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Fünftes Kapitel

»Ah!« schrien die Herren und fuhren in die Höhe. Der dicke Chinese schwang den Schirm wie eine Fahne und der Redakteur verneigte sich tief und ruckweise, daß sein wirres Haar über die Stirne flog. Hurra! Hoch die Damen! Hoch! Ein Stuhl klapperte auf dem Boden und ein Weinglas fiel auf geisterhafte Weise ganz langsam von selbst um und zerbrach. Adjunkt Kaiser schlief friedlich in seinen Hemdärmeln; da keine Karte mehr gekommen war, war er eingeschlafen.

Der Rauch wirbelte zur Türe hinaus, so sah es aus als kämen die Mädchen aus einer Wolke. Sie standen alle drei zögernd beisammen und hatten Furcht der Gesellschaft nahe zu kommen, die lärmend auf sie eindrang.

»Wir wollten einmal sehen, wie die Herren sich amüsieren!« sagte Adele und blickte umher. Sie bewegte den Fächer in der Hand und der Ärmel ihres Kostüms fiel herab, so daß man ihren weißen vollen Arm sah. In dem roten Kostüm, mit den schwarzen Haaren, den hellen Augen sah sie imponierend und fremdartig schön aus. Rosen schmückten das Haar, die Schulter, den Gürtel. Sie lachte. Ihre Zähne waren so weiß, ihre Lippen waren so rot. Aber ihre Augen waren ohne Erbarmen, stechend und hart.

Sie blickte auf Grau, sah aber sofort weg, sie streifte Eisenhut mit einem raschen Blicke.

Eisenhut hatte sich langsam erhoben als Adele sichtbar wurde. Er reckte den Spitzbart vor, hörte auf zu blinzeln und machte die Augen scharf, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich im Zimmer stand. Er wurde fahl, richtete sein Kostüm, strich sich die Haare zurecht und starrte unausgesetzt auf Adele. Auf seinen Lippen erschien ein verzweifeltes Lächeln. Er ließ sich auf das Sofa nieder, langsam, um kein Geräusch zu machen, und versteckte sich hinter dem jungen Hennenbach, der mit Klara Sinding plauderte.

Plötzlich lachten alle. Der junge Lehrer nämlich, der unter dem Tische schlief, erwachte und machte sich auf allen Vieren aus dem Staube. Er kroch zur Türe, stieß sie mit dem Kopfe auf und verschwand.

»Ja, was ist denn das?« schrien die Mädchen.

»Das ist unser Hund!« sagte Herr von Hennenbach, der seine Trunkenheit geschickt hinter seinen sicheren gesellschaftlichen Formen verbarg. »Er geht um für die Damen zu bestellen!«

»Hahaha!« lachten die Schwestern Sinding und Klara blickte Herrn von Hennenbach mit schwärmerischen, glänzenden Augen an; sie verriet sich mit einem Blicke.

Professor Richter ordnete geschickt wie ein Kellner die Gesellschaft. Gläser! Die Damen sollten sich zu Hause fühlen, höhö! Gläser für die Damen.

»Nein, keinen Wein, um Gottes willen!« rief Adele. »Vielleicht könnte man ein Glas Selters haben.«

»Selters! Selters!«

Auch die Schwestern Sinding wollten nichts mehr trinken. »Selters, ja.« Sie saßen mit glühenden Wangen da.

Adele lachte laut auf. »Hier ist er ja, unser Herr Eisenhut!« rief sie und zeigte auf Eisenhut. »Bedenken Sie nur, meine Herrschaften, hundert Mark war ihm zuviel für ein Glas Sekt, an dem ich nippte!«

»Ah, oh – oho!« riefen die Herren rings im Kreise.

Eisenhut bewegte die Lippen. Er blinzelte. »Ich habe ja – habe ich nicht hundert Mark bezahlt – ich wollte Ihnen die Hand geben –«

Aber Adele war grausam. Sie hörte ihn nicht, sie erzählte die Geschichte von den hundert Mark, die ganze Szene und ahmte Eisenhuts Erstaunen, Schrecken und Schwanken nach. Sie sprach sehr rasch und fächelte sich unaufhörlich Luft zu. Oh, wie entsetzlich heiß es sei! Ob man die Fenster nicht –

»Die Fenster auf – zum Donnerwetter! Für die Damen –«

Der Redakteur stand schon eine ganze Weile da, das Glas in der Hand und klappte mit den Lidern wie eine mechanische Figur. Offenbar hielt er eine Rede, aber niemand nahm Notiz von ihm.

»– des Lebens heitere Zierde – ehret die Frauen, sie flechten und weben – hoch die Damen! –« murmelte er – »hoch! Ein Kranz schöner Jungfrauen, der des Festes Tafel schmückt – könnte ich jeder ein Kränzchen von Maienblumen auf das holde Haupt legen –« Plötzlich liefen dicke Tränen über sein Gesicht. »Hoch die Damen, hoch!«

Die Herren fielen stürmisch ein.

Spielen? Ja, natürlich wollten sie spielen. Alle! Man stürzte sich kopfüber ins Spiel, schrie und lachte. Die Damen würden es sofort können, eine Kinderei! Der Adjunkt schlief immer noch. Amtsrichter Leutlein, der seine schläfrige Miene abgelegt hatte, tropfte ihm Wein auf die Glatze, und er erwachte. Er starrte lange Zeit geistesabwesend auf die Mädchen, dann sagte er feierlich: »Guten Abend!«

»Es ist ganz herrlich hier!« rief Adele. »Kann ich dem Klub beitreten? Ein Glas Bowle nun, Herr Doktor, bitte.«

»Bowle, ein Glas Bowle, rasch!« kommandierte der dicke Chinese.

»Ja, also, verehrter Herr Grau –« Er müsse doch zugeben – selbst wenn er mit allem und allem unzufrieden sei – er müsse doch gestehen, daß die Wissenschaft in verschiedene Dinge Klarheit gebracht habe, eine ganz unglaubliche Anzahl von Vorurteilen, den schwärzesten Vorurteilen, habe sie zerstört, Aberglaube und naive Vorstellungen habe sie in Grund und Boden hineingeritten –

»Natürlich gebe ich das zu. Ich habe den allergrößten Respekt vor der Wissenschaft und ziehe den Hut vor ihren großen Männern. Wo habe ich denn behauptet, daß ich, ein kleiner und einfacher Mensch – das wäre ja geradezu kühn –«

»Gut, gut! Der ganze Wunderglaube, zum Beispiel, zum Teufel ist er! Pardon! Aber er ist zum Teufel, einfach wie weggeblasen. Kein Kind kann heutzutage mehr glauben, daß jemand Wasser in Wein verwandelt oder fünftausend Halunken mit einem Groschenkipf speist. He?«

»Natürlich, das ist Fabel!«

»Bravo, bravo! Also endlich –«

»Im übrigen,« fügte Grau hinzu, »wer weiß, ob es nicht doch ein wahres Geschehnis ist? Wie schön ist aber jenes große Gefühl, jenes Verlangen nach dem Außerordentlichen, jene Sehnsucht nach dem Wunderbaren? Nicht wahr? Ergreifend ist das! Und oft glaube ich es auch, ich glaube es. Ich bin geneigt, das Unglaublichste zu glauben, gerade weil ich es nicht begreifen kann –«

»Nun aber, Verehrter, der gesunde Menschenverstand – wo bleibt da der gesunde Menschenverstand? Ich bitte, Ehrwürdiger, der gesunde Menschenverstand muß doch auch auf seine Rechnung kommen?«

Grau lächelte. »Der gesunde Menschenverstand?« sagte er. »Was ist es eigentlich damit? Ich muß Ihnen gestehen, Herr Professor, daß mein Verstand, obwohl ich annehme, daß er vollständig gesund ist, mich sehr häufig im Stiche läßt. Derselbe gesunde Menschenverstand hat schon ganze Völker und Zeitalter betrogen. Legen Sie mir einen Kirschkern her und behaupten Sie, es wird ein Baum daraus werden mit Blättern, Blüten, Kirschen, verzeihen Sie, mein gesunder Verstand wird es nicht für möglich halten. Sagen Sie mir, die Erde fliegt mit einer ungeheuren Geschwindigkeit von so und soviel Meilen um die Sonne, ich werde sagen, entschuldigen Sie, mein gesunder Menschenverstand begreift das nicht. Ich werfe einen Stein, der Stein fliegt, ich begreife das nicht, nicht einmal das. Ich muß Ihnen leider gestehen, daß ich mich auf meinen gesunden Verstand nicht einmal bei den einfachsten Dingen verlassen kann, von komplizierteren gar nicht zu sprechen.«

Hm, hm.

»Aber Verehrter, Sie geben trotzdem zu, daß Ihr gesunder Menschenverstand den Wunderglauben abweist, nicht wahr? Man soll nur die Wissenschaft arbeiten lassen – Hölle und Tod! – sie wird ihr Werk der Aufklärung schon vollbringen. Auch die Schöpfung, wie die Bibel sie darstellt, das ist wohl eine Fabel oder nicht?«

»Natürlich ist das eine Fabel, aber –«

Redakteur Heinrich stand auf und drückte Grau die Hand. »Redefreiheit für jedermann! Wir sind unter uns!« sagte er mit einem gönnerhaften Schmunzeln. »Sie können sich nach Belieben und ganz frei äußern, niemand wird ein Wort erfahren. Ein Wort, ein Mann!«

»Aha, die Damen haben Glück! Ich habe diesmal nicht gesetzt, Eisenhut, schreie nicht so! Ich erlaube mir die Behauptung auszusprechen, daß, wenn die Aufklärung, die Wissenschaft in alle Schichten und Poren des Volkes gedrungen ist – all der Zauber, Aberglaube und Irrtum werden wie Wachs schmelzen – ja was dann? – Ich erlaube mir zu behaupten, daß die Religion dann bankerott ist, einfach. Sie kann ruhig die Bude schließen, ruhig! Ich bitte wegen des starken Ausdrucks um Entschuldigung, aber es ist so, bei allen Teufeln, um kein Haar anders ist es.«

»Bitte,« sagte Grau, »es ist ja nur eine Formsache, die nichts zu sagen hat. Also, das glauben Sie? Aber ich glaube, je mehr die Wissenschaft erkennen wird, desto mehr wird sich das religiöse Gefühl steigern, es wird nicht verschwinden, es wird im Gegenteil wachsen, ungeheuer anwachsen. Denn die Wissenschaft wird Wunder um Wunder aufdecken, es wird alles verwirrender und verwirrender, unfaßbarer werden. Der Gottesbegriff verliert natürlich die einfache naive Form, er wird sich mehr und mehr verfeinern, vergeistigen; je wissender und größer der Mensch wird, desto erhabener und größer und unfaßbarer wird sein Gott. Das Mysterium wird gewaltiger, je mehr man in dasselbe hineinsieht –«

»Ich glaube, es bereitet sich eine Zeit vor mit einem so tiefen religiösen Gefühl, daß es dem Wahnsinn gleich kommt.«

»Glauben Sie, Herr Grau! Wenn man aber einem Menschen begreiflich macht, daß vor etlichen Millionen Jahren der Mensch noch gar nicht existierte? Wie? Was denn, was denn? Gott?«

Grau sah ihn erstaunt an. »Wenn es jetzt keinen Menschen gäbe,« versetzte er lächelnd, »so gäbe es allerdings kein menschliches religiöses Gefühl. Aber es handelt sich ja bei dieser Frage weniger um die Existenz des Menschen als um das Dasein Gottes. Ob der Mensch existiert und seit wann, das ist ja nebensächlicher Natur.« Grau lächelte. »Es ist merkwürdig wie sehr Sie an die Naturwissenschaften glauben,« fuhr er fort, »ich verehre die modernen Naturwissenschaften und verdanke ihnen zum größten Teil meiner Erziehung – allein so unumstößlich wahr sind ihre Thesen nicht, glaube ich. Vielleicht lacht man in einigen hundert Jahren über einen Anhänger der jetzigen Entwickelungslehre ebenso, wie man in unseren Tagen über jemand lacht, der noch glaubt, der Mensch sei von Gott aus Erde geformt worden. Bitte, erschrecken Sie nicht, ich selbst bin nicht dieser Meinung, sondern ich finde die Behauptungen der modernen Wissenschaft für höchst annehmbar. Aber was soll das sagen, nicht wahr?«

»Wie!« Der dicke Chinese lachte und schrie. »Alles, alles mein Herr, alles! Ich bitte Sie, die Konsequenzen – die Konsequenzen! Fassen Sie die Konsequenzen ins Auge!« heulte er triumphierend.

Erstens also sei – und zweitens –

Adele lachte. Sie hielt die Bank und gewann fortwährend.

»Nun auf das Wohl der Herren!« rief sie und erhob das Glas. Sie sah wiederum Grau einen Augenblick lang eigentümlich an. Dann lächelte sie. »Auf das Wohl Susannas!« sagte sie. »Auf gute Freundschaft!« setzte sie hinzu und lächelte wieder.

»Auf gute Freundschaft!«

Eisenhut hatte keinen Wein im Glase und bis er es füllte, war es zu spät. Er sagte höflich: »Auf die Gesundheit der Damen!« und stürzte das volle Glas hinunter. Dann lachte er. Nur Maria Sinding sagte: »Zum Wohlsein!«

»Es ist sehr unterhaltend hier!« sagte Adele. »Alles Ernstes, ich will Mitglied des Klubs werden. Ja! ich will die kurzen Monate noch genießen.«

Wann denn die Hochzeit sei?

»Im Mai!« antwortete Adele lachend. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wer weiß es?« fügte sie hinzu. »Niemand weiß es. Seht her, wieviel ich gewonnen habe! Ich habe Glück im Spiel! Faites vos jeux, messieurs!«

Professor Richter verlor endlich die Geduld. Ja, ein merkwürdiger Herr war dieser Herr Grau. Wie eine Katze fiel er stets auf die Füße. Nun er zugegeben hatte, daß der Mensch vielleicht nichts sei als das letzte Glied einer langen Entwickelungsreihe – ein Produkt der Auslese und Zuchtwahl – nun war alles noch viel wunderbarer für ihn. Er bewunderte den feinen Geschmack und Instinkt der Wesen, immer das Schönere und Zweckmäßigere auszuwählen, er bewunderte das Resultat. Nein! Man könne nicht mit ihm diskutieren.

Aber nach einer Weile begann Professor Richter von neuem die Diskussion. Er bearbeitete Grau nach allen Regeln und von allen Seiten. Die ganze moderne Wissenschaft ließ er aufmarschieren. Endlich – ach, endlich!

»Nun, verehrter Herr,« murmelte er und rieb bedächtig die großen fetten Hände aneinander, »die Schlußfolgerungen sind höchst einfach. Ja, das ist ja erstaunlich, was Sie nun alles zugegeben haben, haha! Sie sind ja gar kein solch altmodischer Mensch, Donner und Doria – nein, Sie sind ja ganz modern. Und beschlagen sind Sie ebenfalls, nicht wahr, Doktor, wie er doch die Literatur kennt, unser Herr Grau! Aber nun erlauben Sie, daß ich zusammenfasse! Wenn Sie mir all das zugeben und behaupten all das ändere ja an der Sache nichts – wenn Sie mir zugeben, daß die Seele des Menschen aus der Tierseele entstanden ist, ein Komplex von Gehirnfunktionen – wenn Sie mir das zugeben, wenn Sie mir zugeben, daß jedes Empfinden von einem physiologischen Vorgange begleitet sein muß – so erlischt also die Seele – sie hört auf, sie ist fort und verschwunden, in die Binsen ist sie gegangen – in dem Augenblicke, da die Blutzirkulation im Gehirn stockt! Das ist doch logisch, nicht wahr? Ja, zum Henker, jeder Idiot begreift das. Aber dann leugnen Sie ja die Unsterblichkeit der Seele, haha! Vollständig, mein Verehrter, jawohl – Sie lachen – aber Sie taten es, gerade vor zwei Minuten. Prosit! Ja, prosit, Sie sind ein moderner Mensch, durch und durch, einen Orden sollen Sie haben!«

»Haben Sie gesehen, daß alle herblickten, als Sie das kleine Wort Unsterblichkeit aussprachen?« entgegnete Grau. »Es fiel mir auf. Ja, das nur nebenbei. Was sagten Sie? Was habe ich doch getan? Aber auf Ihre Gesundheit, auf die Gesundheit der Damen – gewiß werde ich heute einen Rausch bekommen, so oft schenkt mir der liebenswürdige Herr Doktor ein! Ja, was habe ich doch nur getan, daß Sie so triumphieren, Herr Professor? Triumphieren Sie, bitte, nicht zu früh. Ja trotzdem, trotz alledem glaube ich an die Unsterblichkeit der Seele. Ich werde Ihnen nicht mit Gründen kommen, denn so unzulänglich meine Worte wären, so unwürdig wären Worte diesem Gegenstande. Auch finde ich es häßlich, jedes Geheimnis mit einem Worte zu vernageln. Wie würde es sich doch ausnehmen, wollte ich sagen, all die Millionen Schwingungen, Strahlen, die in jeder Stunde von Ihnen ausgehen und ja gewiß fortdauern müssen, sie zusammen – oder die Seele könnte sich irgend eines unbekannten Mediums bedienen – wie häßlich würde das doch klingen und nichts sagen obendrein. Nein, meine Herren, ich fühle es und ich denke auch, nie hätte ein Mensch diesen Gedanken fassen können, niemals, wenn es nicht etwas Wahres mit ihm wäre!«

Grau lächelte und einen Augenblick lang leuchteten seine Augen wie dunkles Gold.

»Ja,« wiederholte er, »wie hätte doch solch ein Gedanke in den menschlichen Kopf kommen können, wenn er nicht wahr wäre!«

Aber da höre jede Diskussion auf. Herr Grau sei ein ganz modern denkender Mensch, aber sobald man gewisse Dinge berühre – haha!

»Diese Dinge lassen sich eben nicht diskutieren!« erklärte Grau lächelnd.

Dr. Nürnberger rollte sich eine Zigarette und sagte: »Aber der Mensch hat ja auch den Gedanken der Sterblichkeit der Seele fassen können, also muß es auch damit eine gewisse Richtigkeit haben.«

»Gewiß,« erwiderte Grau, »der Irrtum ist verzeihlich, denn wir sehen den Tod stets ringsum und es ist auch möglich, daß ein Teil – jener Teil, Herr Doktor – der Seele stirbt – – – – Aber sehen Sie doch, was ist mit Herrn Eisenhut?«

Eisenhut nämlich deutete mit dem Zeigefinger auf den Tisch und schrie unaufhörlich: »Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Ich lasse mir das nicht bieten!«

»Er läßt sich das nicht bieten!« ahmte der Adjunkt Eisenhuts heulende und pfeifende Stimme nach.

»Bitte, bitte!« sagte Adele und lachte gereizt. »Herr Eisenhut weiß es besser, natürlich!«

Jemand hatte Adele grausam genannt, weil sie Eisenhut soviel Geld abnähme. Sie hatte ganze Rollen von Geld vor sich liegen. Man könne doch sehen, daß Eisenhut es aufs Verlieren anlege.

»Er mag spielen, wie er will!« antwortete Adele lachend. »Wenn es ihm Freude macht zu verlieren, so mag er ruhig verlieren. Ich für meine Person freue mich, wenn ich gewinne, und ich freue mich, wenn jemand verliert. Wer hat mich doch grausam genannt? Sie, Herr Assistent Pechmann? Danke! – Ja,« fügte sie in scherzendem Tone hinzu, »gewissermaßen haben Sie recht, ich bin vielleicht grausam. Zum Beispiel, ich hasse die Kranken und die Krüppel, ob sie nun bucklig sind oder hinken, einerlei, und oft denke ich, man sollte sie eigentlich vergiften, das beste wäre es! Ist das nicht grausam? Und dann, schon als Kind war ich recht unangenehm, ich habe meine Amme in die Nase gebissen und später liebte ich es, den Mücken den Kopf abzureißen –«

Sie sagte es in scherzendem Tone und gab dabei die Karten; niemand beachtete es weiter, aber Eisenhut begann plötzlich sich ganz unsinnig zu gebärden.

»Das ist nicht wahr.« schrie er und pochte auf den Tisch. Gelächter.

»Wie beliebt?« fragte Adele und richtete die hellen Augen auf ihn.

Eisenhut schrie: »Niemals haben Sie Mücken die Köpfe abgerissen, das ist eine Lüge. Ich habe es in einem Buche gelesen!«

Jemand fragte, ob er denn überhaupt je ein Buch gelesen habe?

Der Redakteur streckte beide Hände gegen Eisenhut aus: »Friede sei mit dir!« Aber der dicke Chinese schob ihn zur Seite und faßte Eisenhut an der Schulter. »Eisenhut!« rief er. »Ruhig, oder du fliegst hinaus! Du brauchst Damen lügen zu strafen! Eine Dame lügt nie! Verstanden, du Erzlügner!« Ja, die Damen müßten den unangenehmen Zwischenfall entschuldigen.

Eisenhut machte sich frei und erhob sich. Er war weiß wie eine getünchte Wand. Er atmete tief und versuchte zu lächeln. Seine Lippen zitterten, das Haar klebte an seiner Stirn. Er ließ die Augen im Kreise umherirren, von einem zum andern, und seine Lippen bebten stärker: Feinde, lauter Feinde!

»Wie sagen Sie?« sagte er, stotterte er. »Ich stehe – ja, was soll das heißen – was soll das heißen! frage ich?« Er rang die Hände und alle sahen ihm zu, wie zu einem Schauspiel. »Was soll das heißen,« fuhr er zitternd und bleich fort. »Ich bin wohl kein Mensch? Alles was recht ist – es ist zuviel! Erzlügner? Wie – alles was recht ist – Sie – Sie haben – dieser Doktor dort, Herr Dr. Nürnberger – er hat Herrn Grau heraufgelockt. Dr. Nürnberger ist gegangen um Herrn Grau heraufzuholen, wir wollen ihm die Würmer aus der Nase ziehen, er sagte es, Professor Richter – es wäre ein Vergnügen, zum Scherz ein Gespräch mit ihm anzufangen – er hat es gesagt. Alles lügt hier, alles macht sich lustig hier, so ist es. Eine Dame lügt nie? Er sagt es, hier, Herr Professor Richter, aber vorhin hat er gesagt, jede Frau wäre ein Sack voll Lügen und die Frauen lügen so, daß sie sogar manchmal die Wahrheit sagen. Ich habe es gehört, alle haben es gehört –«

Alle Teufel! Ruhe!

Aber Eisenhut schrie nur um so lauter. »Das lasse ich mir nicht bieten. Erzlügner? Muß ich mir denn –«

»Hören Sie mal! Eisenhut!« sagte Professor Richter und faßte Eisenhuts Arm. Aber Eisenhut stieß ihn zurück, er stieg auf das Sofa.

»Es hat gar keinen Sinn!« sagte er. »Gar keinen Sinn – Fräulein von Hennenbach hat mich verhöhnt – vor allen Leuten – ich habe aber hundert Mark bezahlt für ein Glas Sekt – sie hat mir nicht einmal die Hand gegeben – dann zerbrach ich ein Glas – Ja, ich kam hierher und freute mich. Ich freute mich so sehr. Ich war allen dankbar, euch allen – aber wie begann es. Es begann mit den hundert Mark! Ich hasse euch alle, alle! Ich hasse euch, ihr Hunde und Lügner! Und auch Sie hasse ich, Fräulein von Hennenbach – mehr als alle! Bin ich geizig, bin ich schmutzig, ich? Wie? Ihr alle seid mir Geld schuldig, sechzehntausend Mark seid ihr mir alle zusammen schuldig – bin ich geizig? Ihr lacht?!« Er fuhr rasch in die Tasche und zog den Pack Banknoten heraus. »Es ist mir alles einerlei – hier, ich zerreiße das Geld – alles, alles – nehmt es, ihr Bettler! – ich hasse euch!«

Man schrie, lachte und stieß Eisenhut vom Sofa herunter.

Adele sagte: »Lassen Sie ihn doch! Er klebt die Stücke ja morgen doch wieder zusammen.«

Eisenhut richtete die Blicke auf sie. Er schloß einen Augenblick lang die Augen und hatte das Aussehen eines Menschen, der das Gefühl hat, in die Tiefe zu stürzen. Er legte auch die Hände auf den Tisch um sich zu stützen.

»Sie sagen das!« sagte er mit böse funkelnden Augen. »Sie! Nach all dem was vorgefallen ist!«

Adele stand auf. »Herr Eisenhut!« sagte sie und erbleichte.

Eisenhut machte eine verzweifelte Gebärde. Er blickte Adele an und plötzlich änderte sich der Ausdruck seines Gesichtes vollständig. Er errötete und wurde wieder bleich. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er rang die Hände und schrie: »Ich bin schlecht, schlecht, ich bin – seht alle her, wie schlecht ich bin! Ja, bei Gott, bei allen Göttern, verzeihen Sie mir, Fräulein von Hennenbach! Ha! Oh, was habe ich gesagt! Was habe ich gesagt? Was sollte denn vorgefallen sein? Daß Sie freundlich zu mir waren und mich einluden zum Tennis? Jeder weiß, daß nichts vorgefallen ist. Ich beleidigte Sie – ich wollte Sie beleidigen, das ist es! Sie müssen es vergessen. Sie haben recht, ich habe ja schon öfters Banknoten zerrissen und wieder zusammengeklebt. Sie sagten die Wahrheit – ja, bei Gott –«

»Eisenhut!« sagte Grau.

Eisenhut blickte ihn an und suchte mit seinen glitzernden verzweifelten Blicken in Graus Augen. Dann lächelte er spöttisch. »Herr Eisenhut – ich bitte recht sehr!« sagte er und deutete auf den Tisch. »Euch allen sage ich –«

Man lachte wiederum und schrie ihm zu doch endlich ruhig zu sein.

»Ich will nicht!« keuchte Eisenhut.

Der dicke Chinese umklammerte Eisenhuts Arm und sagte: »Jetzt bist du ruhig, du bist ja vollständig betrunken!«

Eisenhut spie ihm ins Gesicht.

»Lassen Sie mich in Ruhe!« rief er. »Wer gibt Ihnen das Recht mich zu duzen, he? Ich fordere Sie zum Duell. Auf Pistolen fordere ich Sie, Sie Schuft!«

Alle Wetter! Ruhe!

Der Chinese sprang zurück und besann sich einen Augenblick. Er blickte auf die Mädchen, dann lachte er wütend.

Eisenhut aber schrie: »Haben Sie gehört, Sie Schuft und Heuchler! Haben Sie es gehört? Oder sind Sie zu feige, wie, wie, wie?«

»Ich nehme die Forderung mit Vergnügen an!« sagte der Chinese und verbeugte sich vor Eisenhut. »Auf Kanonen oder Pistolen, wie Sie wünschen!«

Man nötigte Eisenhut sich zu setzen. »Er nimmt sie ja an, schreie nicht so!«

»Gewiß nehme ich die Forderung eines jeden Gentleman an!« sagte Professor Richter mit ruhiger Stimme. »Aber Sie erlauben mir eine Frage, wo haben Sie Ihre Papiere?«

»Papiere?« Eisenhut stotterte und tastete an seine Taschen.

»Als Offizier der Reserve und ehemaliger Korpsstudent bin ich dem Ehrenkodex unterworfen. Ich bitte Herrn Eisenhut um sein Universitätsmatrikel.«

Eisenhut öffnete den Mund und starrte dem Chinesen ins Gesicht.

Man lächelte und lachte ringsum.

»Ich sehe, Sie haben die Matrikel nicht in der Tasche, wer sollte sie auch immer mit sich herumschleppen,« fuhr der dicke Chinese in aller Ruhe fort. »Natürlich bin ich kein Pedant. Ich will Ihnen nur eine einzige Frage vorlegen, eine kleine Prüfung gewissermaßen. Wir kennen einander und können auf schriftliche Ausweise verzichten. Übersetzen Sie mir den bekannten Satz: Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat. Bitte!« Er stand mit den Fäusten in den Hüften und schnarrte die Sentenz herunter, daß es rasselte.

Eisenhuts Blick flackerte. Er errötete, er erblaßte, er blickte scheu auf Adele, ohne den Mut zu haben, sie anzusehen.

» Quae medica –« stotterte er.

»Ein bekanntes Sprüchlein von Hippokrates,« schnarrte der Chinese. »Das ist nicht zuviel verlangt.«

» Quae –«

Eisenhut sank auf das Sofa zurück.

Es war ganz still und plötzlich hörte man Grau lachen; er lachte heiter, belustigt, und noch niemals hatte man dieses Lachen von ihm gehört.

Er faßte Eisenhut am Arm und sagte: »Herr Eisenhut! Fallen Sie doch auf den albernen Scherz dieses Herrn hier nicht herein!«

»Fort!« sagte Eisenhut. »Fort! Hinweg!« Er stieß ihn zurück.

»Guten Abend!« Grau verließ das Zimmer.

Eisenhut sprang auf. »Leben Sie wohl!« sagte er zu allen. »Ich sage nicht mehr als leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl!« wiederholte trocken der Adjunkt.

Eisenhut fixierte ihn und der dicke Chinese brach in lautes Gelächter aus.

Eisenhut schwankte zur Türe. Die Tanzmusik drang herein; man tanzte Française und Bezirksamtmann Häberlein rief mit lauter Stimme französische Kommandos. Er wandte den Blick auf Adele und sagte, indem er den Kopf senkte: »Leben auch Sie wohl, Fräulein von Hennenbach! Leben Sie wohl für immer!«

Adeles Lippen zuckten. Das sei das beste, was er tun könne.

Eisenhut lachte verzweifelt und verließ das Zimmer. Er taumelte, immerzu verzweifelt lachend, den Korridor entlang, er ging die Treppen hinab und lachte immerzu dasselbe verzweifelte Lachen.

Grau verließ vor ihm, dicht vor ihm, das Hotel und verschwand in der Richtung nach seinem Hause.


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