Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Vierundzwanzigstes Kapitel

In all dem Verwirrenden, das ihn umgab, tappte Innocenz Lorum wie in einem schwarzen Nebel herum. Wohin er auch greifen mochte, nirgends fand seine Hand ein Geländer, an dem er sich hätte halten und weiterschreiten können. Das Zufällige gab sich für weitsehend Planvolles, und das Beabsichtigte sank ins Bedeutungslose und zerrann wie Schnee, den man zu einer Statue kneten möchte.

Welche Bedeutung hatte nicht das plötzliche Erscheinen einer fremden Wahrsagerin für ihn gehabt! Wo war sie her, wo war sie hingekommen? Der Arzt forschte auf seinen Gängen von Haus zu Haus vergebens nach einer Ziegeunerbande, die vielleicht die Gegend durchstreift haben könnte. Das einzige, was für eine derartige Möglichkeit sprach, war, daß im Dorfe zwei Hunde verschwunden waren und des Schulmeisters alter Gänserich, der das Zeichen der Abendglocke überhört haben mochte. Und doch wie konnte so ein wandelndes Haus mit seinen grünen Läden übersehen worden sein, von der Schuljugend vor allem. Das war rätselhaft. Und dann, wie, wie war's gekommen, daß Pankraz gerade in dem Augenblick, wo man ihn brauchte, sich wieder auf dem Kreuzhof befand? Er war überhaupt immer dort, wo man seiner bedurfte. Wie der Engel, der den jungen Tobias führte, lief er neben dem Arzte her von jenem Augenblicke an, wo er aus dem Stroh neben dem Militärgefängnis sich erhoben hatte.

Ja jener Sommerabend, – mit dem hatte es angefangen. Der gleiche Finger, mit dem Balduin Hebenstreit den Revolver abgedrückt hatte, war ihm, dem Arzte, der Wegweiser nach Birkenried geworden und hatte ihm das Weib gezeigt, das seitdem als Herrin in seiner Seele wohnte, wachsend und sich ausdehnend wie ein Bild, das ein Verliebter in die Rinde einer jungen Eiche geschnitten hat!

Doch die Hand, die ihn führte, war nicht Balduins Hand. Nicht die, die demnächst kalt und gefühllos unter der Erde modern wird. Diese war ja nur der Semaphor, den ein höherer Wille stellte, um anzuzeigen, daß dahinaus die Bahn gehe. Aber wohinaus? Ja das lag vorerst noch im Dunkeln. Die Steine am Wege, die Bäume und Sträucher, all dies tat geheimnisvoll, als ob es tiefblickender wäre, als Menschenwitz, aber es redete nicht zu Innocenz und offenbarte ihm nicht, daß in all den verworrenen Schriftzügen der Geschehnisse der Grundriß für den Aufbau seines Lebens liege. Da kam er auf den Einfall, wieder einmal sein O domina mea zu beten, und in der Tat er wurde ruhiger, wie der Schiffer ruhig und zielsicher wird, der ein fernes Leuchtfeuer blinken sieht.

Der Pankraz im Stalle hatte eine prosaischere Auffassung von der Sache und trug sie seinen Pferden vor, während er ihnen die Schwänze kämmte.

»Nun kommt ihr Gäule wieder an die Reihe,« sprach er, »nun, wo ich den tollen Hund nicht mehr im Auge zu behalten brauche. Ums Haar hätte er mir das arme Käthchen mit in die Ewigkeit genommen. Wie oft habe ich ihr gesagt, ich will den Teufelsknochen wie eine Walnuß zwischen den Händen zerdrücken, aber sie wollte ja nicht. Ja wenn auf ein gutes Gewissen so viel Verlaß wäre, wie auf einen Eisenhafendeckel, dann hätte sie sich ruhig vor so ein dummes Schießeisen stellen können. Aber wer bei den Nagelschmieden Geld und bei den Weibern Verstand sucht, der kann sich die Augen blindgucken. Indes es gibt auch Männer, die das Spitze am Ellenbogen haben und nicht hinter der Hirnschale. Der Schafjörgel prügelte seine Kuh, weil sie dick war und nicht kälbern wollte. Schließlich stellte es sich heraus, daß das Tier einen Strickstrumpf verschluckt hatte. Es wäre schon genug, wenn am Sonntag ein Schafjörgel unter der Kanzel säße, daß es aber deren so viele sind, und daß sie gar nicht alle werden wollen, das ist's, was dem Geißbub den Ziegenkäs verleiden kann.«

Innocenz hatte den Monolog seines Knechtes belauscht und er fühlte sich getroffen von seinem tieferen Sinn. Wäre es nicht seine Sache gewesen, an eine Möglichkeit zu denken, die selbst ein Pferdeknecht in seine Berechnung hereinzog? Wie schmählich war es doch, daß ihn, den Fachmann, ein Laie auf die richtige Fährte sehen mußte. »Armes unglückliches Käthchen,« seufzte er tief, »daß die Führung deiner Sache in so ungeschickten Händen lag. – Warum habe ich gezögert, als deine kranke Seele zu mir um Hilfe schrie?« Nun war's zu spät und keine noch so bittere Reue änderte das Geschehene.

Eine schwüle, unheimliche Stimmung lagerte an diesem Tage auch über Birkenried. Jeder fühlte, was er sonst vergaß, daß die schwere Faust des Schicksals auch über ihm in den Wolken hing und schlich gebückt umher. Wer liebt es nicht, ein wenig mit der Sünde zu schäkern? Nicht jeder baumelt gleich am Galgen, der einmal Kirschen stiehlt. Wenn dann die immanente Gerechtigkeit einmal zugreift und einen zum Scheiterhaufen schleppt, dann zittern viele, weil sie wissen, daß einer brennen muß für die Schuld des Haufens. Ein bißchen Lächerlichkeit hatte man auch dem Balduin gegönnt. Daß er auf dem Seile tanzte, fand man pläsierlich, daß er aber abstürzte und zerschmetterte, das war der Strafe zuviel, darin hatte das Geschick sich überhauen. Es war, als ob man ein dem Toten zugefügtes Unrecht mit Blumen und Kränzen wieder gutmachen könne. Man plünderte im Garten die Buchsbäume und trug in Körben das Moos aus dem Walde. Manch alter Festtagsrock genoß die Wohltat einer Reinigung, und manch' vermooster Zylinder feierte über Nacht seine Auferstehung aus der Hutschachtel. So trödelte unter Putzen und Bürsten das Heute ins Morgen, das Morgen ins Übermorgen hinein und der letzte Tag, an dem Balduin Leiche über der Erde weilte, war angebrochen.

Früh schon sah man schwarzgekleidete Gestalten mit gebeugtem Rücken einsam über die Höhe schleichen. Andere kamen in geselligen Gruppen, trugen Buchskränze vor den Knieen und beteten lange Litaneien für den heimgegangenen Balduin. »Herr gib seiner Seele die ewige Ruhe! Und das ewige Licht leuchte ihm!« klang es in monotonem Refrain über die Felder hin.

In der langen Reihe der über den Grasweg hin verzettelten Trauergestalten schritt auch der Innocenz Lorum. Er trug den Stock in der Hand und war in seinem Alltagsgewand. Sein Weg ging nach dem Krankenbett, nicht nach dem Grabe. Jedes Grab ist ein Pamphlet auf die ärztliche Kunst. Das des Balduin Hebenstreit war für Innocenz mehr, es war ein Vorwurf. Der Rachen dieser Gruft brauchte nicht zu gähnen, und Balduin Hebenstreit brauchte noch nicht sein Opfer zu sein, wenn der Arzt nicht von dem Mißtrauen anderer angesteckt an eine naheliegende Möglichkeit gedacht hätte. Das war's, dessen sich Innocenz selber anklagte. Auch andere Leute schienen ihn nicht freizusprechen von Schuld, denn der isolierte Mann bemerkte wohl, daß der und jener, der ihn überholte, nur kurz und verdrossen unter dem Hutrand heraus grüßte und wortkarg weiterrannte. Da fühlte er mit Unbehagen, daß er in den Kreis der Leidtragenden hinein nicht recht passe. Er schlug sich seitwärts in die Hecken und war froh, als die Nachzügler vollends an ihm vorüber waren. Dann erst kam er wieder ans Licht und unterhalb des Nußbaumklingens auf die Talstraße. Da fuhr ein Bauernwägelchen an ihm vorbei, dicht besetzt mit Männern, Frauen und Kindern in Trauerkleidern. Die Leute waren nicht aus der allernächsten Umgebung von Birkenried, sondern offenbar von weither gekommen, soviel verriet die Machart ihrer Kleider. Innocenz kannte keines der Gesichter, merkte aber, daß er erkannt war, denn die Fremden steckten die Köpfe zusammen und brachten die Ohren einander nahe. Da brannte dem Wanderer so etwas wie ein Verbrechermal auf der Stirne. Er floh die Menschenwege, überschritt den Bach an einer seichten Stelle und kam von den Erlenbüschen gedeckt ans Tor des Kreuzhofes.

Wie er über den Gutshof schritt, fingen die Glocken im Dorf zu läuten an; der Grabgesang für Balduin Hebenstreit. Den Stimmen aus Metall, die da hoch aus dem Gestühle tönten, antworteten andere – Geisterstimmen – drüben aus dem Tannenwald, der mit seinen hundertjährigen Stämmen verwegen an phantastische Felsbastionen geklebt war. Ein großes Klagen um den toten Balduin füllte das Tal, drang in Hütten und Bauernhöfe und machte die Herzen der Menschen weich, daß sie in feuchten Tränen hinschmolzen wie Maischnee im Föhnwind.

Umzittert von weinendem Gewoge kam der Arzt in die Krankenstube und fand die Frau des Toten in ihrem Bett, das Gesicht verborgen hinter einem weißen Taschentuch. Kein Laut, außer dem von draußen, Grabesstille ringsum. Nur von Zeit zu Zeit ein konvulsivisches Schluchzen, das aus unheimlichen Kerkertiefen kam, aus Verließen, in denen der verwirrte Verstand ohnmächtig seine Ketten wider fühllose Quadersteine schleudert.

Innocenz hätte helfen mögen, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Er begriff: Jeder Schmerz ist heilig und will um sich eine heilige Einsamkeit, in der er mit sich selber rechten und sich für Wunden und Narben einen leidlichen Frieden eintauschen kann.

Nach langem Klagen schwiegen die Glocken. Balduin lag in seiner Kammer, und seine Witwe legte den jammermüden Oberkörper zurück in die Kissen. Sie war ganz arm, nicht einmal eine Träne hatte sie mehr zu verschenken. Nun trat Innocenz an das Bett heran. Tastend suchte er mit der Linken die Hand der Kranken, während die Rechte zögernd das Taschentuch hob, das den tränenwunden Lidern seinen Schutz bot. Kein Widerstand regte sich, aber das Auge lebte nicht auf. Unter der Nacht der Wimpern wollte keine Morgenhelle erscheinen. Noch eine Weile stand der Arzt erwartungsvoll, dann neigte er sich zum Ohre der Schicksalgeschlagenen nieder und flüsterte mit zärtlicher Stimme kaum hörbar: »Käthchen, mein armes unglückliches Käthchen.« Da schlug sie die Augen auf und setzte sich aufrecht ins Bett. Sie sah fremd und verwundert um sich.

Wer war's, der sich ihrer erbarmte und sie eine Unglückliche nannte, wo sie den blöden Sinnen doch eine Verworfene erscheinen mußte? Sie erkannte den Arzt und ihre Zunge löste sich. »Dank Ihnen,« sprach sie gerührt, »ja, ich bin eine Unglückliche, die mehr trägt, als Menschenkraft zu tragen vermag. Ach warum lebe ich eigentlich noch? Wieviel besser wäre mir, man hätte mich neben meinem Manne verscharrt! O der Gedanke an das Grab und seine Finsternis hat für mich nichts Schreckliches mehr. Ruhe ist es, die ich suche und Schatten nach dem Sonnenbrand des Lebens. Und doch, noch darf ich nicht gehen. Es darf nicht sein, daß mit Käthchen Sommertag auch sein guter Name unter den Schollen modert. Noch muß ich leben,« rief sie mit leuchtendem Auge wie in einer Ekstase von heiligem Bekennereifer glühend, »leben, bis ich gezeigt habe, daß ich des Herrn Willen verstanden, als er mit mächtiger Hand den Kugeln wehrte in mein Herz zu dringen. Oft hab' ich zu ihm gefleht in stillen Nächten, daß er mein Zeuge sei, nun da er an meine Seite getreten ist, will ich kämpfend stehen und den Sieg der Wahrheit erharren. Es muß der Nacht ein Morgen folgen. Des Herren Wort ist meines Pfades Leuchte.«

Innocenz sah staunend nach dem sicheren Licht dieser Augen, das unbeweglich stand, wie der Abendstern, der lächelnd leuchtet hoch über dem schmutzigen Getriebe unseres Planeten. Mit Zerknirschung schlug ihn der Gedanke, daß es eine Zeit gegeben, wo er an diesem Weibe zweifeln konnte. Wie ein Bettler neigte er das Haupt und drückte Verzeihung suchend seine Lippen auf ihre Hand.

Ihr feines Empfinden ahnte, was er sagen wollte, und milde fuhr sie fort: »Wenn die Stunde gekommen sein wird, die mich rechtfertigt, dann sei jedem vergeben, der sich von seinen Sinnen täuschen ließ. Mein Gott, was haben wir denn anderes auf der Suche nach dem Rechten als fünf erbärmliche Sinne, die uns zur Not sagen können, was die Dinge scheinen, nicht was sie sind.«

»Aber,« fiel hier Innocenz schüchtern ein, »müssen wir denn geduldig warten, bis diese Stunde schlägt, könnten wir nicht den Versuch machen, ob wir entwirren können, was uns alle so unheilvoll umstrickt?«

Sie verstand. »Vor dem Arzte hat mein Leib keine Geheimnisse,« bemerkte sie entschlossen und senkte das milde Feuer ihres Blickes vertrauensvoll in des Mannes Augen.

Nun mit einem Male nahm Handeln und Denken des Arztes etwas Geschäftsmäßiges an, der Mann trat hinter den Forscher zurück. Seit jenem Tage, als Innocenz in der Heuernte das Brot aus dem Schoße von Käthchen Sommertag geholt hatte, lebte in seinen Träumen der brennend heiße Wunsch, den Geheimnissen dieses weißen Leibes nähertreten zu dürfen. Nun lag er entschleiert vor ihm, aber ganz anders empfand er nun als dazumal.

Jede Leidenschaft schwieg. Die durch die Wissenschaft geschärften Sinne redeten lediglich zu dem Verstande, nicht zu dem Herzen. Das geliebte Weib war zum Objekte geworden, wie ein mikroskopisches Präparat. Wie wunderbar, daß in dem Gehäuse eines Körpers so verschiedene Individuen wohnen, von denen keines das andere kennt!

Innocenz hörte, klopfte und verglich, strengte seine Sinne an und lauschte wieder. Ja so war's; es war kein Zweifel mehr möglich. Käthchens Ehre war gerettet. Aber o Jammer und Not, ein anderer Feind schwebte über ihrem schuldlosen Haupte, bereit seinen Stab zu zerbrechen – der blasse, erbarmungslose Tod. An der Skylla der Schande war ihr Schifflein vorbei, nun trieb es der Charybdis der Verwesung zu. Innocenz war aufgesprungen und rannte wie ein Verzweifelter ruhelos im Zimmer auf und ab.

Käthchen Hebenstreit sah, wie er mit sich kämpfte und litt, sah wie er mit dem Worte rang, um seiner herben Schneide die Spitze abzubrechen. Sie wollte, sie mußte seiner Verlegenheit zu Hilfe kommen. Feierlich als ob sie einen der Psalmen herunterbete, begann sie: »›Euer Weg führt in die Schatten des Todes. Seid der Stunde gewärtig, in der der Bräutigam kommt und ruft. Haltet eure Lampe bereit.‹ Das ist's, was Ihr mir sagen wollt, Doktor, und nicht sagen könnt. Nehmt Dank für das, was ich aus Eurem Antlitz lese, aber denkt nicht, daß ich zittere.« So sprach die schicksalgehämmerte, starke Seele. Mit der Kraft der Redenden war auch die des Arztes gebrochen. Er warf sich in einen Lehnstuhl, ließ das Haupt auf die Brust sinken und starrte vor sich nieder auf die blankgescheuerte Diele. Schwere Tropfen fielen von Zeit zu Zeit in seinen Schoß. Käthchen sah diesen Zoll des Mitleides und wurde weich. ›Vielleicht machte er sich Vorwürfe, daß er ihr nicht früher mit seinem Rat zur Seite getreten war. Er litt um sie. Das sollte er nicht.‹ Sie nahm aufs neue das Wort: »Doktor, nicht um meinetwegen diese Tränen. Noch ist nichts versäumt. Gott ist ein starker Helfer. Hat er mich vor dem tödlichen Blei bewahrt, dann wird er mir die Gnadenfrist eines Jahres nicht vorenthalten. Wenn jeder niedere Verdacht schweigt, übers Jahr wenn die Sonnenblume ihre Scheibe zum Lichte wendet, dann aus Gottes Hand in die des Chirurgen.«

Käthchen hatte mit erregter Stimme gesprochen. Als sie ausgeredet hatte, versagten alle Muskeln ihren Dienst. Sie sank rückwärts in die Kissen und erstickte mit den Händen ein herzerschütterndes Weinen.

Demütig und klein stand Innocenz schweigend vor solcher Seelengröße. Was hätte er auch sagen sollen? Zwei Güter schätzt der Mensch als seine höchsten, das Leben und die Ehre. Wehe dem, der in das Dilemma kommt, das eine gegen das andere ausspielen zu müssen, und dreimal wehe dem, der auf solchem Punkte angelangt, nicht weiß, was er tun soll und nach einem Vormund läuft, um sich einen guten Rat zu borgen. Innocenz ging erhobenen Hauptes aus dem Kreuzhof. Er hatte den Glauben an Gott wiedergefunden und an sein Eingreifen in die Menschenschicksale. Das hob sein Vertrauen zu den Werkzeugen seiner Hand, den Menschen und lehrte ihn, auch dort noch zu hoffen, wo sein wissenschaftlicher Besitz mit der Hypothek starker Zweifel belastet war.


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