Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Zwölftes Kapitel

Wichtige Ereignisse häuften sich in Birkenried. Des Försters Liese war mit Zwillingen gesegnet worden, und die Leute hatten nach den Vätern zu suchen; der Frau Oberschreiber waren neue Zähne gewachsen, und niemand konnte verstehen, wie das zugegangen. Ein Orchestrion hatte seinen Einzug ins Dorf gehalten, und ein Briefkasten war am Rathaus aufgehängt worden. Alle diese Dinge erregten die gebührende Aufmerksamkeit, ohne jedoch eine Frage ganz in den Hintergrund zu drängen.

»Warum bleibt Käthchen Sommertag ledig, obwohl um sie die Freier sitzen wie die Spatzen um das Storchennest? Gebrechlich ist der alte Sommertag und kann jede Stunde zu seinen Vätern versammelt werden. Die Mutter ist taub. Wer haben will, daß sie von ihrem Strickstrumpf aufblickt, muß eine Pistole losschießen. Was soll aus der Taubhausmühle werden, wenn Käthchen nicht zugreift? Der Balduin hat schon manches Paar Hosen auf der Ofenbank durchgesessen und hat einen Waschkorb voll Kronentaler im Hause vertrunken, ohne Glück zu haben. Das Mädchen scheint sich nicht viel aus ihm zu machen. Vielleicht, daß sie nach dem Doktor guckt. Manche Leute wollten bemerkt haben, daß sie rot wurde, als sie in der Prozession an seinem Hause vorüberging. – Der Satan hat Macht über uns, selbst in der Stunde des Gebetes und in unmittelbarer Nähe des Weihwasserpinsels. – Aber was will sie mit dem Doktor anfangen? Sein Handwerk versteht er nicht, und zum Gastwirt ist er nicht erzogen. Wer möchte an den Hintersteiner denken oder gar an Löb Moschele und Käthchen Sommertag zureden, daß sie den Doktor nähme, obwohl er ja ein stattlicher Mann ist.«

So redeten die Leute, solange die Walnuß ihre Schale sprengte, und das Kartoffelkraut auf den Feldern schwelte und klumpige Rauchsäulen über die Wiesen schickte. Als die Weißrüben eingegraben waren, und der Rauhreif die Grashalme versilberte, sprach man über Babette Leisering, die auf den gescheiten Einfall gekommen war, ihr Sonntagshemd auf dem Rücken der Kuh zu wärmen.

Der erste Schnee kam und machte das Korps der Schneeschaufler mobil. Wie ein Landsturmaufgebot, greulich anzusehen, zogen sie mit verwegenen Waffen zum Dorf hinaus, und als sie am Abend wiederkamen, wußten sie vom Funde steckesteifer Handwerksburschen zu erzählen, von eingeschneiten Postwagen und von verirrten Fruchtmaklern. Der Irrwischpeter lebte auf und narrte die Gendarmen auf ihrem Patrouillengange, daß sie immer im Kreise liefen, derweilen im Hinterhof ein Hammel gestohlen wurde. Selbst den Pfarrer mitsamt dem Sakrament hatte der Spuk in einen Steinbruch gelockt und dort festgehalten, bis den Hirtenjörgel der Teufel geholt hatte. Der Sterbende hatte noch für einen kleinen Meineid die Absolution gesucht. Nun war's nichts damit. Gott sei seiner Seele gnädig!

Der Advent kam und weckte immer neue Gespenstergeschichten. Die Menschen verkehrten nur noch mit Geistern. Der liebe Nachbar hatte Ruhe, bis es plötzlich eine neue Sensation gab.

Der Wind war nicht bei Laune. Das Bahrtuch, unter dem die Erde schlief, lag ihm zu glatt, und er wollte außerdem den Schneeschöpfern zeigen, daß sie Torenarbeit verrichteten. So fing er denn, als alles schlief, zu blasen an, wirbelte weiße Mäntel in die Luft, trug sie über Schrunde und Klüfte und ließ sie niederfallen, wo man sie am wenigsten brauchen konnte, in die Einschnitte der Fahrwege. An Mauern und Treppen baute er alabasterne Nischen, als ob er fromm geworden wäre und Heiligenbilder hineinstellen wollte. Über schmale Bäche schlug er kleine Brücken, und an Felsengrate klebte er Terrassen an. Wehe dem Wanderer, der beiden traute!

Kaltlächelnd sah der Mond dem Wüten des Unholdes zu, die Sterne zwinkerten verlegen, aber kein Gott und kein Engel fiel dem Rasenden in den Arm, um sein Treiben zu stören. Als die Menschen erwachten, sahen sie mit blinkernden Augen wider geblendete Fensterscheiben, freuten sich der Wärme ihres Bettes und zogen die Oberschenkel gegen den Bauch herauf. Hätte das Vieh in den Ställen nicht zu brüllen angefangen, es ist fraglich, ob in Birkenried an diesem Morgen ein Mensch aus den Federn gekrochen wäre. Aber schließlich half doch alles nichts. Der Jammer der Tiere wurde zudringlicher. Der Hausherr klingelte, und die Bäuerin fing zu schimpfen an. Die Magd, die eben die Hintertüre öffnete, fuhr erschrocken zurück. Mit so kalten Händen hatte ihr noch keiner unters Mieder gelangt. Der Wind war unverschämt.

Hohe Schäfte waren an diesem Tage ein begehrter Artikel, und unter manchem Bette, wo sie keiner gesucht hätte, standen Männerstiefel. Als die Uhr vom Turm die Stunde schlug, war's, als ob ein Schelm über Nacht die Glocke in einen Sack genäht hätte, um ihren Ruf zu ersticken. Innocenz Lorum hörte den schalen Ton und setzte sich im Bette auf. ›Hat der Schnee die Schallöcher des Turmes zugeklebt,‹ so dachte er, ›wie mag's erst aussehen draußen auf der Höhe, wo Randersecken liegt? Wehe den Armen, wenn ein Brand ausbräche, oder wenn sie sonst der Hilfe ihrer Mitmenschen bedürftig wären!‹

Merkwürdig, daß er gerade heute an das weltverlorene Randersecken denken mußte und seine arme Bevölkerung, die seit den Tagen des Emiko von Leiningen da oben auf den Felsen in den Mauern einer zerfallenden Burg hing. Aber hatte er nicht vordem schon die sonderbare Beobachtung gemacht, daß seine Gedanken, ja seine nächtlichen Träume an einem Orte und bei Personen weilten, die seiner Hilfe bedurften? War es ihm nicht schon begegnet, daß ihn die Nachtglocke weckte und an ein Bett rief, an dem sein träumendes Hirn schon seit einer Stunde verweilte? Sollte die Seele eine Geberstation haben, der, wie im Marconitelegraph, eine seelische Empfangsstation antwortet? Dem Arzt grauste es vor dem Gedanken, daß sein Ahnen gerade heute sich erfüllen könne.

Wie er noch so sann und sann, ohne seine Seele von der Angst vor etwas Außerordentlichem befreien zu können, schrillte die Nachtglocke vor seinem Schlafzimmer. Innocenz fuhr auf wie ein Wachtposten, der den Tritt der Ronde hört, und schritt furchtsam zur Haustür. In einem dunklen Winkel seiner Seele kauerte eine Spur von Mystizismus, die durch kein naturwissenschaftliches Studium verdrängt worden war. Dieser war's, der sich regte und ihn zittern ließ vor einer übergroßen Aufgabe, die sein Traum ihm in unbestimmten Schattenrissen hingezeichnet hatte.

In Hemdärmeln und Pantoffeln öffnete Innocenz ein wenig und lugte durch den Türspalt. Als er sah, daß draußen ein frierendes Bäuerlein stand, riß er die Tür ganz auf und wollte den Schnatternden hereinlassen. Der aber hatte keine Lust zum Eintreten, machte nur mit beiden Armen eine verzweifelte Geste, als ob er den Türposten mitreißen wolle, und sagte mit energischer Betonung: »So schnell wie möglich, nichts wie mit!«

»Wohin soll ich, und um welchen Krankheitsfall handelt es sich?«

»Nach Randersecken! Mich schickt die Wehemutter.«

»O meine Ahnung!« stöhnte der Arzt und forschte weiter: »Aber wie soll ich hinkommen?« »Das weiß ich nicht!« seufzte das Bäuerlein. »Ich kann Euch nur sagen, wie ich hergekommen bin. So!« illustrierte er seine Erzählung, indem er die Beine eins nach dem anderen hochzog, »einen Schinken heraus, den anderen herein, und das seit Mitternacht und gegen einen Wind, der an einem hinausspringt wie ein bissiger Hofhund.«

»Und es gibt keine Möglichkeit, zu reiten oder zu fahren?«

»Beides undenkbar!«

Innocenz drehte sich auf dem Absatz herum in schwerem Sinnen. Sollte er zwei Menschenleben verkommen lassen und sich feige hinter einer Schwierigkeit verschanzen, die noch lange keine Unmöglichkeit war? »Nein!« sagte er sich, »lieber sollen sie meine Leiche aus dem Schnee schaufeln!« und er fuhr entschlossen mit den Füßen in die Wasserstiefel hinein.

»Ihr geht doch mit zurück?« forschte der Arzt, während er seinen Hosenträger über die Schulter zog.

»Unmöglich!« war die Antwort, »ich wäre Euch nur zur Last. Sechs Stunden unterwegs bei solchem Wetter und mit einer halben Lunge!« Dabei hustete das Männlein in die Hohlhand und zeigte dem Arzt seinen mit Blut vermischten Auswurf.

Da schämte sich Innocenz dieser wandelnden Leiche gegenüber in die Tiefen seiner Seele hinein, daß er nur einen Augenblick im Zweifel gewesen sein konnte über das, was er tun mußte, und er sagte entschlossen: »Ihr kennt den Notabeneoja?«

»Wer sollte den Stromer nicht kennen?«

»So geht und ruft ihn her!«

Der Bauer wollte eine stammelnde Bemerkung machen. Der Arzt verhinderte sie. »Tut mir den Gefallen und geht!«

Eine Viertelstunde später stapften zwei zum Dorfe hinaus und an der Taubhausmühle vorüber. Gerade flog ein Laden auf. Käthchen Sommertag starrte überrascht in das ernst entschlossene Gesicht des Arztes und fuhr zurück. Fünf Schritte hatten die Wanderer vorwärts gemacht, da rief es hinter ihnen her: »Pankraz! Auf ein Wort Pankraz, wohin?«

»Weiß ich's!« war die Antwort. »Hinter ihm her und wenn's bis an die Ohren in den Mehlkasten geht.«

»Pankraz!« flehte das Mädchen mit einem scheuen Blick auf das Päckchen, das der Mann unterm Arme trug, »Ihr geht einen schweren Gang; nimm den Hannibal mit. Mir ist es leichter, wenn ich euch zu dreien weiß.«

Pankraz pfiff.

Der Hund war mit einem Satze durchs Fenster auf der Straße und hauste mit seiner Körperkraft wie ein Verschwender. Er machte überflüssige Sprünge in die Luft und dachte nicht daran, daß er das, was er jetzt wegwarf, später nötig brauchen könne. Da nahm ihn Pankraz am Halsband und zwang den Ausgelassenen zu einer ruhigen, gesetzten Gangart.

Gleich die nächsten Schritte der Wanderer führten bergauf über eine steile Weinbergstreppe, von der schlechterdings nichts mehr zu sehen war. Wenige Pfähle, die über den Schnee hervorlugten, gaben die Richtung an. Bald der eine, bald der andere der beiden Männer verfehlte die Stufe und lag seitwärts im Gelände. Eine halbe Stunde war bereits verstrichen und noch waren sie nicht höher über der Talsohle als der Hahn auf der Kirchturmspitze.

»Wie lange denkst du, Pankraz, daß wir bei dieser Gangart brauchen werden bis Randersecken?« fragte der Arzt mit verzagter Stimme.

»Jedenfalls länger, als eine arme Seele braucht, um von hier in den Himmel zu kommen!« entgegnete der Angeredete und rappelte sich auf, denn er lag wieder einmal auf Vorder- und Hinterpfoten. »Übrigens,« setzte er die Unterhaltung fort, »ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß wir Ihren Kranken auf seinem Wege in die Ewigkeit einholen, obgleich wir Moschus- und Hofmannstropfen bei uns haben. Die Kälte ist grimmig. Wer heute eine Viertelstunde auf einem Grenzstein sitzt, wird ohne Fahrgeld ins Jenseits befördert.«

Die beiden Männer schwiegen und setzten mühsam einen Fuß vor den anderen. Der Hund schnaubte, während um sein Maul ein dichter Dunst kräuselte, wie um das Rauchfaß eines Meßdieners.

Innocenz zog die Uhr aus der Tasche und stellte fest, daß drei Stunden verstrichen waren, als die Wanderer die schroffste Steigung hinter sich hatten. Nun führte der Weg wie über einen Elefantenrücken ziemlich eben zwischen steilen Seitenabfällen dahin, und man konnte hoffen, rascher vorwärts zu kommen, namentlich dann, wenn der Schnee gefroren war. Doch dem war nicht so. Alles war in wirbelnder Bewegung, als ob aus dem Chaos eine neue Erde geboren werden sollte. Jeder Schritt dem Ziele näher mußte mit Zeitverlust bezahlt werden. Stunde um Stunde zerrann, ehe sich die Wanderer dem Widerrist des Gebirgsstockes näherten. Längst war der Mittag vorüber und der kurze Tag kam zum Sterben. Vom Himmel nieder senkte sich ein grauer Flor, aus Nacht und Nebel gewoben.

»Nur immer der Nase nach!« sagte Pankraz. »Der Nebel lockt in die Abgründe. Wer von uns sich unbedachtsam um sich selber dreht, hat den Ruf des Kuckucks zum letzten Male gehört.«

Pankraz schwieg. Innocenz war stumm. Aus dem Hund aber kam etwas, das sich wie ein Selbstgespräch anhörte. Die Wanderer lauschten, um vielleicht einen der Hundegedanken zu erraten. Wieder ein verhaltener, unsicherer Ton, dazu ein scharfes Stechen der Augen in den Nebel hinein, ein Runzeln der Stirne, ein Spitzen der Ohren und ein energisches Drohen mit der Rute. Pankraz ließ seine Augen über die Blickrichtung des Hundes wie über ein Visier gleiten und gewahrte in einiger Entfernung das Gewusel eines zerfahrenen Wesens, das aussah, wie ein Bündel Wirrstroh und den Nebel an sich hangen hatte wie ein Zigeuner die Lumpen.

»Der Irrwischpeter!« flüsterte Pankraz schalkhaft und zupfte den Doktor an den Rockschößen.

Innocenz fror. Da schlug Hannibal mit klarer Stimme an. Jetzt war der Hund seiner Sache sicher. Das Grauen vor etwas Unbekanntem war bei ihm eher als bei seiner Begleitung überwunden. Er wußte, was er vor sich hatte und avancierte entschlossen. Das Drohen des Hundes schien das geheimnisvolle Wesen eher anzulocken als zu verscheuchen, denn es kam näher und nahm menschliche Formen an. Schließlich hatte der gefürchtete Spuk die Gestalt eines armen Korbmachers, dessen Kopf tief in einer Strumpfkappe steckte.

»Wehrt Eurem Hunde!« rief er, »und sagt mir um aller Heiligen willen, ob unter Euch der Doktor von Birkenried ist?« Als Innocenz zugab, daß er es sei, nahm ihn das Männlein an beiden Rockflügeln und zog an ihm, als ob er die vereidigte Vorspann einer ganzen Provinz wäre. »Nur immer rüstig mir nach,« wimmerte er, »man hört das arme Weib im ganzen Dorfe schreien. In den Ställen merken die trächtigen Kühe, was vorgeht, haben Mitleid und brüllen. Das ganze Dorf ist in Not und Aufruhr.«

Man kann nicht sagen, daß die Wanderer ihre Schritte verdoppelten, das war unmöglich, aber immerhin wurden sie etwas energischer, als sie die flache, von den Burgtrümmern bekrönte Bergeskuppe hinaufstiegen. Durch ein Loch in der Schildmauer kamen sie auf eine Art Torsstraße, in der Ställe, Häuser und wacklige Schuppen in buntem Wechsel standen. Zwei erleuchtete Fenster glühten rotgelb in der Ferne. Sonst war alles leblos, und doch hörte man in Winkeln und Höfen ein scheues, verängstetes Flüstern. Plötzlich zitterten herzzerreißende Schreie durch die Luft. Das waren schon nicht mehr Töne, wie sie der Menschenrasse eigen, das waren Laute, die jedes Muttertier in der Stunde der Not ausstößt, die jeder kennt und die eines am andern mit Bedauern verzeiht. Geborene Feinde werden einander zu Helfern. Die Löwin selbst heischt Mitleid und läßt sich die hilfreiche Hand des Menschen gefallen.

Von Innocenz war alle Müdigkeit gewichen, und wenn auch ein geheimes Jagen, ob seine junge Kraft der Größe seiner Aufgabe gewachsen sein möchte, in ihm zitterte, er war mutig, wollte tun, was in seiner Macht stand, und bat den Himmel um seine gnädige Hilfe. Als er über die Schwelle des kleinen Häuschens trat, hatte er seine Medaille in der Hand, und seine Lippen beteten das » O domina mea« mit Erhörung flehender Inbrunst.

Im niederen Zimmer hing von der rußgeschwärzten Decke nieder eine Petroleumlampe mit schwelendem Docht und erfüllte den engen Raum mit einem schier unerträglichen Gestank. Man sah ein zerwühltes Bett, und davor saß auf einem niederen Stuhle ein rundliches Monstrum mit einem Kürbisgesicht, die Hebamme. Beim Anblick des Arztes erhob sie sich erleichtert, riß den Mund zum Gähnen auf und stöhnte fromm: »O heilige Dreifaltigkeit!« Dann ging sie an den Ofen, putzte die Hände an der Schürze und stellte Wasser auf zum Kaffeekochen. In dem Moment, wo die Verantwortung von ihren Schultern fiel, hatte sich der Appetit bei der Wackeren wieder eingestellt. ›Er hat einen breiteren Buckel als ich‹ dachte sie. ›Mag er sehen, wie er's trägt.‹

Indessen war der Arzt zum Kreisbett getreten und suchte durch einige Worte des Zuspruchs den Mut und das Vertrauen der Leidenden zu heben. Nur dumpfe Laute der Klage und des Jammers antworteten ihm. Nicht einmal das Gesicht wendete die vom Schmerz Geschlagene dem Helfer zu. Sie sah bereits in die schwarze Nacht des Grabes und rief voll Sehnsucht nach dem Allerbarmer Tod. Nur als ihr Knabe aus der dunklen Ecke beim Uhrkasten plötzlich hervorrannte und in seinem Drange, der Mutter beizustehen, dem Arzt schreiend in die Beine fuhr, da erwachte noch einmal das starke Gefühl der Mutterschaft, und ihre Hand tastete über den Bettrand nach dem Lockenkopf des Kindes.

»Bringen Sie den Kleinen fort!« befahl Innocenz der Amme.

»Wohin?« seufzte diese. »Die oben nehmen ihn nicht, 's sind seine Großeltern, aber seit Jahren schon reden die Alten mit den Jungen kein Wort.« Und sie hob den Deckel von der Kanne und rührte mit einer Haarnadel in dem überkochenden Kaffeegebräu.

Innocenz öffnete die Tür. Draußen saß neben einem knisternden Reisigfeuer am Herde der Pankraz und hatte die Hand schmeichelnd auf Hannibals Haupt gelegt. Ein paar Worte wurden zwischen den Männern gewechselt, dann stieg Überdies mit dem Knaben die Treppe zur Auszugsstube empor. Unter einer schiefen Wand saßen um den rotglühenden Docht einer Rüböllampe zwei fast zu Mumien eingeschrumpfte Menschenkinder mit steinharten Herzen und musterten den Eindringling mit giftigen Blicken.

»Was willst du uns den Rangen aufhalsen?« fuhr der zahnlose Alte heraus. »Laß ihn unten mit seiner Katzenmutter heulen. Die Verdammnis über diese Brut. Vater und Mutter sollst du ehren, damit es dir gut gehe! Haben sie uns das Leibgeding gegeben, wie sie schuldig waren? Mag die Hölle sich ihrer erbarmen!« und der Mann schlug auf die Bibel, die vor ihm lag. Wer konnte ihm bestreiten, daß er recht habe, wo doch die Schrift sein Anwalt war?

Pankraz, der wohl einsah, daß der Alte ihn mit Bibelsprüchen übern Haufen rennen würde, nahm den Wortkampf nicht auf, wickelte seine Ärmel in die Höhe und zog den Knaben langsam und bedächtig aus. Dann bettete er ihn mit der Sorgfalt einer Mutter und gab dem Hannibal den Auftrag, sich vors Bett zu setzen. Als er soweit war, wandte er sich den grämlichen Eulenphysiognomien noch einmal zu und kommandierte mit einem leibhaftigen Feldwebelgesicht: »So, wie's nun ist, bleibt es, oder ich reibe Eure hölzernen Gestelle aneinander, bis Ihr Feuer gebt wie ein Schwefelfaden. Übrigens merkt Euch, der Hund beißt dem einen Arm glatt durch, der das Kind berührt.« Pankraz ging und ließ den Respekt vor seiner Person und dem Hund als Hüter des Kleinen zurück.

Was die Großeltern dem Enkel vorenthielten, gab ihm Hannibal: ein bißchen warme Zärtlichkeit. So schlief der Knabe neben dem Hundekopfe ein und überhörte die gräßlichen Todesseufzer der gequälten Mutter.

Am Kreisbette unten war derweilen der Arzt zu einer furchtbaren Gewißheit gelangt. Ihm war klar geworden, daß nur das Messer dem Kinde den Weg bahnen könne herein in dieses Jammertal. Und wenn es nicht gelang, so stand man vor zwei Leichen. Der Mensch im Arzt erwachte und schüttelte sich vor solch bluttriefendem Entschluß. Besser mitten im Ozean auf ein schwankendes Brett gestellt als vor eine derartige Aufgabe. Aber hier gab es kein Ausweichen, das Äußerste war das einzig Mögliche. Denn ach, wo man die Wunder brauchen könnte, da sind sie nie! So ging denn der Arzt nach schwerem Kampfe mit sich selber entschlossenen Schrittes nach seinen Instrumenten.

Als die Hebamme dies sah, band sie ihr Kopftuch um und wollte gehen. Sie habe ihren eignen Kindern die Mutter zu erhalten, sagte sie, um sich zu entschuldigen, zumal ihr Mann ein schwindsüchtiger Leineweber sei, der ein übriges getan und bei solchem Wetter nach dem Doktor gegangen sei. Wenn ihm auf dem Rückwege der Herzbändel risse, so könne sie den Kindern ein Schnurrerlied beibringen und könne sie mit dem Bettelsack vor die Haustüren der Bauern schicken. Und sie ging in die Küche, stocherte am Herdfeuer herum und war nicht mehr in die Wochenstube zu bringen.

Der Mann der Wöchnerin, der hinter dem Arzt mit einer Petroleumlampe herlief und in den Holzkasten leuchtete, wenn es an einem Handtuch fehlte, und in die Kommodschublade, wenn man einen Eimer brauchte, schwitzte eine Zeitlang, daß ihm das Wasser über die Nase auf das Vorhemd tropfte, und fiel dann bleich wie ein Bettlaken auf die Ofenbank. Pankraz hatte im letzten Moment noch die Lampe gerettet, ohne die es ebensowenig gegangen wäre wie ohne die Hände des Operateurs.

Indessen hatte ein wächsernes Gelb die Wangen der Wöchnerin überzogen, die Lippen waren trocken, die Nase spitz geworden. Innocenz wußte, daß der Tod mit dem Sekundenzeiger der Uhr rechnete, und eilte nach einer Assistenz, auf die er sich verlassen könne.

Aber der Straße lag eine Wirtschaft. Man brauchte kein Schild zu sehen und wußte doch, daß es eine war. In regelmäßigen Intervallen hörte man Faustschläge, die auf die Tischplatte knöchelten, und hörte halblaute Flüche und Verwünschungen. Innocenz tastete sich am Treppengeländer empor, trat ein und stand vor einem Kleeblatt von Kartenspielern.

Leicht wurde es dem Arzt nicht, von diesem Halunkentrio eine Gefälligkeit zu erbitten, aber um des sterbenden Weibes willen kämpfte er seine Abneigung nieder und ersuchte sie, daß sie ihm helfen möchten bei einem verzweifelten Werke der Barmherzigkeit.

Hätte eine Drehorgel vor den Fenstern gespielt, alle drei wären sie hochgeflogen wie der Stöpsel auf dem Sodawasser. Als sie aber hörten, daß sie etwas schaffen sollten, was Überwindung fordert, da verblaßten sie, einer nach dem anderen, und sahen sich fragend an. Dem dringenden Fordern des Arztes gegenüber wurden sie verlegen, rutschten auf den Stühlen hin und her und stammelten feige, verlogene Ausreden. Da war der eine, dem war es auch nicht recht gut. Der hatte nachts keinen Appetit. Schon lange hatte er einmal zum Arzt gewollt, aber wer mag in einem solchen Winter sich vor die Tür wagen?

Der zweite behauptete: Er müsse sich vorm Erkälten hüten. Ihn hätte schon einmal die Influenza gepackt, daß er geglaubt hätte, sie schüttle ihm alle Knochen aus den Kleidern. Ihm könne niemand zumuten, daß er sich einen kalten Buckel hole, er habe außerdem den Feldzug mitgemacht.

Der dritte beschrieb sein verfrorenes Fußwerk so, daß man annehmen mußte, er hätte es aus einer Portion Gänseklein mühsam zusammengesetzt. Man hätte ihn aus Mitleid in ein Tragkissen stecken und einer Spreewälderin an die Brust legen mögen.

›Das sind die Heldenbusen, die am Kaisersgeburtstag von Kriegsdenkmünzen blinken,‹ dachte der Doktor und wollte grob werden, als von jenseits der Straße ein erbärmliches Jammern und Heulen erscholl. Innocenz wußte, was dies zu bedeuten habe. Er nahm die Klinke in die Hand und lief ins Sterbehaus.

Wohin man noch vor einer Viertelstunde keinen Menschen bringen konnte, da war nun alles überfüllt von Jammergestalten. Die Eulengesichter waren aus der Auszugsstube heruntergestiegen und konnten sich nicht helfen vor bitterem Weh. Der Mann der Toten warf sich über die Leiche und brüllte. Die Hebamme nickte mit dem Kopf in die Schürze hinein und schnipste. Nachbarsfrauen machten's ihr nach. Stöhnen und Winseln überall, aber es war ein trockener Jammer, der nicht allzuviele Tränen kostete. Als gar die drei Spieler aus dem Wirtshaus anrannten, war alle Würde aus der Totenkammer gewichen. Sie stießen mit Brutalität die Weiber auf die Seite, drängten an die Bettstatt, rissen die Augen weit auf und stierten der Entschlafenen in die schmerzensharten, bleichen Züge. Etwas von der gemeinen Freude am Gräßlichen, das dem Mörder auf den Richtplatz folgt, stieß diese Leute voran, um eine zu sehen, deren Leib zum Sarge ihres Kindes geworden war. Es fehlte wenig, und Neugier riß die Bettdecke von der Toten, das Mirakel zu schauen.

Als die Leute satt waren vom Gaffen und Traurigtun, singen sie an, mokant zu werden. »Es ist ein Jammer, der Himmel hätte mit einem Donnerkeil dazwischen fahren sollen,« sagte der Halbschöppler.

»Was willst du fluchen? Danke Gott, daß du kein Frauenzimmer bist!« bemerkte ein zweiter.

»Ganz recht!« fuhr ein dritter dazwischen. »Solange der Wackernagel lebte, da konnte es einem auch in einem Weiberrock wohl sein. Aber heutzutage, heutzutage!«

Auf den Zwiebelkuchen dieser Anspielungen lieferte die Hebamme gratis den Paprika in Form seiner Gesten, die ungefähr sagen wollten: ›Mir war es gleich Angst, als ich ihn sah, und wenn er nur noch auf mich hätte hören wollen, so konnte noch alles gut gehen. All mein Tag ist ein solcher Fall noch nicht vorgekommen, und ich war doch schon oft dabei, wo's gefährlich zuging.‹

Innocenz fühlte haßerfüllte Blicke auf seiner Haut brennen und nahm Reißaus. ›O die Schwefelbande!‹ dachte er. ›Den Emiko von Leiningen muß der Wahnsinn getrieben haben, daß er wagte, mit den Großvätern dieses Gesindels einen Kreuzzug in Szene zu setzen. War es ein Wunder, daß ihn ein Haufen ungarischer Zigeuner in die Flucht schlug?‹

Als der Arzt auf der Straße war, den Schnee unter den Füßen und eisigen Wind um seine Ohren fühlte, da wurde es ihm erst klar, daß er ein Obdach suchen wolle. Wohin? Am liebsten wäre er in einen Stall gekrochen, wo voraussichtlich Pankraz und Hannibal die Nacht in warmer, anständiger Gesellschaft verbrachten. Allein er war nicht kundig genug in Theben und mußte die Heimtücke halb zugefrorener Pfuhllöcher fürchten, die neben den Dunghaufen zu lauern Pflegen. So entschloß er sich, seine Schritte dem Wirtshaus zuzulenken, dessen schläfriges Licht durch gefrorene Scheiben noch immer auf die verschneite Straße blinzelte.

Die Stube, mit stinkendem Tabaksqualm gefüllt, war menschenleer und still, wenn man von einem leichten Singen absieht, das aus dem Ofen kam und der Schwanengesang feuchten Buchenholzes war. Innocenz schloß die Tür, weil er die Rückkehr der Kartenspieler fürchtete, und drehte die Lampe aus. Der irrende Feuerschein, der aus dem Ofenloche drang und flackernd auf der Diele hüpfte, genügte ihm. Er setzte sich hinter einen Tisch, legte den Kopf in die Handteller und überließ widerstandslos sein Gehirn all den Bildern, die in ihm ihr Wesen trieben. Da lag auf grauem Strohsack eine magere, blasse Leiche, die Haare noch feucht vom Todesschweiß, und sah ihn an mit fragenden Augen: ›Ist das alles, was du kannst, und zu dem Ende hast du beinahe zwei Jahrzehnte lang zu den Füßen berühmter Lehrer gesessen? Wärest du nicht besser, wie dein fetter Examenskollege, hinter ein Buffett gegangen und hättest Ölsardinen verkauft? Warum drängtest du dich nach großen Aufgaben mit Verantwortlichkeiten, die nun dein Gewissen belasten?‹

›Es schien so verlockend, sich als den Retter gepriesen zu sehen. War's nicht ein Stückchen Eitelkeit, die mitsprach, als du dich zu einer Rolle drängtest, die du nicht spielen kannst?‹ Innocenz fühlte einen brennenden Vorwurf tief im Innern. Eine ihm vordem fremde Zaghaftigkeit rüttelte an den Säulen seines ganzen Wesens; trübe und verschleiert lag die Zukunft vor dem Anfänger.

Der Gequälte suchte Vergessen und wollte sich zum Schlafe zwingen. Aber da sauste wieder ein Windstoß um die alten Mauern der Burg, heulte in die gesprungenen Gewölbe der Keller und Verliese hinein, bis in den fernen Winkel, wo sich der Edelmarder verbarg, der letzte feudale Bewohner dieser unwirtlichen Räume. Der schlaftrunken Ruhelose kam wieder zum vollen Bewußtsein seiner Lage und spann den schwarzen Faden weiter: ›Daß es aber auch nirgends einen Helfer gab, keinen auf Erden und keinen im Himmel. Hatte er nicht beim Eintritt in das Sterbehaus sein »O domina« gebetet und die geweihte Medaille an sein Herz gedrückt? Wo blieb sie, die Allerbarmerin mit den sieben Schwertern in der Mutterbrust?

Ja, so sind sie, die Weiber, alle gleich, hier wie droben. Solange es gut geht, hat man sie um sich, wenn aber die Planken krachen, dann verlassen die Ratten das Schiff. Wird Käthchen Sommertag eine Ausnahme von der Regel sein?‹

In diesem Augenblick schallte vom Hof herüber der frühe Weckruf eines Hahnes. Der Schläfer hob ein wenig den Kopf von der harten Unterlage und spähte nach den Fensterscheiben, ob noch nicht ein lichter Vorreiter der neuen Tagessonne durch das Glas gucke. Statt eines grauen Scheines, nach dem er sich gesehnt hatte, sah er ein unruhiges Flimmern und Funkeln tausendfach gebrochener Lichtstrahlen. Der Schein, der dem Ofenloch entschlüpfte, gebärdete sich in den Eiskristallen des Fensters wie toll, gleißte, glitzerte, glänzte, als ob er den ganzen Himmel mit all seinen Sternen gefangen hätte und ihn für Geld in der Dorfschenke sehen lassen wolle. Innocenz ließ sich diese Schaustellung gern gefallen, da sie einige Helle in das Dunkel seiner Seele warf, bis er ein Klopfen hörte an der Tür und eine Stimme, die ihm zurief: »Auf, auf, Herr Doktor! Wenn Sie nicht haben wollen, daß uns zwei die Ratten fressen, dann in die Stiefel und fort aus diesen Nestern, die von Ungeziefer wimmeln wie ein Proviantmagazin.« Gleichzeitig mit dieser Stimme kam von der Haustür her ein lebhaftes Kratzen, untermischt mit einem sehnsüchtig verlangenden Winseln.

Innocenz, der den Pankraz erkannte und Hannibal, sprang auf die Füße, streckte sich, stieß den Kopf an den Durchzugsbalken und öffnete die Tür. Es fehlte wenig, und der Hund hätte ihn in der Freude des Wiedersehens auf den Rücken geworfen. Der so Begrüßte fuhr ihm schmeichelnd über das weiche Fell und fühlte, daß es naß war. »Regnet es denn?« fragte er verwundert.

»Nein!« sagte Überdies. »Der Schlaumeier hat sich in die Krippe vor die Mäuler der Kühe gelegt und hat wärmer geschlafen wie ich im Stoßtrog unter den Ratten, die einem den Rindstalg aus dem Sohlleder knabbern. Machen wir, daß wir fortkommen, denn ich will lieber einen Igel schlucken, als noch eine Stunde unter diesen Nagern verbringen.«

Der Arzt hatte nur nach seinem Stock zu greifen und war marschbereit. Kein Laut verriet die frühen Wanderer auf der Straße. Kein Torwärter hemmte ihren Schritt. Längst war das Fallgatter aus der Schildmauer verschwunden. Gehen und Kommen stand seit Jahrhunderten schon zu jeder Tageszeit einem jeden frei.

Was keine vorgestreckte Hellebarde tat, vermochten die gelben Strahlen eines kleinen Lichtes, das neben dem Strohsack der Wöchnerin die Totenwache hielt. Innocenz stand und sann. Welch bitterer Vorwurf für den Adepten der ärztlichen Kunst, daß die geweihte Kerze brannte, während eine andere Flamme verloschen war! Mochte er sich tausendmal sagen: ›Kein Meister hätte in der gleichen Lage mehr zu leisten vermocht wie du,‹ stets erhob sich eine innere Stimme und rief ihre Wenn und Aber mitten in die gutgesetzte Verteidigungsrede hinein. Glücklich jene, von denen man nur Worte verlangt und keine Taten! Seit Jahrtausenden schon speist eine feiste Priesterschaft die Menschheit mit ererbten Phrasen ab und bleibt den Beweis schuldig für ihre Behauptungen. ›Ja, wer's so gut hätte wie sie!‹ dachte Innocenz traurig und schritt in den Spuren, die Pankraz und der Hund getreten hatten.

Der Rückweg über den langgestreckten Höhenzug gestaltete sich leichter als der gestrige Aufstieg. Merkwürdigerweise fand sich eine leidlich sichtbare Spur in dem Schnee, die der Wind noch nicht verweht hatte. Sollte schon irgendeiner aus dem verschlafenen Randersecken auf den Beinen sein und die Kunde von dem, was geschehen war, ins Pfarrdorf getragen haben? Nichts ist falscher als die Behauptung, daß die Lüge kurze Beine habe. Sie läuft im Gegenteil auf Stelzen durch das Land und schreit ihre Übertreibungen durch die Fenster des zweiten Stockes in die Häuser hinein.

Heute war sie in aller Herrgottsfrühe mit einem Waldhüter in die Stiefel gefahren, und als die drei Wanderer von der Höhe des Galgenbuckels auf das Gemengsel von Dunst und Morgenrauch, in dem Birkenried steckte und seine Gegenwart nur durch die Kirchturmspitze verriet, heruntersahen, da schlich unten ein dumpfes Gerücht von Haustür zu Haustür und schwärzte das Ansehen des Arztes, der keinen Absatz am Stiefel hatte, der geschwollenen Übertreibung den giftigen Kopf zu zertreten. Der Wohlwollende sogar wurde bei der schlimmen Kunde mißtrauisch, und selbst Käthchen Sommertag trat vom Fenster zurück, mitten in die Stube, und sah mit verschleierten Augen durch die Vorhänge, als die drei verschneiten Gestalten ihren verlegenen Einzug ins Dorf hielten.

Als der Morgen vorrückte und die Stunde kam, wo den Handwerker der erste Durst plagt, füllten sich die Wirtsstuben mehr als sonst mit Holzpantoffeln und Lederschurzfellen. Während die ehrenwerten Meister die wohlgeborene Kehrseite am Ofen wärmten und ihre Ohren dem Singen der Würste lauschten, die überm Feuer kochten, wurde die große Neuigkeit verhandelt, die von dem Forsthüter über den Galgenbuckel herübergebracht worden war. Darüber waren alle die sachverständigen Männer einig, daß man den seligen Doktor Wackernagel mit den Fingern aus der Erde kratzen müßte, und zwar auf Gemeindeunkosten. Während man zu seinen Lebzeiten nur Notiz von ihm nahm, wenn er einen Rausch hatte, war jetzt ein großes Klagen um den Toten wie um ein verlorenes Paradies. Wiegenmacher und Milchhändler, alle die hungrigen Leute, die von dem Bedürfnis des Kindes leben, sahen sich an den Rand des Verderbens gestellt und zeigten nicht übel Lust, auszuwandern nach fernen Breitegraden, wo man den Doktor Lorum nicht kannte und seine traurige Hilflosigkeit.

Als nun gar der Knochenfranzel in Überschuhen ins Zimmer trat, verließ man den Ofen und seine gesegnete Wärme und sammelte sich um diese Fackel spießbürgerlicher Erkenntnis. Der Biedere wischte etwas von dem Alkohol, für den er in den Augen einen Transitkeller angelegt hatte, von den Backen, zuckte mit den Schultern, schüttelte den Kopf und wetzte die Hosenbeine aneinander. Dann sprang er vom Sprungbrett und schwamm in einem Strudel der verwegensten Fremdwörter. Sprach von einer Pendation an eine hohe Fincenzkammer, damit von seiten der Regierung ein Distrikt käme und Einsicht nähme in die Konfektion, die dringend einer Korruption bedürfe. Wer nicht gerade an einem Würstel kaute oder ein Priemchen zwischen den Zähnen hatte, riß den Mund auf und glotzte den Knochenfranzel an, als ob er von der Insel Patmos käme und eine neue, geheime Offenbarung mitgebracht hätte.

Während die Leute so in gottgefälliger Harmonie wie Raben auf ein Aas hackten, kam ein Mann herein, den rasches Laufen um den Atem gebracht hatte. Vorerst stumm, schnaufte er zunächst ein paarmal, zog die Hände aus leinernen Fausthandschuhen, klopfte den Schnee von den Stiefeln und ergötzte sich an dem Wurstgeruch, der unentgeltlich im ganzen Zimmer zu haben war. Als er das Soll und Haben seiner Lungen endlich ausbalanciert hatte, kam ihm auch die Gabe des Redens allmählich, und er berichtete wie ein Amtsverkündiger: »In Niederwies, Bezirksamt Oberwald, war ein Gehöfte in Flammen geraten. Man hatte den Hausrat durch die Fenster gerettet. Der Bauer Hinterzaver vermißte unter den Gegenständen die Militärpapiere seines Sohnes Polikarp. Er war in das brennende Haus gerannt, während schon das Strohdach einen Buckel machte und jeden Augenblick einstürzen konnte. Doch es hielt, bis Hinterzaver mit Blasen an den Fingern wieder heraus war. Nun kann er seine Pfeife nicht mehr halten und verlangt nach einem Arzt.« Daß ein Wunder der Töpferkunst, eine Kaffeekanne mit vergoldeten Rändern, und die Bäuerin bei dem Brande umgekommen waren, erfuhr man auch so nebenher. Die Hauptsache aber blieb, daß der Hinterzaver die Finger verbrannt hatte und einen Arzt brauchte, der ihn kurierte. Er mußte seine Pfeife selber stopfen können. Es gab niemand, der ihm dies Geschäft zur Zufriedenheit besorgen konnte.

Die Leute in der Wirtsstube lobten und empfahlen aufs wärmste den Knochenfranzel. Dieser selbst schritt wie ein Remontepferd mit stolz getragenem Kopfe auf und nieder. Er balancierte einen Zwicker auf der Nase, hatte die Hände auf dem Sitzfleisch gekreuzt und ließ die Daumen in schöner Regelmäßigkeit umeinander kreisen. Wo so viele einsichtsvolle Männer zu seinem Preise redeten, konnte er ja schweigen.

Der Bote musterte das Wunderkind mit Interesse, als ob es der Gemeindebulle werden solle, und bemerkte erst nach längerem Besinnen: »Aber sagt, wie soll ich diesen wackligen Stoßtrog mit seinen Bügeleisenfüßen bei diesem Wetter nach Niederwies bringen? Laufen wird er nicht wollen und tragen tu' ich ihn nicht.«

»Nichts leichter!« ließ sich eine Stimme hören. »Der Hintersteiner hat seinen Schlitten in der Schmiede stehen; der Kohlnickelbauer ist jedem dankbar, der ihm die Pferde bewegt, und der Pankraz Überdies sitzt schon seit Wochen auf seinen Schinken und pfeift einem Starmatz den ›Laudenbacher‹ vor. Da liegen also Kutscher und Gefährt beisammen, wie die Wurst beim Sauerkraut.«

»Fragt den Knecht, ob er fahren will!« sagte der Fremde.

Man schickte nach Pankraz. Er machte keine weitere Schwierigkeit, vorausgesetzt, daß ihm der Franzel am Ziel der Reise eine Mahlzeit zukommen ließe. Man fand die Forderung honett, und ehe noch eine halbe Stunde verging, saß der Franzel, die Füße sorgsam in Stroh verpackt, auf dem Hintersitz, Pankraz auf dem Kutscherbock, und der Schlitten rutschte hinter den Gäulen zum Dorfe hinaus.

Es war eine vergnügliche Fahrt. Die Pferde freuten sich nach der Wintergefangenschaft des weiten Fernblickes. Sie haschten nach den Horizonten. Die ganze Sehnsucht ihrer Rasse nach ungemessenen Weiten lebte in ihnen auf. Sie waren, was einst ihre Ahnen waren auf der tibetanischen Hochebene, bevor sie um das Linsengericht der Stallfütterung ihre Freiheit verkauften, die Gesellen des Sturmes.

So schoß der Schlitten über den Boden hin, und gequält zischte die Luft, als er sie grausam durchschnitt. Pankraz auf seinem Bocke freute sich nicht weniger als die Rosse, und er hatte nichts dagegen, daß sich der Wind den Spaß machte und ihm die Ohren rieb.

Weniger gut aufgehoben war der Knochenfranzel. Seit Jahren bohrte der Holzwurm in dem Schlittengestell und lockerte die Fugen und Verzapfungen. So hatte die Fregatte nach Backbord eine starke Schlagseite. Diese Tatsache wurde dem Wunderdoktor durch manchen Stoß und Puff unter die kurzen Rippen zum Bewußtsein gebracht. Er seufzte lauter noch als der Wind und bat den Fuhrmann bei allen Heiligen, die Gangart der Pferde zu mäßigen.

Pankraz gab sich den Anschein, als ob er das Gebet des Gerechten erhören wolle; aber während er einige beruhigende Worte an die Tiere verschwendete, ließ er heimlich die Peitschenschnur auf deren Rücken tänzeln, und sie waren nicht im Zweifel, was sie tun sollten. Wilder nur warfen sie die Beine in den wirbelnden Schnee, und das Schlickern verdoppelte sich.

Der Franzel in seinem Ärger fluchte eine Million Donnerwetter auf einen Haufen vor sich hin und spuckte darauf. Die Sache blieb dieselbe. Schließlich tröstete er sich, als er sah, daß ein Meilenstein nach dem andern an ihnen vorbeiflog, damit, daß außer der Ewigkeit alles ein Ende nehme.

Schon kroch ein kratzender Brandgeruch aus der Talmulde über den verschneiten Hügel und kitzelte die Nasenschleimhäute der Reisenden. Bald auch sah man eine klumpige Rauchsäule über einem geschwärzten Trümmerhaufen aufsteigen und sah Funken, die wie glühende Mücken in dem geballten Wirrwarr tanzten. Der erste Bauernhof, den man passierte, war wie ausgestorben. Kein Hund regte sich, nicht einmal der Brunnen plätscherte. ›Hier wird der Verletzte nicht untergebracht sein,‹ dachte Pankraz und fuhr vorüber. Beim zweiten und dritten Hof die gleiche Leere. Vorm vierten standen Schulkinder um die Feuerspritze und hielten mit gereiften Gesichtern unter sich einen Rat wie die Erwachsenen. Als der Schlitten kam, guckten sie auf und gaben Antwort, als der Fuhrmann fragte: »Wo haben sie den Hinterzaver hingebracht?«

»Wir wollen's Euch zeigen!« schrien alle wie aus einer Kehle, »aber Ihr müßt absteigen. Es geht hier zwischen den Hecken ein paar Treppen in die Höhe.« Und sie deuteten alle mit den Zeigefingern nach einem Hofe, der hinter den Obstgärten im Gelände lag.

Es war ein schweres Stück, den steifgefrorenen Franzel aus dem Schlitten zu bringen, zumal Pankraz ungefällig wie ein vereideter Güterbestätter auf seinem Bocke sitzen blieb. Während die Mädchen lachten, sprangen die Knaben hilfsbereit herzu, setzten dem Alten den Fuß aufs Trittbrett, unterstützten ihn in der Achselhöhle und brachten ihn glücklich auf den Boden. Nun streckte er sich, pustete, hustete und nießte gleichzeitig, so daß über diese vielseitigen Lebensäußerungen unter seinen Zuschauern eine große Heiterkeit entstand.

Pankraz lachte mit und rief den Kindern zu: »Bringt dies Mutterschwein zum Hinterzaver hinauf, aber nehmt Eure Waden in acht, es grunzt nicht nur, sondern beißt auch.« Damit gab er den Pferden die Peitsche und fuhr vor zum »Blauen Henkelkrug«, wo er einstellte. Der Wirt stand unter der Tür und kratzte sich gelangweilt den kahlen Schädel unter dem Stulpkäppchen.

»Hast du einen von den Leuten mit den grünen Kragen hierhergebracht?« fragte er.

»Nein, den Knochenfranzel!« war die Antwort. »Aber nun frag' nicht lang', du Beutelratte, und lauf, so schnell es dir dein Kropf erlaubt, nach Speisekammer und Keller. Der Franzel hat mir gesagt, daß ich eine Kleinigkeit genießen könne auf seine Rechnung, verstehst du, auf seine Rechnung!«

Des Wirtes Beine konnten flink sein, wenn sie auf den Wegen des Profites wandelten. So dauerte es denn nicht lange, und Pankraz saß vor einem halben Schinken, dem ein Maßkrug stimmungsvoll zur Seite stand.

»Wie einer ißt, so schafft er auch!« sagte er zu dem Gasthalter und tat sich gütlich, als der Knochenfranzel wider alles Erwarten zur Tür hereingestürzt kam.

»Da sitzt dies Untier!« sagte er verärgert. »Daß es einer so gut hätte wie Salomons Lilien und dieser Tunichtgut. Er kleidet sich, ißt und trinkt und fragt nicht, wer's bezahlt.«

»Wer's bezahlt?« sagte Pankraz. »Soll ich dir unseren mündlichen Vertrag mit einem Schälprügel auf den Buckel schreiben?«

»Was nützt dich dein Vertrag?« höhnte der Franzel. » Ultra posse nemo tenetur. Denkst du, der Bauer hat mir einen roten Heller gegeben? Ihr müßt Geduld haben,‹ meinte er, ›bis zur nächsten Schafschur. Ich werde Euch Wolle schicken, und Ihr könnt Eure Strümpfe damit stopfen lassen.‹ Doch was helfen mir ganze Strümpfe, wenn ich ein Loch im Magen habe.«

»Geht's den Weg!« sagte Pankraz. »Dann, Wirt zum ›Blauen Henkelkrug‹, behaltet mir den Alten als Faustpfand. Ich fahre allein nach Haus.«

»Du könntest mir die Pest im Hause lassen, sie wäre mir lieber wie dieses Schwarzwild. Mach', daß du ihn über die Schwelle bringst, oder er fliegt die Treppe hinunter.«

»Überhastet Euch nicht!« mahnte Pankraz. »Am Ende bringt Ihr mit den Händen wieder ins Haus, was Ihr jetzt mit einem Fußtritt vor die Tür setzt. Einstweilen will ich dies Kolli Lumpen mitnehmen, vorausgesetzt, daß er mir nicht den Schlitten durchdrückt.«

Nach diesen Worten ging Überdies, bereitete sein Gespann und fuhr vor.

Der Knochenfranzel war ins Freie getreten, zog seinen Überrock stramm über den Bauch und stieg auf den Schlitten.

»Laßt Euch den Abschied nicht zu schwer werden!« rief Pankraz dem Wirte zu. »Ihr seht ihn wieder, schneller als Ihr denkt.« And er nestelte unbeachtet an dem alten Schlittengestell einige Riegel los.

Die Pferde scharrten mit den Vorderbeinen im Schnee und spitzten die Ohren vor Ungeduld. Endlich kam, was sie wollten. Ein leichter Hieb über den Rücken, und beide schossen ins Geschirr. Ein Ruck schleuderte den Franzel gegen die Sitzlehne.

Krachend gaben die morschen Bretter nach, und vorm »Blauen Henkelkrug« wälzte sich der Knochenfranzel, während das Gefährt, in eine weiße Schneewolke gehüllt, durchs Dorf sauste. Wie ein Unwetter ging es über die Erde hin. Der Wind schnitt dem Pankraz mit Messern ins Gesicht. Was lag daran? In ihm loderte das warme Feuer der Schadenfreude. Er hatte den Stern von Birkenried vom Himmel heruntergerissen. Die Leute hatten eine neue Sensation, und das Weinen von Randersecken wurde durch das Lachen von Niederwies erstickt.

Als Pankraz im Zwielicht einer kurzen Winterdämmerung seinen Schlitten unter das Vordach der Schmiede lenkte, gab es ein großes Zusammenlaufen, Gaffen und Wunderwerken. Müßiggänger, wie sie immer um den Amboß stehen, kamen heraus und betrachteten den Schlitten. »Wo hast du den Franzel gelassen und den Rücksitz?« hieß es von allen Seiten.

»Fehlt was?« sagte Pankraz und drehte sich mit harmloser Neugier nach hinten.

»Nun frag' auch noch!« sagten die Leute. »Wenn du nicht wieder im Kopf zuviel hättest, so könntest du nicht heimkehren und am Fuhrwerk zu wenig haben.«

Pankraz erbot sich, ein Dutzend Meineide zu leisten, wenn er wisse, wo der Franzel mit dem Schlittensitz stecke. »Irgendwo zwischen Niederwies und Birkenried muß beides der Teufel geholt haben. Wer dem Satan seine Beute abjagen will, der mag den Weg nach Niederwies zwischen die Beine nehmen.«

Die Leute zerstreuten sich nun. Aber wieviele auch mit schönen Worten das Verschwinden des Knochenfranzels beklagen mochten, nicht einer ging, um ihn zu suchen. Mit einer fidelen Neuigkeit geladen an den warmen Stammtisch zu treten und diese auszukramen, das war freilich angenehmer, als sich in das Frieren einer verschneiten Winternacht hineinzuwagen.


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