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Drittes Kapitel

Der Fremde stieg aus und er wäre beinahe in den großen Filzhut gestiegen, den der Lehrer vor ihm bis zur Erde schwang. Er lachte laut und fröhlich.

»Sie konnten sich wohl vorstellen, daß ich nicht verschwinden würde, ohne Ihnen zuvor unter vier Augen gedankt zu haben!« sagte er und half dem Fremden beim Aussteigen. Das heißt, er griff nach dem rechten, dem linken Arm, der Achselhöhle des Fremden, ohne ihn jedoch zu berühren. »Erlauben Sie Ihre Tasche – bitte – nur bis Sie richtig auf den Beinen sind.«

Der Fremde lächelte fein und gütig. »Danke, ganz und gar unnötig,« sagte er. Er hatte schöne Augen, denn sie waren golden. Ihr klarer und leuchtender Blick machte den Lehrer einen Moment lang betroffen. Der Fremde sprach leise, als ob er sehr müde wäre. Er lächelte und sah den Lehrer an, wie wenn er ihn schon Jahr und Tag kennte. Der Lehrer betrachtete ihn eine Weile, er bog sogar den Kopf zurück, um ihn genau ansehen zu können; dann stürzte er sich wieder auf die Reisetasche. Er strömte über von Freundlichkeit und Diensteifer.

»Erlauben Sie, nur bis Sie über die Geleise sind!«

»Bitte, oh, ich kann ja selbst –« sagte der junge Mann und zog mit einer geradezu lächerlichen Besorgnis die Tasche an sich, und verbeugte sich leicht gegen den Lehrer. Er blickte sich um. Er sah die Leute an, die über den beschneiten Bahnsteig eilten, er sah in die Höhe, nach rechts, nach links, er sog die Luft ein. Jede Kleinigkeit schien ihn zu interessieren.

Aber der Lehrer verneigte sich abermals, zog den Hut und ergriff endlich die Tasche. »Ich betrachte es als eine Auszeichnung, mein Herr!« sagte er. »Welche Kälte, nicht wahr? Eine verfluchte, angenehme Kälte, bei allen Teufeln! – Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen,« fuhr er fort, indem er unvermittelt seinem beweglichen, von vielen Falten durchzogenen Gesicht einen ernsten Ausdruck gab. »Das war eine echte Edelmannstat!« Seine kindlichen Augen leuchteten.

Der Fremde sah umher. »Aber die Sache ist ja nicht der Rede wert,« sagte er.

Der Lehrer lachte. »Da haben Sie recht! Klar gesehen ist es etwas ganz Selbstverständliches, ein Edelmann springt dem andern bei, ja, er springt jedem bei, der in der Klemme sitzt. Ganz einerlei wer es auch sei, und sei es der Teufel selbst. Aber trotz alledem, ich freue mich und danke Ihnen! Wenn Sie nun nicht dagewesen wären – nehmen wir an – oder keine zehn Mark gehabt hätten? – Hol’ mich der Teufel, wie wäre ich vor diesen Scherenschleifern und Schuhflickern dagestanden. Es juckt mich immer, sehen Sie, dieses Gesindel mit Worten niederzuschmettern, aufzudonnern – zum Beispiel, einmal wollte ein Lump von einem Gastwirt mich hinauswerfen, buchstäblich hinauswerfen aus seiner Bude. Er hetzte den Hund auf mich! Immer heran mit deinem gichtbrüchigen Hund, schrie ich und breitete die Arme aus – heran mit diesem Floh von einem Hund! – Was glauben Sie, was passierte? Es war eine Ulmer Dogge –«

»Nun?« fragte der junge Mann lächelnd.

»Haha, er riß mich zu Boden, buchstäblich, wie einen Pfahl rannte er mich um – aber, bin ich gegangen? – Nein – werde doch vor keinem Hunde ausreißen – hahaha!«

Auch der Fremde lachte.

»Dann hören Sie, einmal, da donnere ich also, donnere vor Wichten und Schneidern und sage, ich bin ein Mann, der ein Pferd an den Zähnen in die Höhe hebt und einen Kilometer weit damit springt. Hebe den Tisch, sagen sie, hebe diesen Tisch. Ich hob diesen Tisch, ein schwerer Tisch, mein Herr, ich hob ihn und brach mir einen Zahn dabei aus – sehen Sie hier – sehen Sie in der Mitte, diesen schönen Zahn, auf den ich immer stolz war, brach ich mir ab – aber ich hob den Tisch! Entschuldigen Sie einen Augenblick!« Er wandte sich ab und zog den Hut vor einer jungen Dame mit auffallend reichem schwarzen Haar und stolzem Profil, die, gefolgt von einem Diener in ledergelber Livree, die Geleise überschritt. Der Diener war mit Schachteln und Paketen beladen. »Guten Abend, gnädiges Fräulein!« sagte der Lehrer und verbeugte sich mit großer Würde.

Die Dame aber schenkte ihm nicht die geringste Beachtung.

Der Lehrer lachte gutmütig und wandte sich an den Fremden. »Sie ist sehr stolz? Haben Sie es bemerkt?« sagte er mit gedämpftem Baß. »Sie dankte mir nicht, aber ich grüße sie – erstens ist sie sehr schön und zweitens ist sie eine Freundin meiner Tochter Susanna! – Deshalb grüße ich sie und deshalb werde ich sie immer grüßen, wenn sie mir auch hundertmal nicht danken sollte. Denn, wer meiner Tochter Susanna nur zulächelt, den küsse ich auch schon, sehen Sie,« fügte er mit einem leisen zutraulichen Lächeln hinzu. »Geben Sie acht, eine Schiene. Welche Rattenfalle von einem Bahnhofe, nicht wahr? Sie kommen in Geschäften in die Stadt, mein Herr?«

Der Fremde, der der Dame mit dem auffallend reichen schwarzen Haar nachblickte, sagte: »Ja, man könnte es so nennen.« Und er nickte. Die Dame verschwand.

Der Lehrer berührte die Schulter des Fremden. »Verzeihung!« Er lachte und sein lautes, gesundes Lachen hallte in dem schmalen nach Papier riechenden Gange wieder, den sie durchschritten. »Es war mehr eine Verlegenheitsfrage als Neugierde. Ich hoffe aber, ja, ich wünsche Ihnen ganz speziell, daß Sie nicht lange hier zu tun haben werden. Eine recht elende Stadt, von bürgerlichem Volke bewohnt. Ohne Würde, ohne schöne Gebärde, ohne Ziel und Wunsch, mit verächtlichen Maßstäben. Eine Grube voller Ausschuß, Scherben von Menschen, wie in den meisten kleinen Städten, wo die geistige Konkurrenz gleich Null ist und dickranzige Bürger jeden Gedanken in Grund und Boden hineinlächeln. Sind Sie Sammler von Abnormitäten, so werden Sie auf Ihre Kosten kommen. Gewissermaßen ein Museum von Bürgerlichkeit und Dummheit. Aber was wollen Sie, verehrter Herr: Ein Kork kann sich so schwer machen wie er will, er sinkt nicht unter! Dies ist wiederum eines meiner dreitausend Sprichwörter über den Bürger.« Der Lehrer lachte zufrieden; dann fuhr er fort: »Da haben Sie zum Beispiel den geistlichen Rat, fett wie ein Schwein – aber, ich bitte Sie, welch prächtiges kluges Geschöpf ist ein Schwein im Vergleich zu ihm! Er treibt Teufel aus, am lichten Tag und verbrennt sie auf einem Spirituskocher. Da haben Sie wimmelnde Beispiele. Der Bürgermeister allein – von einer Essenz aus ihm gewonnen, würde ein einziger Tropfen hinreichen, ein Genie augenblicklich zu verblöden. Solch eine Stadt ist das! Geist ist alles, sehen Sie, auf Moral pfeife ich!«

Der Lehrer war wieder im Schwunge. Er zog den Hut in die Stirne, so daß sein halber Kopf darunter verschwand, sprach, gestikulierte, lachte, und je länger er sprach, desto glücklicher und zufriedener sah er aus. Er streckte die Arme bald gerade aus, bald gegen den Himmel, er wiegte sich hin und her und drehte sich auf dem Absatze.

Vor dem Bahnhofe wartete eine Art Wagen, einer großen Hutschachtel ähnlich, die ganz oben ein winziges Fensterchen hatte. Aus dem Fenster blickte das fette, zufriedene Gesicht des Viehhändlers, der sich im Zuge so gut amüsiert hatte. Eine Zigarre glimmte in seinem Munde und sein Gesicht füllte das ganze Fenster aus. Auf dem Bock des Wagens saß ein dunkles Bündel und dieses Bündel rief: »Weißer Elefant?«

»Nein, danke!« antwortete der Fremde, der in der eisigen Luft heftig zu zittern begann. »Ist es denn weit zur Stadt?«

»Höhö! Eine halbe Stunde! Der Herr fahren also nicht mit? Hü!«

Die Hutschachtel rollte davon und die glimmende Zigarre des Händlers erlosch in der Nacht wie ein kleines Fünkchen.

Der Lehrer lachte herzlich. »Sie können sich doch denken, verehrter Herr,« rief er aus, »daß der Bahnhof weit außerhalb der Stadt liegt! Man befürchtete, die Häuser würden einfallen. Ich werde mir erlauben, Ihnen in aller Eile eine Skizze von dieser Stadt zu entwerfen und Sie werden mir in einer Woche, nein, morgen schon sagen können, ob ich ein Talent zu Schilderungen habe oder nicht. Diese Stadt also –«

»Verzeihung!« unterbrach der Fremde den geschwätzigen Lehrer. »Darf ich mir eine Frage erlauben? Hier in der Stadt hat sich ein Unglück ereignet, nicht wahr?«

»Ja.«

»So viel ich hören konnte, ein Mädchen hat sich das Leben genommen?«

»Ja – ja – richtig!« Der Lehrer blickte den jungen Mann prüfend von der Seite her an. »Haben Sie denn nicht geschlafen?« fragte er, ohne seine Überraschung verbergen zu können.

»Nein!« Der Fremde lächelte fein. »Ich habe nicht geschlafen, ich habe jedes Wort gehört.«

»Ah!« Das größere Auge des Lehrers erweiterte sich vor Erstaunen, das kleinere prüfte den Fremden mit einem langen scharfen Blick.

»Aber Sie haben sich schlafend gestellt?« sagte der Lehrer langsam, gleichsam für sich; und er fügte rasch hinzu: »Ja, ich habe dies und jenes gehört. Interessiert Sie der Fall?«

Der junge Mann nickte. »Ich habe das allergrößte Interesse!« sagte er.

Der Lehrer erzählte. »Was für merkwürdige Dinge auf der Welt passieren!« schloß er. »Nicht wahr?« Er lachte leise. Wenn man des Lebens komischen Spuk recht ins Auge fasse, murmelte er, indem er sich den schwarzen Bart strich, man müsse die Folgerung ziehen, daß Gott wahnsinnig sei.

Der Fremde blickte den Lehrer mit klaren, ernsten Augen an. »Sie kennen vielleicht die unglückliche Mutter des Mädchens?«

Der Lehrer erstaunte immer mehr. Er trat einen Schritt zurück und vermochte nicht sofort zu antworten. Aber er faßte sich und lächelte. »Diese kleine, alte Frau?« sagte er und blickte den Fremden mit einer gewissen Scheu an, die immer wieder in seinen Zügen auftauchte, so oft er sie auch zu unterdrücken versuchte. »Sie ist eine Eierhändlerin, wissen Sie, geht herum in den Dörfern und kauft Eier ein, um sie in der Stadt zu verhandeln. Ein armes Dingchen, sie wohnt neben dem Armenhaus, dicht daneben, fast im Armenhaus selbst, im Hexengäßchen wohnt sie, jedes Kind kennt sie.«

»Danke!« sagte der Fremde und streckte dem Lehrer mit einer offenherzigen Bewegung die Hand entgegen. »Danke Ihnen aufrichtig!« Die Herzlichkeit in seiner Stimme besiegte die sonderbare Scheu des Lehrers vollständig. Ein Lächeln verklärte sein männliches, wildes Gesicht. Er streckte ihm beide Hände hin.

»Verehrter!« rief er aus. »Verehrter! Es ist mir eine große Freude, Ihnen auf meiner Wanderschaft begegnet zu sein. Ich hoffe, das Glück wird nicht ohne Nachwuchs bleiben, das heißt, Sie verstehen mich wohl, ich hoffe, daß ich Sie wiedersehen werde. Vielleicht schenken Sie mir die Ehre Ihres Besuches? Ich bin in Acht und Bann, ohne jeglichen bürgerlichen Kredit, ein entlassener Volksschullehrer – sage es gleich, ohne zu befürchten, daß Sie das abhalten könnte mein Haus zu betreten.« Und als der Fremde mit herzlichen Worten für die Einladung dankte und seinen Besuch zusagte, fügte er mit strahlendem Gesichte und aufrichtiger Freude flüsternd hinzu: »Ah, herrlich! Mein Heim ist bescheiden, aber die Flagge des Glückes flattert darüber. Sie werden Mütterchen kennen lernen, meine Frau! – Mütterchen, so heißt sie in der ganzen Stadt – haha – Sie werden sie kennen lernen, so klein wie sie ist! Ich bezahle Ihnen hundert Flaschen Wein, wenn Sie sich vorstellen können, wie klein sie ist und wie leicht! Oft, wenn ich in den Feldern herumliege, denke ich, wie klein ist sie doch – wie klein und leicht – wie ein Kork. Und Susanna werden Sie kennen lernen – meine Tochter – ein herrliches Geschöpf, herrlich an Körper und Geist – eine Art Heldin – nun, Sie werden sie ja sehen! Ich bin eben auf dem Wege zu ihnen, zu Mütterchen und Susanna, seit einem Jahre bin ich nicht mehr da gewesen – aber plötzlich hat mich die Sehnsucht gepackt, so daß ich sogar den Zug nahm, was seit sechs Jahren nicht mehr passierte, ich mache alles zu Fuß –«

»Sie arbeiten also auswärts?« fragte der Fremde.

»Wie?«

»Sie arbeiten also auswärts, nicht hier am Platze?«

Der Lehrer gab seinem Kopfe einen Ruck und beugte das Ohr lauschend herab. »Ah!« rief er, »arbeiten?« Er schüttelte langsam den haarigen Kopf und seine Augen glühten. »Ich hasse die Arbeit! Ich bin ein freier Mann, ein Wanderer, wandere umher, jahraus – jahrein – in Sturm und Wetter, in Sonne und Tau – ein Bruder der Vögel, ein Freund der Bäume, ein Sohn der Sonne« – hier legte er die Hand aufs Herz und seine Augen glänzten schwärmerisch – »ein Schrecken für alle eingesessenen Bürger! Ein Komet, der unterwegs ist, wenn Sie wollen. Nein, ich arbeite nicht, junger Freund, haha, was Ihnen doch einfällt!« Er betrachtete den Fremden mit einem gönnerhaften, väterlichen Blick. »Meine Familie lebt in angenehmen Verhältnissen – sozusagen in sehr angenehmen Verhältnissen. Ich hoffe, Sie werden den Besuch nicht vergessen, gleich hier beim Bahnhof!«

»Auf keinen Fall.«

Der Lehrer sah den jungen Mann lange an, gleichsam, um sich sein Antlitz für alle Zeiten einzuprägen; er bewegte den Kopf in kleinen Rucken, um genauer zu sehen und tiefer in die Züge eindringen zu können. Dann schüttelte er leicht den Kopf.

»Sie sind ein eigentümlicher Mensch!« sagte er leise. »Ich habe auch Ihr Gesicht noch nicht gesehen, alle anderen Gesichter habe ich ja tausendfach gesehen. Ich schätze es mir zur Ehre, Ihnen begegnet zu sein. Allezeit Ihr Diener!« Darauf nahm er den Hut ab, drückte ihn gegen die Brust und verbeugte sich. »Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen zum Abschied vorstelle!« sagte er in tiefstem Baß. »Heinrich Löwenherz, ein fahrender Gesell!«

Der Fremde nahm den Hut ab und verbeugte sich seinerseits.

»Richard Grau,« sagte er.

Der Lehrer verschwand wie ein Phantom irgendwohin und der Fremde sah ihm mit einem nachdenklichen und erstaunten Blicke nach. Aber dieser Heinrich Löwenherz hatte eine schöne Empfindung in ihm zurückgelassen, und er nahm sich vor, ihn sobald als möglich aufzusuchen.


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