas vor Eisenhut. »Bitte,« sagte er. Er blickte im Zimmer umher, schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Wie häßlich Sie doch wohnen, Herr Eisenhut! Ein Mann wie Sie, Gott stehe mir bei! Wie schön könnten Sie es hier haben, eine freundliche Farbe an den Wänden, Vorhänge, ein hübscher Teppich. Ein paar Bilder, die Sie erfreuen, so oft Sie sie ansehen, eine Uhr mit einem langen Pendel, die Ihnen die Zeit vormißt und etwas Lärm macht. Sie könnten es schön haben, daß es eine Freude wäre, zu Ihnen zu kommen.«

»Sie haben auch keine Bücher hier. Ein Bord mit schönen Büchern. Wenn Sie allein sind oder müde, dann könnten Sie sich in den Sessel setzen und lesen bei der Lampe. Ich liebe das sehr, ich für meine Person. Es gibt so herrliche Bücher. Die ganze Welt ist darin, alles was die Menschen gedacht und gefühlt haben. Sie können in der Gesellschaft von wirklich großen und außerordentlichen Menschen leben, die alle wie Freunde zu Ihnen sind. Sie finden Friede, Ruhe und Halt, Freude, Schönheit und Rat. Sehen Sie, hier an dieser Wand, da könnten die Bücher stehen. Ich werde mit Ihnen in den nächsten Tagen zum Buchhändler gehen. – Wollen Sie nicht den Grog trinken? Der wird Ihnen gut tun. Vielleicht wünschen Sie ihn ein wenig stärker?«

Eisenhut schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen.

»Seien Sie kein Narr! Ich will Ihnen die Schuhe ausziehen, es wird warm hier, alle Wetter! Das ist gut für uns beide.« Grau zog ihm die Stiefel aus. Eisenhut richtete sich auf und blickte sich nach dem Hündchen um. Das kleine braune Hündchen verschwand blitzschnell unter dem Diwan und zerrte ein Paar alte Pantoffeln hervor.

»Was für ein hübsches und kluges Hündchen!« sagte Grau. »Ich darf ihm doch etwas Speck geben? Du hast deine Sache ganz außerordentlich gut gemacht!«

Wä! Wä! Wäwä!

»Schon gut, schon gut! Siehst du, das hat mir gefallen, schleppst die Pantoffeln für deinen Herrn herbei und bist selbst so klein. Nun auf Ihre Gesundheit, Herr Eisenhut, auf unsere Gesundheit, raffen Sie sich auf, stärken Sie sich!«

Eisenhut schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin. Sein Auge war trübe und hoffnungslos. »Es ist alles vorbei!« murmelte er leise und nickte. Er schlürfte langsam den heißen Grog, er zitterte immer noch. Grau machte ihm ein zweites Glas zurecht. »Nein, nein!« sagte Eisenhut, aber er schlürfte auch dieses Glas. Es wurde warm und er hörte auf zu zittern.

Plötzlich stand Grau auf und legte seine Hand auf Eisenhuts Schulter und dann umarmte er ihn. »Ich bin als Freund zu Ihnen gekommen!« flüsterte er.

Eisenhuts Schultern bebten.

Es war stille und die lange Ofenröhre ließ einen hohlen surrenden Ton hören. Vom Marktplatze herauf drang der fröhliche Lärm einer Gesellschaft, die sich verabschiedete. Gute Nacht, gute Nacht – huhu!

»Glauben Sie an die Hölle?« fragte Eisenhut leise nach einer Weile.

»Nein.«

»Sie glauben nicht daran?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht daran glaube, ich fühle nicht so.«

»Gut. Aber Sie täuschen sich. Es gibt eine Hölle. Ja! Hören Sie wohl, es gibt eine Hölle, sage ich Ihnen! Die Erde ist die Hölle, das Leben ist die Hölle, ich bin die Hölle, sehen Sie her, hier, hier ist die Hölle. Meine Gedanken und meine Gefühle sind meine Hölle, meine Träume! Ich kann einen Hund vor mein Haus legen, daß niemand herein kommt, aber – frage ich Sie – kann ich einen Hund vor meinen Kopf und mein Herz legen? Wenn ich wache, da kann ich mich betäuben, ich kann Karten spielen, ich bringe vielleicht meine Gedanken los, aber wenn ich schlafe –? Sie träumen, daß ihr Körper mit Aussatz bedeckt ist, mit Geschwüren, mit einer Kruste aus Linsen, was ist das? Ist das ein Leben? Das ist die Hölle. Oder eine Spinne sitzt auf ihren Augen und saugt sie aus. Das ist entsetzlich!«

»Warum kann ich nicht sein wie andre Menschen, die fröhlich und guter Dinge sind? Warum kann ich nicht sagen: Ach, guten Tag, wie geht’s? und dabei lächeln? Ich fühle mich unbehaglich in Gesellschaft – ich hasse die Menschen! Aber warum hasse ich sie doch? Warum, warum? Habe ich mich selbst so geschaffen? Ich hasse die Menschen, das ist ebenfalls die Hölle. Ich sehe die Menschen lachen und fröhlich sein, es gibt mir einen Stich, ich höre, daß man einen Menschen lobt, daß man gut und bewundernd von ihm spricht, das kann ich nicht ertragen – ich schimpfe über ihn. Ich mache ihn schlecht. Ich glaube nicht an das Gute. Die guten Menschen, denke ich, sind alle Heuchler, sie hassen sich ja doch, alle zusammen, sie hassen einander wie Teufel. Ich glaube nicht an Gott, an nichts glaube ich. Ich freue mich, wenn es einem Menschen schlecht geht. Er bricht das Bein, ich lache und sage: Recht so, recht so, nur frisch darauf los Beine gebrochen, ich freue mich. Ich lese die Zeitung. Ein Eisenbahnunglück. Selbst das macht mir eine geheime Freude, obwohl die Leute mir ja ganz fremd sind. Haha – so bin ich, bei Gott. So kann ich nicht mehr leben, sterben kann ich auch nicht, denn ich liebe das Leben, schrecklich liebe ich es, obgleich es die Hölle ist. Wie soll ich es doch anpacken?« Er schüttelte den Kopf. »Und ich bin so weit, daß es mir ein Vergnügen ist, Ihnen meinen Bankerott zu erklären, es macht mir Freude, Sie sehen zu lassen, wie gemein ich bin. Hören Sie zu, hören Sie geduldig zu. Ich liebe das Geld, offen und ehrlich gestanden. Das ist das einzige, sage ich zu mir, was du hast. Und sie beneiden dich darum, die andern. Sie kommen zu mir und wollen Geld. Nichts als Geld, keiner hat noch etwas andres von mir verlangt. Ich liebe das Geld und wenn ich es hergebe, so ist es nur, um mir den Menschen zu kaufen, er wird freundlich gegen mich, er lächelt, wenn er mich sieht. So ist es und um kein Haar anders. Ich will, daß die Menschen vor mir auf dem Bauch liegen. Wenn ein Mensch mir schmeichelt – nimm! nimm! er kann alles haben – ich glaube ihm ja nicht, aber es ist doch schön all die hübschen Worte zu hören – Herr Eisenhut hin und Herr Eisenhut her, vorwärts und rückwärts – wie geht es Ihnen, Herr Eisenhut, Sie sehen krank aus! Dieser Herr Eisenhut, was für ein nobler und feiner Mann ist er doch! Ja, wenn ich es glauben könnte, aber ich kann es ja nicht glauben. Ich glaube nichts. Sobald man mir etwas sagt, so verzieht einer in mir – hier, in meiner Brust, das Gesicht und grinst. Er spricht ja nicht die Wahrheit, denke ich. Ein nobler und feiner Mann! Aber weshalb könnte er es denn nicht wirklich meinen? ich habe ihm ja gar nichts getan. Sprechen Sie?«

»Weil er Sie wahrscheinlich nicht dafür hält, Herr Eisenhut!«

»Aber es gibt ja viele Lumpen und Hunde ringsumher – wie spricht man von ihnen? Man ist freundlich, Ja, man liebt sie. Man liebt sie, obgleich sie Lumpen und Hunde sind! Warum das? Warum liebt mich keiner?«

»Weil Sie die Menschen nicht lieben, Eisenhut!«

Eisenhut lächelte und seine Züge verzerrten sich. Er nickte. »Ich hasse die Menschen, es ist wahr! Aber ich gebe mir doch Mühe, das nicht sehen zu lassen.«

Grau lächelte und legte die Hand auf Eisenhuts Schulter. »Das hilft Ihnen nichts.« sagte er. »Die Menschen fühlen es, obgleich Sie Liebe und Freundschaft heucheln.«

Eisenhut sah ihn an, er blinzelte nicht. »Sie fühlen es?« Er blickte mit hilflosen Augen vor sich hin und gab dem kleinen Hunde einen Stoß auf die Schnauze, als er sich ihm zu Füßen setzte. Der Hund sah ihn erschrocken und erstaunt an und blickte auch auf Grau, was er davon halte? »Wenn ich daran denke, an alles denke, so ist mein Leben eine fortgesetzte Blamage gewesen,« fuhr Eisenhut fort und stützte das verzehrte Gesicht in die Hände. »Ja, ja, dreimal ja! Eine einzige Blamage. Ich will gar nicht daran denken, wie die Bauern mich durchgeprügelt haben – das ist ja eine Kleinigkeit – aber ich mache den Mund auf – ich sage etwas, ich tue etwas – alles ist nichts als Blamage. Ich bin auch so unwissend – ich schäme mich – so unwissend – ich kann nicht richtig schreiben, einmal wollte ich einen Brief an eine Dame schreiben, ich konnte nicht, diese Sätze, Komma, Punkt, diese Wörter, man schreibt sie hin, sie haben keinen Sinn mehr, es ist zum wahnsinnig werden. Haha, wie haben sie gelacht, dieser Professor Richter und die ganze Bande – – ich spreche – alle lachen, die Herren und die Damen. Sie sprechen von einer Stadt und ich denke, sie liegt in Deutschland, aber die Stadt liegt in China. Alles lacht, alles! Ich lache mit und sage, ja, man kann sich täuschen. Aber ich liebe es, gebildet zu erscheinen, trotzdem ich nichts weiß, ich sage ein Wort französisch, ich streue ein lateinisches Wort ein – damit man glaubt, dieser Eisenhut kennt eine Menge Sprachen – aber ich wende ein fremdes Wort an und wieder lacht man. Das ist doch kein Vergnügen, oder?«

Aber das sei ja weiter nicht schlimm. Wenn er fühle, daß er unwissend sei, und darunter leide, weshalb lasse er sich nicht belehren.

»Glauben Sie? Glauben Sie, daß es nicht zu spät ist?«

»Wie alt sind Sie denn, um Gottes willen?«

»Dreiunddreißig.«

Grau lachte.

Eisenhut flüsterte: »Niemand weiß es. Ich habe gar keinen Unterricht genossen. Meine Mutter sagte, was brauchst du den Kram, du hast Geld. Lenz hat mich unterrichtet – aber was war es doch? Er spielte Karten mit meinem Vater – sie tranken und spielten – Ah, sagte Lenz, dein Sohn braucht nichts zu lernen, er saugt die Weisheit aus dem Leben und aus der Natur! Auf diese Weise habe ich gar nichts gelernt, könnte ich dem Lehrer den Schädel einschlagen! Ich habe nie den Mut gehabt, Unterricht zu nehmen, denn der Lehrer hätte ja gesehen, wie unwissend ich bin.«

»Das ist ja nebensächlich, das läßt sich leicht nachholen,« warf Grau ein. »Mit einigem guten Willen.«

»Ja?« sagte Eisenhut und nickte. »Das ist es ja nicht, es ist auch nur ein Stückchen. Aber alles zusammen, alles, alles. Ich könnte nicht einmal alles sagen, selbst wenn ich wollte. Solch schreckliche Dinge! Aber was sagen Sie dazu, wenn einem Menschen mit der Zeit alles gleichgültig wird? Hören Sie, ist es möglich, daß es einem Menschen gleichgültig ist, ob es Tag oder Nacht ist? Ich liege im Bett und wage nicht aufzustehen, nicht aufzuwachen, denn ich fürchte mich vor dem Tag, vor der Langeweile und dem Nichts. Was wird vorgehen, frage ich mich? Nichts, nichts! Weshalb soll ich aufstehen? Nun, ich stehe nicht auf, ich möchte im Bette liegen und schlafen, immerzu, bis ich sterbe. Aber auch das ist sinnlos. Ich stehe auf, und ich denke, warum bist du aufgestanden, hast ja nichts zu tun. Ich gehe auf die Straße und die Sonne scheint. Mein Gott, wie gut es ist, daß die Sonne scheint, denke ich. Ich freue mich, ich grüße die Leute. Das ist das Leben, denke ich, wenn die Sonne scheint und der Mensch fröhlich ist. Ich gehe ein wenig in der Sonne und freue mich nicht mehr. Es ist ja so einerlei, ganz einerlei, ob die Sonne scheint oder nicht. So gehe ich in das nächste Wirtshaus, setze mich hin, trinke Bier, esse Käse, sitze da, stundenlang und trinke – es ist mir ja alles einerlei. Ich kann ruhig hier sitzen, warum nicht? Mein Kopf ist leer, ich kann nichts denken. Aber ich kann träumen. Ich denke, ich gehe, gehe auf der Straße, da kommen sechs junge Mädchen daher, Arm in Arm und lachen mich an. Ich träume, ich gehe durch den Wald und eine Dame kommt daher und begrüßt mich und plaudert mit mir, ganz wie mit andern Herrn, ja, was will ich sonst? Nichts andres will ich sonst! Aber wenn ich der Dame in Wirklichkeit begegne, so grüßt sie kaum und läßt mich stehen. Haha, denke ich, so sind sie, und ich trinke. Oh, wenn sie doch zum Teufel ginge, sie und alle Mädchen, die immer lachen und vergnügt sind, alle, alle, mit ihr in die Hölle! Ich wünsche, daß sie krank wird und ihr die Haare ausfallen und ich freue mich – ja, wie häßlich wird sie doch aussehen? Niemand wird sie mehr ansehen – auch ich – nein, ich nicht, ich werde alles für sie tun, was sie will. Alles, alles, sie mag häßlich sein wie sie will. Aber das alles wird ja nie sein. Sie wird leben und fröhlich sein, alle, alle Menschen. Ich fluche den Menschen, auch meinen Freunden! Habe ich welche? – Mögen sie dahinfahren! Brauche ich Freunde, nein? Ich lache, alles ist ja gleichgültig und ich brüte vor mich hin – ja, nun ist mir wieder alles einerlei – alles – aber das ist noch schrecklicher, lieber noch Haß, noch Qual – Das ist das schrecklichste meiner Hölle, daß mir alles einerlei geworden ist!« Er stand mit einer Gebärde des Ekels auf. – Seine Züge waren bleich und verfallen. Die Linien um seinen Mund waren tief und gaben dem Gesichte den Ausdruck eines trostlosen Lächelns, obgleich er keine Miene bewegte. Ein verzweifeltes stummes Lachen war für immer in sein Gesicht eingegraben. Seine Augen waren scharf und brannten in kranker Glut, wie die eines Irren. Er ergriff das Glas mit Grog, das Grau für ihn gerichtet hatte und stürzte es hinunter. Seine Hand zitterte.

»Ja!« sagte er heiser wie ein Mensch, der lange geweint hat. »Laßt uns trinken! Geben Sie mir noch ein Glas, es ist so nicht auszuhalten. Alles peinigt mich! Dieses Zimmer, ich brauche es nur anzusehen! Dieses Sofa, dieser Stuhl, alles quält mich! In meinem Kopfe geht etwas herum, immer das gleiche! Haben Sie das schon erlebt, daß in Ihrem Kopfe immer das gleiche herumgeht, etwas das Sie foltert, wachen Sie auf, es ist da, gehen Sie zu Bett, es ist da. Es ist immer da, es weicht nicht mehr. Jemand lacht, es ist in seinem Lachen, sie trinken eine Flasche Schnaps, es ist in der Flasche. Es ist immer da! Sie werden ohnmächtig, aber je ohnmächtiger Sie werden, desto mehr ist es da! Sie werden wahnsinnig, aber dann ist es für immer da. Es quält mich, weil es immer da ist. Hier – hier – der Boden, der Stuhl, auf dem Sie sitzen, die Türschwelle – da ist es! Hören Sie! Es ist das Tollste, was Sie je gehört haben. Hören Sie?«

»Ich höre, sprechen Sie, Eisenhut!« sagte Grau.

Eisenhut atmete tief und begann: »Eines Nachts da klopft es an meine Türe – ich muß es Ihnen sagen, ich muß! – es klopft, ich horche, es klopft an der Türe, die zum Garten führt. Ha! denke ich, wer, bei allen Teufeln, soll denn mitten in der Nacht an der Türe, der hintern Türe klopfen? Bum, bum! Die Haare stehen mir zu Berg, ich bekomme Angst und es siedet in meinem Kopfe. Ich sitze hier an meinem Tische wie aus Stein. Vielleicht sind es Diebe oder Mörder, die dich hinauslocken wollen? Nero beginnt zu kläffen. Pack, pack! sage ich, pack Nero, und öffne die Türe und er kollert die Treppe hinunter und bellt. Bum, bum! Ich gehe ins Schlafzimmer, nehme das Gewehr und öffne vorsichtig ein Fenster. Wer ist da! schreie ich laut, aus Angst schreie ich so laut. Jemand lacht leise im Garten. Ja, zur Hölle mit dir, wer kann denn im Garten lachen, das ist doch unerhört! Wer ist da? Es ist eine Dame, deren Stimme ich kenne.« Hier hielt Eisenhut inne und blickte auf Grau. Ein Schatten fiel über sein Gesicht, nur das Kinn war beleuchtet und Grau sah, daß sein Mund lächelte, so wie der eines Menschen, der horcht und lächelt zu gleicher Zeit. »Es sind weder Diebe noch Mörder,« fuhr er fort »es ist ja eine Dame, die du kennst. Sie hat mit mir zu sprechen. Was um alles in der Welt – es ist ja Nacht – tiefe Nacht! – Ich öffne. Sie tritt ein und lacht. Was ist das eigentlich mit den Hunden, vor denen gewarnt wird, und mit den Fußangeln und Selbstschüssen in Ihrem Garten, sagt sie und lacht als ob es heller Tag wäre. Bitte? Ja, das sei eine Finte, um das Gesindel abzuschrecken. Nichts ist wahr daran! Nun also, bitte? Sie habe mit mir zu sprechen. Bitte, sage ich, bitte, hier ist es finster ich bringe Licht, Licht, sofort, sofort, bitte, gnädiges Fräulein. Hier sitzt sie also, hier, mein lieber Herr, hier, wo Sie jetzt sitzen. Es ist zwei Uhr nachts, es ist Sommer. Geben Sie mir noch ein Glas Grog, ich muß trinken, ich freue mich. Sie sitzt hier, sie hat dringend mit mir zu sprechen. Es war am dritten Juni, nachts zwei Uhr. Sie kommt mit einer großen Bitte, sie weiß nicht, ob ich sie ihr erfüllen werde. Bitte, bitte, sage ich, mein gnädiges Fräulein – nein, sie will nichts trinken, sie hat es auch sehr eilig, es tut ihr leid, daß sie nicht immer liebenswürdig mit mir umging. Ich muß verzeihen, Launen, sie ist sehr launisch. So sprach sie, so freundlich und blickte mir in die Augen. Sie sagte einfach Eisenhut, nicht Herr Eisenhut, nein, gibt’s nicht, Eisenhut bin ich. Bitte, sage ich, wenn es in meiner Macht steht? Ja, es steht in Ihrer Macht, es ist so leicht für Sie, Eisenhut. – Eisenhut, einfach Eisenhut! – Sie hat ein hellrotes Tuch um die Schultern geschlungen und blickt mich an. Es hätten sich zu Hause Dinge ereignet, die unangenehmsten Dinge –. Geld! Auch sie wollte Geld von mir! Sie sind ja doch kein Geizhals, Eisenhut, sagte sie. Eine plötzliche Forderung – hm – ihre Mutter sei sterbenskrank, das ganze Haus, nun käme sie zu mir, sie habe Vertrauen zu meiner Güte. Güte? denke ich. Sie lügt, sie will Geld. Da sitzt sie nun, sie blickt mich an, sie tut ganz gleichgültig, spricht als ob sie vom Wetter spreche, aber sie bebt, sie bebt! Warum soll ich nicht helfen, denke ich, warum nicht? Die Familie ist verschuldet, das Geld ist verloren, ich kann es ebensogut einem Hunde zum Fressen geben – niemals wirst du auch einen Pfennig wieder sehen! – aber da sitzt sie ja, ich sehe wie sie innerlich zittert. Das freut mich – unsäglich! Da sitzt sie, früher, da sah sie mich nicht an, sie reckte die Nase in die Luft, sie ging wie eine Königin durch die Straßen und wir andern alle waren Hanswurste und Luft für sie. Aber da sitzt sie nun – weshalb soll ich nicht – wie? Wieviel ungefähr? Sie atmet zweimal tief, pickt mit dem Finger Brotkörnchen vom Tisch, sie lächelt, und sagt: zwanzigtausend Mark. Zwan–zig–tausend – sie hatte wohl den Verstand – nein, nein, nein. Ah, was die Leute doch denken. Esse ich Gansbraten und eingemachte Birnen? Ich esse nur einmal im Tage – nein! Da steht sie auf, sie legt mir die Hand auf die Schulter. Es ist so leicht für Sie, in einigen Monaten bekommen Sie es zurück. Ich stelle Ihnen einen Wechsel aus, einen Schuldschein, wie Sie wollen. Es wird alles geschäftsmäßig geregelt werden – nun spricht sie wie ein Bankier. Aber sie bebt ja doch! Sie sieht, daß ich zögere, sie fährt mir mit der Hand übers Haar, sie legt ihre Hand auf die meine. Hören Sie, sage ich zu ihr, hören Sie, gnädiges Fräulein, Sie wissen, daß ich Sie liebe, werden Sie meine Frau. Ich liebe Sie, Sie können tun was Sie wollen, nur daß ich Sie täglich sehen kann – denn ich will ja lieber Ihr Lakai sein, als der Mann einer der geschwollenen Krämerstöchter von hier. So sage ich und sie hört aufmerksam zu. Ich sage, Sie werden dann so viel Geld haben wie Sie nur wünschen. Alles wird Ihnen gehören, alles, eine Million und mehr! Haben Sie soviel? fragt sie und lächelt. Ja, sage ich, ich lüge nicht. Ich öffne die Türe und zeige ihr den Schrank, öffne ihn: Sehen Sie! Alles sollen Sie haben. Hören Sie, Eisenhut, sagte sie, es kann doch nicht so rasch gehen, ich muß es mir doch überlegen und wenn ich Ihre Frau werde, so werde ich es doch nicht Ihres Geldes halber. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter und lächelt. Ich möchte sie an mich ziehen, aber sie macht eine kleine Bewegung und ich tue es nicht. Ich sage zu ihr, daß ich ordentlich und gut werden würde – ich schwöre ihr, nicht mehr zu trinken. Sie soll befehlen und ich gehorche, blindlings. Ihr Lakai werde ich sein. Ja, sie wolle nachdenken. So schnell kann es ja nicht gehen, mein Freund – sagt sie – mein Freund, das ist ja ausgeschlossen. Sie müßten bei meinen Eltern um meine Hand anhalten, aber so – ich bringe Ihnen ja gewiß Freundschaft und Sympathie entgegen, obgleich ich immer launisch gegen Sie war – ob ich Sie aber heiraten kann, das muß ich mir doch überlegen. – Wann werden Sie mir Antwort sagen? – Morgen oder in den allernächsten Tagen. Gut, sage ich, dann will ich Ihnen das Geld mitbringen. Sie besinnt sich und setzt sich langsam nieder. – Das geht ja nicht, mein Freund, sagt sie! Morgen gibt es zu Hause eine Katastrophe, wenn die Forderung nicht eingelöst werden kann. Es ist ein Wechsel. Könnte es Ihnen nicht einerlei sein – ich komme morgen wieder zu Ihnen, ich verspreche es Ihnen. – Gut, ich zähle ihr die Scheine hin. Danke, sagt sie, und zählt das Geld sorgfältig nach – aber ich sehe, wie ihre Hand bebt. Sie geht. Über diese Schwelle hier ist sie gegangen. Sie geht wieder durch den Garten. Also morgen! sage ich. Ja, antwortet sie, wenn es mir möglich ist, sicherlich. – Am andern Tage gehe ich zum Schneider und lasse mir einen Frack anmessen. Sie heiraten wohl? Ja, vielleicht. Ich warte. Der Tag vergeht, sie kommt nicht. Ich warte einige Tage. Der Frack ist fertig. Ich probiere ihn an und der Gedanke kommt mir in den Kopf um ihre Hand anzuhalten. Ja? Sofort – vorwärts, – haha – vielleicht ist sie krank. Gut. Der Vater empfängt mich. Wie? sagt er. Ich spreche und er lacht. Na, sagt er, Herr Eisenhut, was fällt Ihnen doch ein – hahaha – er lacht – er lacht und sagt: Entschuldigen Sie, ich lache ja nicht – es ist ja höchst ehrenvoll – aber ich glaube, daß meine Tochter – hahaha! – daß meine Tochter, na, daß die Wünsche und Absichten meiner Tochter – übrigens, wer kennt die Frauen? Sie wird es Ihnen ja sagen. Konrad – meine Tochter soll kommen. – Sie kommt. Ich sehe sie nicht, aber ich höre ihren Schritt, obwohl Teppiche gelegt sind, höre ich ihn. Sie ist da. – Herr Eisenhut gibt uns die Ehre, gibt dir die Ehre – Sie ist totenbleich – sie sieht mich an und auch ihre Lippen werden blaß – sie hat Angst, ich werde sprechen – nein, Sie brauchen keine Angst zu haben, nein, so bin ich ja nun doch nicht – ich werde Sie nicht verraten. Sie lächelt, gibt mir freundliche und höfliche Worte. Sie sagt nicht Ja, sie sagt nicht Nein, sie sagt hmhm. Ich gehe. Der Diener lächelt ebenfalls. Soll ich dich aufs Maul hauen, du Affe? – Ich warte, ich denke, wie dumm, wie voreilig. Endlich treffe ich die Dame und sage: Nun? Wie steht es mit der Antwort? – Sie lächelt und sagt: Ja, was für Einfälle Sie doch haben, Sie kommen ins Haus – ich bin ja nicht wiedergekommen, war Ihnen das nicht klar genug? – Ich sage: Haha, was ist das! Sie haben aber versprochen zu kommen. Ja, sagt sie gleichgültig. Ich möchte Sie bitten weniger laut zu sprechen und sich weniger auffallend zu gebärden, Herr Eisenhut, wenn uns jemand beobachtet! – Nun sprechen Sie ja ganz anders, seht an, sage ich, neulich da konnten Sie viel freundlicher sein. Sie haben von Freundschaft und Sympathie gesprochen – was weiß ich – es war aber nur eine Falle, so ist es. Sie haben wohl auch nie im entferntesten daran gedacht, mich zu heiraten – wie? – Sie sieht mich an und lächelt verächtlich. Wenn Sie es wissen wollen: Nein! Ich bitte Sie nun – Was bitten Sie! schreie ich. Dann haben Sie mich einfach betrogen! – Sie stampft mit den Füßen und wird blaß. Bitte! sagt sie und sieht mich an als ob ich ein Lakai wäre. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein solch ungebildeter Mann wären! Außerdem wäre es mir nie in den Sinn gekommen Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. Sie geht. – Ja, wie konnte ich auch so ungebildet schreien, denke ich, wie konnte ich mich so vergessen. – Ich kam mir vor wie ein Hund. Ich trank, schrecklich trank ich in dieser Zeit, ich wollte gar nicht mehr zur Besinnung kommen. Ich habe eine Dame beleidigt und liebe sie doch, ja zum Teufel mit mir! Ich trinke hier in dem gleichen Zimmer, wo sie mir das Haar streichelte. Ich bin ein ungebildeter Mann, jawohl, ganz richtig. Das ist wahr, sie hat es gesagt. Ich könnte mir die Haare ausreißen! Sie hätte mich ja nie um eine Gefälligkeit gebeten, wenn sie gewußt hätte, was für ein ungebildeter Mann ich eigentlich bin. Ja, es ist wahr, sie heuchelte mir etwas vor, sie machte mir Versprechungen – soll ein Mensch in der Welt aufstehen und das Gegenteil behaupten! – sie schmeichelte mir, sie nahm die Gefälligkeit von zwanzigtausend Mark mit sich, das tat sie – aber trotzdem! Und ich fluchte und trank, weil sie mich angelogen hatte, ich trank weil ich ein Narr war und ihr glaubte, ich trank, weil ich sie kränkte und am meisten trank ich, weil sie mich nun verachtete wegen meines ungebildeten Benehmens. Ich mag schon gar nicht daran denken – wie ich den Freiersmann spielte und mir einen Korb holte – Wie sollte ich je mit der Sache fertig werden, je ins Klare kommen? Ich sitze hier und trinke und deute auf den Tisch – hier hast du also auf der einen Seite eine Dame, die kommt, dich streichelt und heuchelt und verspricht und – ich deute auf den Tisch – hier hast du also einen Mann, der sich die Freiheit nimmt zu fragen, was denn eigentlich – hier hast du also – und hier – nein! Mein Kopf faßt das nicht. Wie ist es doch? Wer hat recht und wer hat unrecht. Wie ist es doch? Nein, ich bin zu dumm, um das je herauszubekommen. Aber Zorn kommt über mich, Wut, daß ich schreie! Hier hast du also, hier – und hier – ja, ich bitte einen vernünftigen Menschen mir zu erklären – wie? Ist es vielleicht ein Vergnügen – ich frage den Teufel! – ist es ein Vergnügen – einen Frack anzuziehen – wie – und ein alter Habenichts lacht – ist das ein Vergnügen – ich bitte weniger laut zu sprechen – wenn uns jemand beobachtet – wie? Gott im Himmel, wie soll ich das verstehen! – Ich hasse die Menschen! Was für eine Behandlung ist das? Ich hasse die Frauen! Ja, ich liebte jene Dame, es ist die Wahrheit, ich liebte sie. Aber nun hasse ich sie. Ich begegne ihr auf der Straße, ich grüße nicht, ich blicke sie nur durchdringend an. Ich gehe an ihr vorüber und ziehe einen Brief heraus, auf den ich mit haushohen Buchstaben Schuldschein schrieb – ich mache es so, daß sie es sieht. Ich hasse sie, sie könnte es Schwarz auf Weiß haben – ich treffe sie in der Buchhandlung und lasse den Brief fallen. Sie soll nur etwas Angst vor mir haben, jetzt, da ich sie hasse. Ich habe sie geliebt, was ist geschehen, daß ich sie jetzt hasse? Habe ich zu mir gesagt: Hasse sie, hasse sie! Nein! – Ich begegne ihr mit den Freundinnen, sie spricht das erste Wort, sie reicht mir die Hand. Sie spricht mit mir: Sie hat Angst. Gott im Himmel! denke ich, weshalb hat sie doch nur Angst? Nun spricht sie freundlich mit mir, sagt, ob ich nicht zum Tennis kommen wolle – nur weil sie Angst hat. Ja, weshalb sollte sie denn Angst haben? Vor mir? Ach, bei Gott, nein, sie braucht gar keine Angst zu haben, ich tue ihr nichts, nein. Es ist ja schrecklich, zu sehen, daß sie Angst hat. Denn ich liebe sie ja, ich hasse sie ja gar nicht, ich liebe sie! Ich blicke auf ihr Haus und weine. – Wie lächerlich, Angst zu haben, ich werde es ihr sagen, von einem Skandal kann ja gar keine Rede sein. – Ich laure auf den Wegen, bei ihrem Haus, endlich treffe ich sie. Ich nehme den Brief aus der Tasche, um ihr den Schuldschein zurückzugeben – sie sieht mich an und sagt: Man wird Sie bezahlen, haben Sie keine Angst, Herr Eisenhut. Aber ich bitte Sie mich gefälligst ungeschoren zu lassen, ich kann ja keinen Fuß mehr aus dem Hause setzen, ohne daß Sie dastehen. – Glauben Sie nun, ein Mensch wie ich, lächelt, gibt den Brief zurück, sagt ihr, daß sie unbesorgt sein möge? Glauben Sie das? Dann sind Sie auf falschem Wege. Ich bin nicht so. Nein. Was hat mich doch so wütend gemacht? Ich stehe da mit dem Briefe und also muß sie denken – deshalb spricht sie ja so – aber daß sie so spricht, ihre Haltung, ihr Blick – alles – was hat mich doch wütend gemacht, daß ich schreie: Nehmen Sie sich in acht vor dem Skandal! Ich schreie das, ich lache ganz gemütlich und gehe.

Ist das nicht um verrückt zu werden, wie? Nichts ist geblieben als Haß. Aus allem, was man tut, nichts bleibt als Blamage, Ekel und Haß! Ach, wie ich doch die Frauen hasse. Sie sind Schlangen, schön, wärmen sich in der Sonne und glitzern, denken böse und sind giftig! Man sollte sie alle einsperren, gehen daher und blähen sich auf. Nun, ich hasse sie! Ich hasse auch die Männer, aber die Frauen hasse ich auf eine ganz andere Weise! Ich sitze hier, bewerfe sie mit Schmutz und hasse sie. In manchen Stunden, da liebe ich sie ja. Sie sind schön, Gott im Himmel, sie sind ja schön, sage ich, schön und rührend sind sie. Ich bitte euch um Verzeihung, ihr Frauen auf der ganzen Erde, ich! Aber der Haß kommt zurück. Auch die Menschen liebe ich zuweilen, aber der Haß kommt zurück und zerfrißt mich wie Gift. Ist das ein Dasein? frage ich Sie, was für ein Leben soll das sein! Es ist ein Hundedasein, nichts als ein Hundedasein!«

Er lachte verzweifelt auf und schrie.

»Das ist das, hören Sir, Herr Grau, das ist das, nun habe ich es Ihnen erzählt, das, was mich quält – was nicht mehr von mir weicht, ich denke daran, fresse daran über ein halbes Jahr – immer wieder ziehe ich den Frack an – immer wieder – geht die Dame über diese Schwelle – immer wieder spricht sie mit mir oben im Walde – immer, immer, immer wieder – ah!« Er vergrub den Kopf in den Händen.

»Halt!« schrie er. »Sagen Sie nichts! Es ist noch nicht alles! Ich muß alles sagen, es muß heraus, ich muß es tun, Sie sollen wissen, wie es um mich steht. Glauben Sie denn, es sei eine Wonne so zu leben – mit all dem im Kopfe? Wie ist das alles gekommen? Weiß ich es? Wie ist es gekommen, daß alles sich in meinen Gedanken in Schmutz verwandelt? Jedes harmlose Wort – ich höre es, man spricht es – aber in meinem Kopfe verwandelt es sich zu einer Niedrigkeit. Was für Gedanken habe ich doch früh und spät – abscheuliche Gedanken, die kein Mensch ertragen kann, ich möchte weit fort von ihnen, aber es geht nicht. Nichts ist schrecklicher als eine verdorbene Phantasie – sie ist ein Gespenst, das alles häßlich und stinkend macht.« Er schauderte zusammen und schüttelte sich wie gepackt vom Grausen. »Auch meine Phantasie ist eine Hölle!«

»Ich will nicht mehr!« fuhr er fort und wiegte den Kopf auf den Schultern hin und her. »Ich will nicht – aber ich muß – ich muß Ihnen alles sagen. Warum? Haben Sie mich etwas gefragt? Haben Sie zu mir gesagt: Nun, Eisenhut, wie steht es mit dir? Was macht dir Qual? Nein! Nichts haben Sie gesagt. Aber ich sage Ihnen alles, ich reiße vor Ihnen das ganze Haus ein, damit Sie sehen, was darin ist. Ich verkaufe mich auf Abbruch vor Ihnen. Warum? Vielleicht, weil Sie mir helfen sollen? Oder? Warum denn? Ich habe Sie gesehen, ich habe gehört, was Sie sagten, damals bei der Beerdigung – ich habe an Sie gedacht. Ich konnte meine Gedanken nicht mehr von Ihnen losreißen. Warum? Kenne ich nicht hundert Leute, an die ich nicht denken muß? Was ist das? Ich habe gedacht, wie schön und jung er ist und wie freundlich und gleichmäßig liebenswürdig gegen jedermann. Vielleicht ist er glücklich, vielleicht ist er gut und vielleicht hat er keine Hölle in der Brust, keine häßlichen Gedanken, schöne Gedanken vielleicht! Nein, er ist ein Dummkopf und ein Schwätzer, habe ich gedacht, er ist eine Art Idiot, ein Narr – so wie Professor Richter sagt. Aber trotzdem mußte ich an Sie denken. Ich träumte von Ihnen, ich sah in Ihre Fenster, ich mußte Ihnen immer begegnen, Sie immer ansehen. Ich ging um Sie herum, im Kreise, und kam nicht mehr los von Ihnen. Was ist das? Am ersten Tage, da begegnete ich Ihnen – ich richtete es so ein – ich tat, als ob ich grüßen wolle, ich grüßte nicht. Aber Sie grüßten und sagten: Ein schöner Tag oder was Sie doch sagten. Freundlich sahen Sie mich an. Ich aber lachte über Sie. Ich lachte und ich weiß nicht, warum ich lachte. Sie läuteten an meiner Glocke, am gleichen Tage, ich öffnete nicht. Ich dachte, aha, er hat eine Liste bei sich, er will Geld! Aber nicht deshalb allein öffnete ich nicht, nein – ich hatte Angst vor Ihnen, ganz plötzlich – eine eigentümliche unsagbare Angst. Seitdem mußte ich immer an Sie denken.«

»Ich träumte auch von Ihnen, ja! Ich träumte, einige Schurken hätten mich angeschossen. Ich lag da und stöhnte und mein Gaumen brannte. Ich preßte die Hand auf die Brust, das Blut schoß heraus, ich stand Todesängste aus – da ging die Türe auf und Sie kamen herein. Ich wurde sofort ruhig. Sie legten mir die Hand auf die Brust, da floß das Blut nicht mehr. Sie feuchteten den Finger an den Augen an, da war die Wunde geheilt. Das träumte ich von Ihnen und oft träumte ich von Ihnen.«

»Warum, warum? Seitdem ich Sie sah – weshalb doch? Ich verstehe ja das ganze Leben nicht mehr. Ich mußte an Sie denken und je mehr ich an Sie denken mußte, desto mehr haßte ich Sie, je mehr ich Sie haßte, desto mehr mußte ich an Sie denken. Wenn ich Sie nur sah, konnte ich wütend werden. Sie gehen dahin, so leicht – Ihre Augen sind so klar – alles zusammen – ich haßte Sie aber! Nun sitzen Sie da, ich erzähle Ihnen alles. Ich muß. Ich muß fortfahren, ich weiß nicht warum.«

»Sie sollen von diesen Schuften hören, diesem Professor Richter, dem Adjunkten, von Dr. Nürnberger – von mir und ihnen – alles sollen Sie hören. Weshalb verkehre ich mit diesen Leuten? Weil sie gebildet sind, weil sie angesehen sind! Oh, hätte ich sie nie kennen gelernt, diese Hunde, die alle so sind – so niedrig wie ich – die nichts glauben, nur lachen, nichts wollen, alles in den Schmutz ziehen – diese – nein, nein, nein, genug – einmal hat mich Dr. Nürnberger zum Duell herausgefordert, ich glaubte es sei ihm Ernst – ich – nein, nein, nein – genug – nichts mehr –«

Er schwieg und schloß die Augen und es sah aus als ob er ohnmächtig werden würde. Grau wollte ihm eben beispringen, aber da sah er, daß Eisenhut lächelte.

Er lächelte und ohne die Augen zu öffnen sagte er: »Es ist zu toll, es waren ja gar keine zwanzigtausend Mark, die die Dame holte. Es waren nur zehntausend!« Er schüttelte den Kopf, blinzelte und begann zu Graus Erstaunen heiter zu lachen. »Ja,« rief er aus, »wie toll! Es waren ja nur zehntausend Mark! Ich bildete mir ein, es seien zwanzigtausend gewesen, all die Zeit lang und endlich glaubte ich es selbst. Ha! Ha! Ha! Ja, bei Gott, so ist es mit mir! Ich lüge und manche Lügen wiederhole ich so oft, daß ich sie selbst glaube. Warum muß ich denn immerzu lügen? Das ist sonderbar! Ich komme in eine Wirtschaft und erzähle, daß ich soeben einen weißen Hirsch gesehen habe. Weshalb, warum, wozu? Hat mich jemand gefragt, wie? Können Sie mir das erklären?«

Grau antwortete: »Ich denke, Sie wollen sich interessant machen, Herr Eisenhut.«

Eisenhut nickte, gleichsam befriedigt über Graus Antwort. »Ja, das ist es. Ich habe mich schon wahnsinnig gestellt, ja sogar tot habe ich mich gestellt – sogar tot! Um Aufsehen zu erregen, um mich interessant zu machen. Deshalb lüge ich auch immerzu. Ich habe auch Sie einmal angelogen, als wir zu Mütterchen hinaus gingen. Daß Lenz mit den Mädchen im Sommer spazieren ging und sagte: Alle auskleiden. Das war eine Lüge. Ha! Ha! Ha! Wie kam ich doch darauf. Warum tat ich es doch! Ha! Ha! Ha!«

Grau unterbrach ihn, denn er sah, daß Eisenhut den äußersten Grad von Erregung erreicht hatte. »Ruhen Sie sich aus, Eisenhut, sprechen Sie nicht mehr!« sagte er und führte ihn zum Sofa.

»Ja, ja!« sagte Eisenhut. »Ha! Ha! Ha!«

Eisenhut schwieg. Dann lachte er wieder, sah Grau an und wurde plötzlich ernst. »Sie sind gewissermaßen der allerschrecklichste Mensch!« flüsterte er. »Mir graut vor Ihnen, denn man kann Sie nie kennen, nie, nie!«

»Aber lieber Freund!« sagte Grau. »Ruhen Sie doch ein wenig.«

Eisenhut nickte und schwieg.

Aber er begann von neuem und er sprach und flüsterte die ganze Nacht hindurch. Das Licht der Kerze erlosch und sie saßen im Dunkeln. Durch die Risse des Ofens flackerte der Schein des Feuers, das langsam erstarb. Er sprach aus der Dunkelheit, lachte, schrie, schluchzte, flüsterte. All die Qual, die in den Menschenherzen haust –

Grau zitterte, so daß er die Hände auf die Knie pressen mußte, um sich nicht zu verraten. Warum zitterst du? fragte eine Stimme in ihm. »Es ist so schrecklich, so schrecklich all das zu hören!«

Grau unterbrach ihn nicht; er sollte sich aussprechen. Die Scheiben der Fenster wurden blau und begannen zu glitzern. Lautlos kam der Tag. Nichts regte sich auf der Straße. Dann begann eine feine bimmelnde Glocke im Kloster zu läuten und der Gesang der Mönche hallte aus der Ferne.

Eisenhut saß zusammengekrümmt im Sessel und schwieg.

Grau saß still und blickte zu ihm hin. Die Fenster wurden hellblau und die Häuser gegenüber tauchten wie aus einem dicken Nebel auf.

Dann sagte Grau: »Sie haben viel gelitten, Eisenhut!«

»Ich bin verloren und schlecht, schlecht und verloren.«

Grau schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er, »aber Sie haben zu viel gelitten! Sie sind nicht schlecht, nur schrecklich unglücklich sind Sie!«

Aber Eisenhut saß bleich, mit verzweifelten lechzenden Augen. »Kann ich denn so leben?« fragte er und wollte aufstehen. Aber Grau drängte ihn sitzen zu bleiben. Er sah ihn an, reichte ihm die Hand und drückte sie. Er nickte und saß lange Zeit, die hellen freundlichen Augen auf ihn gerichtet.

»Geduld, Geduld!« sagte er endlich. »Nun wird es ja schon Tag; die Sonne muß bald aufgehen. Sehen Sie doch, wie blau der Himmel wird, es wird ein schöner klarer Tag werden. Was soll ich Ihnen doch sagen, Eisenhut? Da sitze ich nun und beginne vom Wetter zu sprechen, weil ich nicht weiß, wie ich beginnen soll. Ich bin ja so unerfahren und jung, Sie müssen Nachsicht haben, ich bin ja sogar jünger als Sie, Eisenhut – wie anmaßend wäre es doch, wollte ich Ihnen Ratschläge geben. Sie haben Vertrauen zu mir gehabt und wie schön ist es doch, daß Sie ein solch unbedingtes Vertrauen zu einem Menschen haben konnten! Schön war es für mich, daß Sie mich damit auszeichneten und ich werde Ihnen das nicht mehr vergessen. Ich habe mich so gefreut darüber und ich danke Ihnen. Ich bin Ihr Freund, wenn Sie nur wollten. Ja, ich gehöre Ihnen ganz! Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken, es wird Sie stärken. Sind Sie müde? Nein? Ich denke mir, wie unglücklich und arm Sie doch sind. Aus all dem was Sie mir erzählten, konnte ich ja entnehmen, daß Sie niemals, aber auch niemals einen Freund gehabt haben.«

»Wir alle aber können nicht ohne Freunde leben!«

»Hören Sie, was Susanna einmal zu mir sagte. Sie sagte, wenn sie in den Büchern liest, so fühlt sie, daß sie von all den Gestalten, die in den Büchern vorkommen, etwas hat, ob sie nun schlecht oder gut sind. So empfand auch ich, als ich Ihnen zuhörte. Ich bin Ihnen so sehr ähnlich; von all Ihren Wünschen, Kämpfen, Schmerzen habe auch ich einen großen Teil. Ich will ja nicht sagen, daß ich genau so bin wie Sie, nein, jeder Mensch ist ja doch anders, aber so im allgemeinen? Mehr oder weniger sind alle Menschen wie Sie, Eisenhut. Ach, schütteln Sie doch nicht den Kopf, es scheint mir so, soweit ich die Menschen kenne Sie sind Ihnen alle verwandt. Sie sind allein oder fühlen sich allein, ganz wie Sie. Sie leiden unter dieser Einsamkeit, wie Sie. Sie haben Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft. Sie haben schlechte und häßliche und haßerfüllte Gedanken, jeder Mensch hat sie zuweilen. Sie lügen und posieren, um gesehen, gehört, beachtet zu werden, um interessant zu erscheinen. Ja, das tun fast alle. Fast alle sind so empfindlich wie Sie und wir alle fühlen einen Tropfen Essig stärker auf der Zunge als ein Pfund Honig. Alle sind so ehrgeizig, alle legen so großen Wert auf die Liebe und die Achtung der Menschen wie Sie – und das ist ja nur gut! Wir alle möchten nicht nur geliebt, wir möchten bewundert sein. Und das ist ja nur gut!«

»Das Leben ist gegen Sie unfreundlicher und nachsichtsloser gewesen als gegen andere, Eisenhut. Das hat Sie bitter gemacht und Sie sind nicht stark genug gewesen. Dann haben Sie in Ihrer Seele gewütet, wie haben Sie in Ihrer Seele gewütet, Eisenhut, wie ein Mörder! Ja, das haben Sie getan, verzeihen Sie mir, aber ich muß es sagen! Nun aber frage ich Sie, hat Ihre Seele sich das gefallen lassen? Nein, nein! Sie hat sich gewehrt dagegen und hat Sie gefoltert dafür und gepeinigt. Denn sie sagte sich: Genug, genug, wie geht er doch mit mir um? Ihre Seele ist ja gut, Eisenhut. Sie sind ja ein guter, wahrhaft guter Mensch! Das glauben Sie nicht? Seht an! Ich habe ja schon früher von Ihnen gehört und es ist wahr, ich habe viel, viel an Sie gedacht! Weshalb sehen Sie mich so an? Ja, das habe ich getan. Ich habe mich in Gedanken viel mit Ihnen beschäftigt. Sie taten es ja auch mit mir, nicht wahr? Ich habe gedacht, Eisenhut ist ein guter Mensch, den man viel quälte. Ein guter, aber einsamer Mensch ist er, ich schwöre Ihnen, ich habe das gedacht! Sie sind gut, sagen Sie, was Sie wollen. Sie hassen die Menschen, weil sie Ihnen zuvor so große Liebe entgegen brachten. Wie können Sie doch lieben! Haben Sie nicht gesagt – als Sie von jener Frau sprachen – ich blicke auf ihr Haus und weine? Sie vergeben mir wohl, daß ich es wage, Ihre intimsten Gefühle zu berühren. Ich will Ihnen ja nur beweisen, wie gut Sie in Wirklichkeit sind und wie wenig Sie sich selbst kennen. Das ist auch ein Fluch, eine Strafe für diejenigen, die in ihrer Seele wüten, daß sie sich selbst nicht mehr kennen. Sie haben gesagt: Die Sonne scheint, ich gehe auf die Straße, ich grüße die Leute – kurz und gut, ich könnte Ihnen ja an vielen, vielen Dingen zeigen, daß ich im Recht bin. Haben Sie nicht auch jener Dame, die in der Not zu Ihnen kam, geholfen?«

»Ich will Ihnen sagen, welchen Fehler Sie begangen haben. Sie haben jenen Fehler begangen, den die meisten Menschen begehen: Sie suchten Glück und Erlösung durch andere, durch Freunde und Freundinnen. Und Sie haben jenen Fehler begangen, den die meisten Männer begehen, sie suchten Glück und Friede durch die Frau. Ja, fragen Sie sich doch, sollten die Frauen vielleicht dazu da sein, daß wir uns bei ihnen ausruhen, erholen, daß wir von ihnen das Glück und die Freude entgegennehmen? Nein, wie unsinnig wäre das doch! Sie wollten, daß die Menschen Sie lieben, daß die Frauen Sie lieben, daß Sie sie lieben dürfen, nicht wahr? Dann wäre Ihnen geholfen. Aber wenn Sie zu einem Menschen kommen, so sieht er Sie an und fragt sich: Was wird er mir geben? Ich frage Sie, sind Sie reich, können Sie geben? Ja, Liebe, nicht wahr, wollten Sie denn nicht Liebe geben? Richtig, aber jene Liebe, die aus Ihrer eigenen Ohnmacht hervorgeht, Verzweiflung, weil Sie mit sich allein nicht leben können, weil Sie arm im Innern sind, Anlehnung wollten Sie, Halt! Wenn Sie in ein Wirtshaus gehen, essen, trinken und nicht bezahlen können, so wirft Sie der Wirt vor die Türe, Sie sind ein Zechpreller. Er hat keine Nachsicht mit Ihnen. Die meisten Menschen sind solche Wirte, die den vor die Türe werfen, der nicht bezahlen kann und den nicht hinein lassen, der arm aussieht. So sind die Menschen, sie müssen vielleicht so sein, denn sie sind ja selbst arme Wirte, keine reichen Herren, die Bettler speisen können.«

»Sie fragen mich nun – ja, sagen Sie, ich sehe doch, man liebt den oder jenen und was ist er im Grunde genommen, aber man nimmt ihn auf, man liebt ihn. Lieber Eisenhut, ich weiß das wohl. Man nimmt ihn auf, man liebt ihn um einer einzigen schätzenswerten Eigenschaft willen! Vielleicht kann er singen, oder Geschichten erzählen, oder er ist freigebig, er ist witzig, er ist drollig, er ist gütig oder er ist mutig. Wenn er nur eine einzige Eigenschaft hat, die ihn vor andern auszeichnet. Haben Sie eine solche Eigenschaft? Fragen Sie sich? Sie sind begütert, Sie sind ein reicher Mann und diese Eigenschaft hat Ihnen Einlaß gewährt. Aber das ist ja eigentlich keine Eigenschaft, nicht wahr.«

»Das sind harte Worte, verzeihen Sie mir. Sie wissen ja selbst, Sie leben nicht im Frieden mit sich. Ja, Sie sind so unzufrieden wie einer nur sein kann und haben ja selbst Ihren Bankerott erklärt. Aber Sie wollen, daß man Sie liebt! Freunde sind der Preis unserer Tugenden, Eisenhut.«

»Sie sagen, Sie hassen die Menschen, Sie glauben nicht an ihre Liebe und Güte und an das Edele in ihnen. Aber Sie wollen, daß man Sie liebt. Du guter Gott, was denken Sie denn, die Menschen fühlen ja Ihre geheimen Gedanken. Sie achten die Frauen nicht sehr, aber Sie wollen, daß die Frauen Sie lieben. Da kommen Sie nun zu den Frauen, Sie sprechen, Sie sind liebenswürdig, Sie sind freundlich – aber die Frauen? Die Frauen fühlen ja deutlich, wie Sie sonst über sie denken. Sie bleiben kühl. Ein anderer spricht dieselben Worte, lächelt das gleiche Lächeln, sehen Sie, wie die Augen der Frauen leuchten, wie freundlich sie ihn anblicken? Warum? Ja, die Frauen fühlen, er denkt immer so von uns. Das Gefühl eines Mannes können Sie am Ende täuschen, aber niemals das Gefühl einer Frau, denn sie sind alle Hellseherinnen.«

»Nun, Eisenhut? Eisenhut, Eisenhut, Eisenhut – ich bin ja Ihr Freund und mir müssen Sie alle diese grausamen Worte verzeihen. Weshalb bin ich Ihr Freund, Eisenhut? Weil ich Sie am besten kenne. Nun? sage ich. Sie fanden keine freundliche Miene bei den Menschen. Was taten Sie aber? Gingen Sie nach Hause und sagten Sie zu sich selbst: Ich bin ja wenig wert, ich habe den Menschen zu wenig zu geben. Ich bin nicht einmal ein guter Gesellschafter, denn ich weiß ja wenig und habe meine Kenntnisse nicht bereichert. Taten Sie das? Nein, ach, Sie taten es nicht. Sie klagten die Menschen der Härte und Lieblosigkeit und Schlechtigkeit an und begannen zu trinken. Sie suchten also Erlösung, Glück und Friede im Rausch. Das tun ebenfalls alle Menschen, die meisten, sie betäuben sich alle auf irgend eine Art. Aber der Rausch verfliegt, die Betäubung verfliegt und Ihre Seele schreit hungriger und durstiger als zuvor. Ihre Seele will Wahrheit, keine Lüge und Betäubung. Im Rausch, da können Sie einherschreiten wie ein König, aber der Rausch vergeht und Sie sind ein Bettler. Denn Sie sind ja kein wirklicher König gewesen im Rausche, nur als König verkleidet waren Sie. Ich weiß das alles, Eisenhut, ich, Ihr Freund, denn – all das habe ich an mir selbst erlebt.«

»Sie leben viel in der Nacht, Eisenhut. Wer erträgt das? Wissen Sie denn, wie gefährlich es ist mit den Geistern der Nacht zu leben, für den Menschen, der ja geschaffen ist zum Verkehr mit den freundlichen Wesen des Tages und des Lichtes?«

»Sie leben immer mit sich allein. Auch das ist gefährlich. Nur wenige Menschen können es ungestraft tun, denn der Mensch ist ja geschaffen zum Umgange mit seinen Brüdern.«

»Ihre Seele hat nach Eindrücken gehungert, Ihr Geist nach Erkenntnis? Haben Sie Ihre Seele gesättigt, Ihren Geist? Nein. Sie sind nicht der Mann, der zufrieden ist, seine Geschäfte zu verrichten, Geld einzukassieren und in Kneipen zu sitzen. Es ist gut, daß Sie das nicht befriedigt. Ihre hungernde Seele soll Sie quälen, das ist gut. Aber was tun Sie, Ihre Seele zu sättigen? Nichts, Eisenhut, da sitzen Sie in diesem Gefängnis, in diesen Fuhrmannskneipen, in dieser kleinen Stadt, wo das Leben still steht. Was würden all die andern Millionen Menschen tun, die so allein sind wie Sie, wenn sie nicht Spiel und Gesang, Musik und Poesie hätten? Es ist ja nicht genug, daß der Mensch ißt und trinkt und schläft, nein, er braucht ja viel mehr. Warum reisen Sie nicht, Eisenhut, hinaus in die Welt? Warum nicht? Wo täglich tausend neue Eindrücke Ihre Seele erquicken und ermutigen? Warum taten Sie das nie?«

»Da draußen kennt mich ja kein Mensch,« antwortete Eisenhut.

Grau lächelte. »Lieber Freund,« sagte er, »daran müssen Sie sich ja gewöhnen, nicht mehr gekannt zu sein. Sie müssen es lernen Ihr Leben zu leben, ohne daß Sie ein Schauspieler sind, der sich von andern bewundern läßt. Wenn Sie einen Ring am Finger tragen, so müssen Sie ihn nicht tragen für die andern, sondern weil es Sie freut Ihre Hand geschmückt zu sehen. Und wenn Sie glücklich sind und heiter und tanzen und singen, so müssen Sie nicht tanzen und singen, weil andere es sehen und hören und denken werden: Er tanzt, er singt, er ist guter Dinge. Sie müssen es tun für sich allein.«

Eisenhut schüttelte den Kopf. Er ging herum, er schüttelte den Kopf. Worte, Worte, was sollten ihm all diese Worte nützen, frage er? Diese Hölle von Leben –. Aber er war schon hoffnungsvoller gestimmt.

»Ja,« sagte Grau, »es ist wahr, Sie haben die Hölle in sich und Sie sind sehr unglücklich. Ich weiß es und ich würde Ihnen gerne etwas abnehmen, könnte ich nur. Aber haben Sie nichts anderes als diese Hölle in sich, nichts anderes sonst?«

Grau griff sich an die Wangen. Er fühlte plötzlich, daß er Fieber hatte.

Eisenhut schlich an den Wänden entlang und schüttelte den Kopf. Hinter ihm ging das Hündchen; doch da Eisenhut sehr langsam dahin schlürfte, hatte es immer Zeit, sich nach jedem dritten Schritte seines Herrn zu setzen. Dann blickte es auf Grau und spitzte die Ohren. Eisenhut schüttelte den Kopf.

»Nein!«

Grau lachte leise. »Das ist ja nicht wahr!« sagte er, »Sie haben ja selbst – ach, haben Sie nicht gesagt, Sie freuen sich, wenn die Sonne scheint, Sie freuen sich, wenn Sie jene Dame im Walde treffen? Sie haben schöne Träume, wie das Leben sein könnte, Sie haben gewiß nicht nur häßliche Träume.«

Eisenhut lachte. Er träume oft, er fliege, es gehe dahin über die Lande – haha!

»Sehen Sie! Und auch wenn Sie wachen, haben Sie schöne Träume. Es gibt doch noch so viel Schönes für Sie!«

»Nein, nichts mehr.«

»Heute sehen Sie ja alles schwarz, Eisenhut. Aber Sie freuen sich doch über viele Dinge – wenn Sie zum Beispiel ein schönes Pferd sehen oder eine dicke hohe Eiche im Walde –«

»Ja, ja.«

»Sehen Sie! Ich könnte wohl stundenlang – stundenlang Dinge nennen, die Sie lieben. Es ist ja lange nicht so schlimm wie Sie es heute sehen, mein Freund, lange nicht so schlimm. Haben Sie denn keine Sehnsucht mehr? Kein Verlangen nach Glück, Freude, Friede? Wie?«

»Ja, doch!«

»Aber wer dieses Verlangen noch hat, der wünscht ja noch zu leben und das Leben ist ihm noch kostbar. Die Menschen, mein Freund, die mit dem Leben fertig sind, wünschen sich nichts mehr. Und nun muß ich Ihnen doch Ratschläge geben, obschon es mir anmaßend erscheint. Ich meine, vielleicht könnte ich Ihnen sagen, wie Sie es zu beginnen hätten – für den Anfang wenigstens – was meines Erachtens gut für Sie wäre. Sie brauchen das ja nicht zu befolgen – es ist ja nur meine Ansicht, die Ansicht eines jungen und unerfahrenen Menschen –«

»Ich befolge alles, alles!« sagte Eisenhut. Er öffnete die Tischschublade und nahm eine Handvoll Zigarren heraus, die er Grau reichte.

»Danke, danke!« sagte Grau. »Als ob Sie wüßten, wie leidenschaftlich ich rauche. Nun hören Sie –«

Grau entwickelte ihm seinen Plan. Vorerst müsse er seine Nerven kurieren, seine Gesundheit kräftigen. »Sehen Sie mich an, Eisenhut,« sagte Grau und fuhr erst fort als Eisenhut stehen blieb und ihn ansah. »Hören Sie wohl! Sie müssen ein neues Leben beginnen, und jeder Mensch muß das von Zeit zu Zeit. Von Grund auf neu! In jeder Beziehung! Jeden Tag um sechs Uhr heraus, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends harte körperliche Arbeit in den Steinbrüchen, wie ein Taglöhner – einen Monat lang. – Wie? – Ja, das müssen Sie! Einen Monat lang! Punktum, darüber wird nicht mehr gesprochen. Sie müssen sich den Schlaf erarbeiten. Danach, zwei Monate lang jeden Vormittag von sechs Uhr bis zwölf Uhr harte Taglöhnerarbeit in den Steinbrüchen, nachmittags frei. Ich will Ihnen Bücher geben, Bücher empfehlen. Ich will Ihnen gern etwas behilflich sein. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen regelrechte Stunden, natürlich kann ich es nicht ganz umsonst tun. Ich verlange für die Stunde eine Mark. Das ist Ihnen nicht zuviel? Schön! Sobald Sie etwas sicherer sind, fort auf Reisen.«

»Wohin?«

»Das alles wird sich finden. Wir werden alles noch genau besprechen. Ich deute Ihnen vorläufig alles nur an.« Grau lächelte, während er Eisenhut immerzu ansah.

»Ich werde alles tun – tun – tun – alles!« sagte Eisenhut.

»Gut. Wir werden auch zu besprechen haben, wie Sie sich einzurichten haben. Wir werden Ihre Wohnung hübsch herrichten und ich werde häufig zu Ihnen kommen. Wir werden uns gut unterhalten. Am besten wird es sein, wenn Sie vorläufig nicht mehr mit Professor Richter und Konsorten verkehren. Die passen nicht zu Ihnen. Ah, sehen Sie doch, jetzt funkelt die Sonne auf den Dächern. Bist du müde?«

»Nein, nicht im geringsten.«

»Gut, dann lasse deinen Schlitten einspannen und wir fahren hinaus in irgend ein Dorf und frühstücken da. Bist du einverstanden damit?«

»Wie Sie wünschen, ich bin dabei.«

Grau lachte. »Hörst du nicht, daß ich Du sage, wie? Freilich, es ist unverschämt, denn ich bin ja der Jüngere. Aber was kümmern wir uns um solche Höflichkeitsregeln, haha, jetzt, da wir so gute Freunde geworden sind. Wenn du aber nicht willst –«

Eisenhut lächelte und blinzelte. »Zigarren? Zigarren haben wir. Wir können gehen und den Kutscher wecken.«

Vielleicht ist nie in seinem Leben jemand gut gegen ihn gewesen, dachte Grau.

Sie fuhren hinaus in den Winter, der aufsteigenden Sonne entgegen, die Schellen klingelten am Schlitten –


Von diesem Ausflug kehrte Grau krank zurück. Er hatte sich in der Nacht vorher erkältet und fiel in ein heftiges Fieber, das mehrere Wochen lang anhielt. Eisenhut pflegte ihn wie ein Bruder.


 << zurück weiter >>