Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

»Notabene, drei Zoll Neuschnee und zerrissene Sohlen, das sind Dinge, die das indolenteste Hühnerauge zum Aufschreien bringen können. Glücklich, o ja, glücklich der Mann, der in ganzen Stiefeln steht, wenn das Schneewasser wie die Frösche unter dem Absatz quakt.«

So hatte Pankraz Überdies anfangs November zu seiner frierenden Seele gesprochen, hatte im Eisenschuppen eines Trödeljuden seinen Schleifstein unter den Dachfirst gehängt und war nach Birkenried zurückgekehrt. Hier fand er bei Doktor Lorum eine hohe, genügend fundierte Anstellung auf dem Kutscherbock. Anderthalb Meter über dem Straßenkot, in einem Mantel aus Schafspelz und in Rohrstiefeln bis zum Knie herauf kam er sich vor wie der Präsident der Insel Haiti, und, hast du nicht gesehen, schossen seine Pferde zum Tor hinaus. Heisa, juchhe!

Die Hunde waren empört über das polizeiwidrige Fahrtempo, sausten aus den Höfen und suchten die Pferde an der Trense zu fassen. Pankraz verstand sich darauf, ihnen mit der Peitsche eins aufs Fell zu brennen. Da machten sie vertrackte Sprünge in die Luft, fielen nieder und füllten die Löcher aus, an denen im Straßenpflaster kein Mangel war. Wenn des Doktors Pferde, die diesmal nicht von Löb Moschele aus Fränkisch-Krummbach bezogen waren, über die Straße rasten, dann spuckte das Pflaster Funken und die Fensterscheiben bedeckten sich mit einem klumpigen Kotbewurf. Wer nicht gerade Hund war und einen Spritzer von der Größe einer Pelzkappe vertragen konnte, sah der wilden Jagd mit Behagen zu. Andere flüchteten und meinten, der Pankraz wäre reif fürs Zuchthaus und sein Herr für eine Irrenanstalt.

Bezüglich des letzteren hatte man vielleicht nicht weit neben das Schwarze geschossen. Innocenz war in der Tat von den Schatten einer schweren Melancholie umdüstert. Seine Züge waren unfreundlich und hart geworden, und man konnte es den Säuglingen nicht verdenken, wenn sie seiner Erscheinung den Rücken kehrten und über die Achsel der Mutter brüllten wie die Kühe über die Koppel.

Diese Störrigkeit, für die er sich keinen plausiblen Grund denken konnte, reizte ihn, und er haßte diese mißtrauischen Bestien, die seinem Bestreben, ihnen auf die krummen Beine zu helfen, einen so unvernünftigen Widerstand entgegensetzten. Er wurde kurz angebunden, sparte nicht an harten Worten und griff den widerspenstigen Kleinen derb in die Schenkel. Nur zuweilen, wenn das Bild eines weißgekleideten Knäbleins, das zwischen Chrysanthem und Hyazinth im Schatten der Sykomoren hilflos hinwatschelte, vor seine Seele trat, konnte er weich und nachsichtig werden wie eine Kindergärtnerin.

Aber dann kam wieder die Vorstellung eines anderen, das noch ungeboren, doch schon wie ein häßlicher Engerling an den Wurzeln einer Rose nagte; und er war wieder zugeknöpft, herrisch und fast verdrossen in der Ecke seines Wagens, während Pankraz fidel wie eine Haselmaus auf dem Bock saß.

Bei all diesem lähmenden Pessimismus vernachlässigte Innocenz doch keinen seiner Kranken. Sein Mahl blieb ungenossen, sein Schlaf ungekostet, sobald die Klingel rief. Er war unermüdlich bei Tag und Nacht, aber er arbeitete schwer, weil ihm die Freude fehlte, die bei jedem guten Werke Pate stehen soll. Seine Arbeit war ein ermüdendes Tagelöhnern, dem die Begeisterung keinen Schwung gab. Schon manchmal war ihm der Gedanke gekommen, sein Bündel zu packen und zum zweitenmal in die Welt hinauszuwandern. Aber wenn er dann wieder des Nachts an den matt erleuchteten Kammerfenstern von Käthchen Hebenstreit vorüberging und sich vorstellte, daß da ein Weib den Mut hatte, sich zu ducken und die Verleumdung wie einen Eisenbahnzug über sich hintoben zu lassen, dann wich sein Ingrimm, und ein namenloses Mitleid nahm Besitz von seiner beweglichen Seele. Ja, mehr noch. Eine Art Bewunderung regte sich vor einer Heldengestalt, die stark genug war, die Folgen ihres Handelns zu tragen. Verstohlen, fast zaghaft, aber doch erwünscht kam zuweilen auch der Gedanke, daß hier das Schicksal aus Mißverständnissen einen Knoten geschürzt habe, bei dessen Lösung seine Persönlichkeit eine Rolle spielen könne. »In der Nähe der Entscheidung bleiben,« hieß von da ab für Innocenz die Parole.

Der Buchbinder im Dorfe hatte in diesem Jahre mehr Kalender verkauft als je. Man hatte sie ausnahmsweise von vorn nach hinten gelesen. Man hatte gerechnet und verglichen und schließlich im Eifer der Diskussion die Blätter zerrissen. Man hatte die Hebamme, wann und wo man sie auch traf, zum Stehen gebracht, ihre Gebärden geprüft und ihre Worte wie Sibyllensprüche gedeutet. Denn wie das Alte Testament auf den Messias, so wartete dieser neue Bund der Gerechten auf das, was Frau Hebenstreit der Welt zu schenken hatte. Die aber machte keine Anstalten. Da wurden die Leute endlich müde, sprachen nichts mehr, und Biedermänner, die vor Monaten noch wie eine Windmühle geklappert hatten, behaupteten mit dem ehrlichsten Gesicht von der Welt, niemals einen Ton von sich gegeben zu haben.

Mitten in den dörflichen Präliminarfrieden hinein schlug plötzlich eine zischende Bombe. Ein Brief von Balduin Hebenstreit war angekommen und enthielt die Mitteilung, daß er begnadigt sei und demnächst zurückkehren werde. Die Epistel war nicht an seine Frau gerichtet, sondern an den Vorstand des Kaninchenzuchtvereins, Anton Hasenbalg, und enthielt auf dem Kuvert das Prädikat »Hochwohlgeboren«.

Auch ohne dieses Wort hätte der hochmögende Bürger die Ehre zu würdigen gewußt, die ihm durch ein Handschreiben des größten Grundbesitzers der Gemeinde zuteil geworden war. Mit diesem Worte aber kam er sich vor wie in den Adelsstand erhoben. Er lief erhobenen Hauptes unter dem Durchzug seiner Stube hin und her, wunderte sich über den Umstand, daß er den Kopf nicht anschlug, und warf aus seiner erhabenen Höhe herab mitleidsvolle Blicke nach seinem Weibe, die in Niedrigkeit vor dem Ofenloche saß und Rüben schälte für ihn und das liebe Rindvieh. Nach längerer, gedankenreicher Höhenwanderung mußte dem Anton Hasenbalg plötzlich ein Gedanke gekommen sein, denn er blieb stehen und schrie seinem Weibe in die halbtauben Ohren: »Einen Federhalter, ein Königreich für einen Federhalter!«

Die Alte sah ihn mißtrauisch wie einen Vogelsgroschen von der Seite an und sagte trocken: »Was meinst denn mit dem Federhalter?«

»Schreiben muß ich, schreiben! Dinge, große Dinge, für die deinesgleichen kein Verständnis hat!« brüllte er und hob sich wie ein Gänserich mit Flügelschlagen auf die Zehenspitzen.

Die Dame des Hauses aber ließ sich von dem Getue nicht imponieren und entgegnete trocken: »Wenn einer von deiner Sorte über ein Gestellche ›Federhalter‹ sagen kann, dann muß es ihm nimmer recht im Kopf sein,« und langte zum Zeichen dafür, daß die mündlichen Auseinandersetzungen für sie geschlossen seien, nach der Ofengabel.

Anton Hasenbalg war kein tapferer Mann und zudem ohne Waffe, aber wenn er selbst in einer Ritterrüstung gesteckt hätte, angetan mit Helmzimier und Lanze, er hätte den Kampf mit der Ofengabel nicht aufgenommen. Langsam ließ er sich von den Zehenspitzen auf die Absätze nieder und ging bescheiden selber, um sich die Fragmente eines verstaubten Schreibzeugs mühsam zusammenzusuchen.

Er schwitzte und schrieb, und innerhalb weniger Stunden wußten die hochmögenden Vorstände des Samariter- und Sanitätsvereins, des Skat- und Dominoklubs, der Sing- und Sanggenossenschaft und viele andere ehrenwerte Männer, daß am Abend eine Generalversammlung im Rathaussaale stattfinden werde.

Einziger Punkt der Tagesordnung, von Anton Hasenbalg entworfen und verteidigt, war: »Ehrung unseres heimkehrenden Mitbürgers Balduin Hebenstreit aus den Fesseln der Ungerechtigkeit.«

Der wortbegabte Redner führte des längeren aus, daß Baldachin das Opfer der blinden Göttin Instanzia geworden sei, womit er nicht sagen wolle, daß besagtes Weibsbild keine Strafe verdient hätte. Aber obwohl sie die Wage der Gerechtigkeit in der Hand führe, so ginge es her wie bei der scheelen Krämerbärbel, manchmal zuviel Kaffeebohnen, manchmal zu wenig. Bei Baldachin entschieden zuviel. »Deshalb, verehrte Mitbürger,« fuhr er fort, »glaube ich keine Fehlbitte zu tun, wenn ich im Namen Deutschlands vorschlage und soviel an mir liegt, zum Beschluß erhebe, daß die sämtlichen Vereine Birkenrieds dem Balduin Hebenstreit am Tage der Befreiung entgegeneilen und ihn heimführen zu seinen Glaubensbrüdern, die selbstbewußt und unentwegt an Gott und seine Unschuld glauben.«

Den erleuchteten Worten des Redners folgte zunächst ein lautes Bravo und dann eine Abstimmung, die dem heimkehrenden Balduin ein Ehrengeleite von siebenundzwanzig Vereinsvorständen und einem Dutzend Ganz- oder Halbjungfrauen sicherte.

Michel Korzeborn hatte für den Triumphzug gestimmt, weil er dem entlassenen Sträfling noch ein Ackerziel schuldig war, Velten Haberkorn, weil er ihm einen Jagdhund aufhängen wollte, und Konrad Wohlgemut, weil er hoffte, daß es am Abend einen Sauerbraten mit Freibier absetzen werde, Dinge, für die er sich begeistern konnte.

So zog denn ein flatteriger Haufe grölend wie ein Rekrutenjahrgang eines Tages zum Dorfe hinaus und nach der Eisenbahnstation, um den Balduin Hebenstreit heimzuholen. Vor sich hatten die Leutchen die verlockende Aussicht auf einen guten Fraß, hinter sich leere Schusterstühle, erkaltete Essen und die brennende Frage, wie die Dinge sich jetzt weiter entwickeln möchten und ob sie mit Lachen enden würden oder mit Weinen.

Merkwürdigerweise war Käthchen Hebenstreit die ruhigste von allen, die der Fall interessieren mußte. Es war, als ob sie alles nichts anginge. Sie war nicht Klägerin noch Angeklagte, und einen Richter schien sie auf Erden nicht zu kennen. Mit dem Himmel war sie im reinen. Die Erde kümmerte sie nicht. Wie auf eine Hammelherde konnte sie ruhig und sicher auf ihre Mitmenschen herniederblicken. Wenn sie auch das Blöken der Vernunftlosen vernahm, ihr Beißen schien sie nicht zu fürchten. Sie sah, auf einen höheren Ausgleich rechnend, wie der Held einer Tragödie den Dingen entgegen, die kommen mußten. Ein wüster Lärm wälzte sich in der Abenddämmerung an ihrem Hause vorüber und ins Dorf hinein. Ein Stimmengewirr, ein Gekreische, aus dem kein Wort herauswuchs und im Hörer eine Vorstellung zu erzeugen vermochte. Und doch wußte Käthchen Hebenstreit, was das Ganze besagen wollte. Schon hatte der Wein die Sinne umnebelt und das bißchen Anstand beseitigt, an dem seither die Zunge gefesselt lag. Nun konnte es losgehen über sie, und es ging los.

Die Gesellschaft war im »Bären« angekommen, und der Wirt hatte den Spunden aus einem frischen Fasse geschlagen. »Dein Wohl, Balduin!« erklang es von allen vier Kanten der langen Wirtstafel.

»Trink und iß, denn du hast nachzuholen. Mit Gänsebraten werden sie dich nicht gefüttert haben!«

»Dann wäre er am Ende gar nimmer heimgekommen,« rief der Hasenbalg witzig.

»Er hätte schon noch eine Weile ausbleiben können,« fiel eine Stimme boshaft ein. »Wo ein Geselle ist, der die Hobelbank bedient, kann der Meister spazieren gehen.«

Alle horchten mit verhaltenem Atem auf. Diese Anspielung mußte doch verstanden worden sein; und sie war verstanden worden. Balduin ward flammenrot im Gesicht und erhob sich schwankend. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten und sich selber Musik dazu machten.

»Wer dem Balduin geschafft hat, der hat noch immer seinen Lohn bekommen. Auch diesmal wird mit richtigem Gelde ausbezahlt!« schrie er großmäulig. »Wo aber der Empfänger sich die Münze wechseln läßt, das ist seine Sache.«

»Bravo, Balduin!« schrie ihm die Menge der Schmarotzer entgegen. »Du wirst was anderes zu tun wissen als der Zimmerer Hackebeil, der die Hose von seinem Hausfreund durchs Fenster warf. Bei dir wird schon auch noch ein bißchen was von deinem Nothelfer drin stecken bleiben, wenn's ans Rausschmeißen geht.«

Balduin hatte während dieses satanischen Hetzens ein Glas nach dem andern in sich heruntergestürzt, um die Wut zu ersäufen, die in ihm kochte. Weiß Gott, der Aufenthalt im Gefängnis war nichts Angenehmes, aber die Gesellschaft dieser Teufel war es auch nicht. Hätte man ihm den Schänder seiner Ehre mit tausend Messern bewaffnet gegenübergestellt, wehrlos wäre er ihm mit den Zähnen an die Kehle gefahren. Aber hier, wen sollte er hier anfallen, wen erwürgen, wo doch nur Freunde um ihn waren. Freunde allerdings, die seine Seele marterten, aber doch dadurch nur, daß sie ihm die Augen öffneten und ihm zeigten, was alle Welt wußte. Könnte er ihnen doch das Wort Lügner auf die Stirne brennen, sie zerschmettern! Doch mit welcher Waffe? Er hatte keine sich zu wehren. Das Gefühl, daß er ohnmächtig sei, konnte er nicht tragen, er mußte es betäuben.

So griff er nach dem Glase und immer wieder nach dem Glase. Er wurde müder und müder, und schließlich lag er wie ein leerer Sack in seinem Lehnstuhl. Jetzt hatte er für seine Gäste schon gar nichts Ernstes mehr an sich. Das einzige, was sie von ihm fürchteten, war, daß er ganz einschlafen und sie um den Spaß bringen könne.

»Balduin,« schrie ihm einer ins Ohr, »dein Stammhalter soll leben!«

»Soll leben!« kreischte die Menge amüsiert.

»Jedenfalls gibt's einen Kapitalkerl,« bemerkte Hackebeil. »Er nimmt sich Zeit zum Kommen.«

»Laß ihn doch. Es wird ein Herrnhuter sein, die haben nichts zu pressieren, da sie vorm vierzehnten Jahr ja doch nicht getauft werden,« witzelte Hasenbalg.

Diese Bemerkung erregte ungeheure Heiterkeit und weckte Balduin aus seinem schweren Halbschlummer. Noch einmal schlug er auf den Tisch, aber kraftlos, und seine Stimme lallte mehr als sie sprach.

»Euch kann ich's anvertrauen, ihr Brüder. Kindstauf wird's schwerlich, aber ein Leichenschmaus kann's werden, ein Leichenschmaus!«

Die Saufgesellschaft war so weit, daß sie über alles gelacht hätte, sogar über ein Erdbeben, um wievielmehr mußte sie erheitert sein über die ohnmächtige Drohung des betrunkenen Balduin! Sie prosteten zwischendurch. Die Gläser zitterten widereinander und gaben einen weinerlichen Ton von sich. Vielleicht war die spröde Materie weitschauender und einsichtsvoller als das Menschenherz!

Zwischen dem Bärenwirtshaus und der Taubhausmühle bestand an diesem Abend eine geheime Verbindung, hergestellt durch den besorgten Notabeneoja. Er saß unter den Zechbrüdern und schien der trunkensten einer, aber er hatte wie ein Polizeihund die Ohren gespitzt und die Nase am Boden. Als er wußte, was er wissen mußte, torkelte er aus dem Kreise der Zecher und war zehn Schritte von der Kneipe entfernt wieder so nüchtern, daß er auf Verlangen über die Latten eines Schafpferches gelaufen wäre. Er hatte das Zeug in sich zu einem Militärbevollmächtigten bei einer fremden Großmacht. Er konnte stumm sein wie ein Stockfisch, blind wie eine Katze vor dem neunten Tage, und doch, nicht leicht entging ihm etwas.

Als er Käthchen Hebenstreit an diesem Abend alles erzählt hatte, was er wußte und sie wissen mußte, blickte er sie mit großen, treuen Augen an, wie ein Bullenbeißer, der nur auf einen Wink wartet, um sich auf den Keiler zu stürzen. Noch waren ihm Herz und Hände rein von Menschenblut, aber wer weiß, er war zu vielem fähig! Wozu ihn die Millionen eines Rothschild nicht bewogen hätten, dazu hätte ihn ein Wort von diesem Weibe gebracht.

Doch Käthchens Gedanken gingen auf anderer Fährte. All die Monate her hatte sie gefühlt, daß ihr Mann berechtigt wäre, zu fragen nach dem, was ihr selber so rätselhaft war, warum ihre Erscheinung einem Verdachte das Wort redete, der sie entehrte und ihn. Das Wiedersehen mit ihm hatte sie in ihren Gedanken in eine stille, einsame Stunde verlegt, wo das Herz sich vertrauensvoll dem Herzen öffnet. Da wollte sie vor seinen Augen die Hand ins Feuer legen und ihn bitten, einen Arzt heranzuziehen, der den bangen Zweifel löst und wegwischt, was trennend zwischen Mann und Frau liegt. Wie oft hatte sie gedacht, daß er, von der Haft erlöst, still und bedrückt durch die Hintertür schleichen werde. Da wollte sie ihn verzeihend empfangen und ihm als ihrem Gatten und Herrn Rechenschaft ablegen über alles, was während seines Fernseins ihrer Hut anvertraut war.

Und nun, wie war er wiedergekommen? Wie ein Zirkusklown inmitten einer grölenden Bande. Trunken und halb nur seiner Sinne mächtig, hatte er sein Ohr von niederen Zuträgern mit Schmutz füllen lassen. Hatte sie Bäche von Tränen, um die Schrift auszuwaschen, die mit dem Scheidewasser des Hohnes von Nichtswürdigen in seine Seele geschrieben war? Brauchte sie wie ein armer Sünder dazustehen und einen ungerechten Richter zu bitten, daß er den meineidigen Zeugen keinen Glauben schenke? Sprach nicht ihr Leben für sich selbst?

Der Stolz bäumte sich in ihr zur Riesengröße. Sie verachtete ihren Mann mitsamt den schmutzigen Gesellen, die an ihm hingen. Ihm war sie keine Rechenschaft schuldig.

»Ordne, Pankraz, das Zimmer des Herrn!« so bat sie. »Er soll sein Haus wenigstens bereitet finden, wenn er kommen sollte.«

Dann versuchte sie fortzugehen. Als sie schon der Tür nahe war, blieb sie unentschlossen stehen. Ein Plan schien in ihr zu reifen. Sie drehte sich um und sagte: »Pankraz, würdest du die Nacht opfern und etwas für mich tragen wollen?«

»Soviel wie eine Brücke trägt!« war die Antwort, und der Notabeneoja stopfte die Hosen in seine Stiefelschäfte und blickte durchs Fenstervorhängelchen nach dem Wetter.

Am andern Morgen sah das Gesinde in der Taubhausmühle sich verdutzt an und niemand wußte recht, wo er zulangen sollte. Die Herrin des Hauses war fort. Der Notabeneoja hatte ihr kleines Bündel getragen, war aber schon wieder zurück, putzte mit hellen Augen des Doktors Pferde und pfiff ihnen eine lustige Weise, die sie gerne hörten.

Nun die Hausfrau fort war, begann in der Mühle ein unruhiges Kommen und Gehen wie in einem Bienenkorb, nur daß niemand eintrug, sondern alle fortschleppten. Balduin Hebenstreit hatte mit einem Male mehr Freunde, als ein Weißgerber Hammelschwänze. Valentin Streckfuß kam und Konrad Krumholz und brachten den Jakob Stierstädter mit. Man aß und trank, was der Magen fassen konnte, und bezahlte mit Schimpfreden über die gottvergessene Ausreißerin und plumpen Schmeicheleien, die sich wie ein schmieriges Pflaster auf die wunde Heldenseele des Hausherrn legten. Diese unbescheidenen Zugreifer hatten ihre Gegenfüßler in sanfteren Naturen, die mit vergrämt mitleidsvollen Gesichtern und leeren Taschen im Halbdunkel kamen und mit vollen Schürzen im Dunklen von dannen schlichen.

Suse Innigrot, die Gottesfürchtige, reinigte Balduins Schlafzimmer und führte die Haushaltungskasse mit Gewissenhaftigkeit gegen sich selber. Wenn sie im Abendnebel heimging, hatte sie die frommen Finger zur Faust geballt und konnte sie nicht strecken, nicht einmal, um ein Kreuz zu schlagen, wenn ihr Weg am Missionsherrgott vorüberführte. So mußte sich der Gekreuzigte mit einem Knicks begnügen und traurig zusehen, wie das Gut der Taubhausmühle verpraßt und in alle Winde zerstreut wurde.

In dieser Zeit des Faustrechtes geschah es, daß der Notabeneoja seinem Herrn einen Brief, von zierlicher Damenhand geschrieben, auf den Tisch legte. Innocenz erbrach das Siegel und las:

»O, Sie Einziger,

dem ich klagen möchte, wie der Herr mich drückt in seinem Grimm. Ich bin vor ihm geflohen; in die Stille meiner Kammer habe ich mich verborgen, um zu warten, bis sein Zorn vorübergehe. Aber er will nicht von mir weichen, und ich sehe kein Ende all der Wirrnisse. Ich bin den Menschen die wandelnde Sünde geworden, und ich darf sie nicht schelten, denn mein eignes Fleisch redet gegen mich. Und doch, mein Herz ist rein, und es hofft, daß die Wahrheit noch durchscheinen möge, wie der Mond durch Gewitterwolken scheint.

Aber bald muß es sein. Ich fühle, daß mir ein Verhängnis droht und mich in den Abgrund reißen will. Schließt sich über meinem Leibe das Grab, so ist mit mir auch meine Ehre eingescharrt, und das soll nicht sein. Ich bin es meinen Toten schuldig, daß ich mich dagegen wehre. Können Sie helfen, das Dunkel um mich zu erhellen, dann bitte ich mit aufgehobenen Händen den Arzt in Ihnen, daß er kommt. Vieles habe ich in mir niederkämpfen müssen. Nun aber bin ich entschlossen, und mein Leib soll Ihnen kein Geheimnis sein.

Ihre unglückliche
Käthchen Hebenstreit.«

Innocenz war zunächst peinlich berührt von dem Briefe und seinem Inhalt. Was hatte er mit dem Weibe zu schaffen? Seit jenem Samstagabend, wo sie im Scheine der Lampe gestanden, war sie ihm eine Fremde geworden. Das Bild der Frau Hebenstreit, das der Film seines Gehirns damals aufgenommen, glich in keinem Zuge mehr dem Käthchen Sommertag, das er einst geliebt hatte. Warum und wieso glaubte sie, daß er ihr helfen könne, ihr helfen müsse? Das Ansinnen hatte etwas Beleidigendes.

Schon hatte er die Kerze angezündet, um den Brief in Flammen aufgehen zu lassen. Da vermochte er es doch nicht. Er schob ihn in die Brusttasche neben den Laufzettel, der die Reihenfolge seiner Krankenbesuche regelte. So wanderte das Schreiben mit dem Arzt drei Tage lang von Bett zu Bett, kam ihm unter die Augen, wurde wieder versteckt, aber es schwieg nicht, sondern redete immer wieder bittend und beschwörend für Käthchen Hebenstreit. Zuletzt war Innocenz weich und nachgiebig geworden. Der stumme Mahner siegte über seine feige Bedenklichkeit. Er beschloß zu gehen.

Es war ein schwüler Sommersonntag. Die Sonne stand im Zenith und heizte dem einsamen Wanderer gehörig ein, der da auf weichem Grasweg zwischen Kartoffel- und Rübenfeldern über den schattenlosen Bergesrücken zu kommen suchte. Sabbatstille lag über der Gegend. Keine Lerche trällerte in der Luft; Grille und Heuschrecke lagen im Schatten halbverdorrter Grashalme und hielten ihrerseits Sonntagsruhe, so gut es ging. Die stille Feierlichkeit war unheimlich, beengend. Eine nervöse Spannung wie vor einem großen Aufruhr in der Natur war überall fast greifbar. Kein Wesen wagte es, sich bemerkbar zu machen. Es war, als ob alle von der bangen Ahnung einer vernichtenden Katastrophe gelähmt wären.

Auch auf den Schultern des einsamen Wanderers lag eine bleischwere Last. Nur mit Anstrengung hob und senkte sich die Brust. Der Atem war keuchend und gehetzt. Wohl schritten die Beine voran, aber ein geheimes Grauen vor dem Ziele der Wanderung ließ die Wegstrecke nur unmerklich sich verkürzen. Kein Lüftchen regte sich, und doch fühlte der Voranschreitende einen Widerstand, als ob er in einen Schneesturm hineinginge. Innocenz wollte stehen bleiben, aber er konnte es nicht. Das Schicksal brauchte ihn irgendwo und stieß ihn vor sich her. In kleinen Schrittlängen mußte ein Fuß dem anderen folgen.

Da kam ein Weib des Weges in sehr heruntergekommener Kleidung. Sie schien eines jener Dippelschickselchen zu sein, wie sie damals noch neben den Handwerksburschen her über die Landstraße zogen. Schwarze Haarsträhne hingen ihr ins braune Gesicht und vertieften die Augenhöhlen, aus deren Schatten ein sibyllinisches Feuer glühte.

»Ihr seid der Arzt von Birkenried!« sagte die Fremde. »Gebt mir Eure Hand, und ich lasse Euch einen Blick in Eure Zukunft werfen.«

»Ihr kennt Zukünftiges?« entgegnete Innocenz. »Nun gut, so redet zunächst einmal vom Vergangenen. Das kenne ich auch, und so kann ich besser abschätzen, was Eure Weisheit wert ist.«

»Euer Mißtrauen kränkt mich nicht,« war die gelassene Antwort. »Wer verkaufen will, muß seine Muster zeigen! So hört denn und prüft aus dem Gestern, was ich über das Morgen weiß. Zweimal schon war Euer Leben keinen Groschen wert, einmal auf der See und einmal im Spital zu Kolombo, und heute gilt es auch nicht mehr als drei Kreuzer. Eure Zukunft ist knapp beisammen. Da läuft ein feiner Strich rechtwinklig in die Lebenslinie Eurer Hand hinein. Setzt Euch und zählt Euren Jahren die Stunde zu, die Ihr hier am Straßenrand verlebt. – – – Damit Ihr nicht ganz müßig seid, so guckt ins Land hinein, ob kein Flurschütz kommt, derweilen ich meinen Bettelsack auf fremdem Felde mit Kartoffeln fülle. ›Mundraub‹ nennt so was das Gesetz und läßt es straffrei. Aber der Bauer schlägt einem den Buckel voll, wenn er uns erwischt. Dem Himmel sei's geklagt, dort hinterm Wald wimmelt ein grüner Wagen voll hungriger Mäuler. Ja, wenn sie Gras fressen könnten wie das Maultier, das ihn zieht. Aber nein, erst muß das Blechrohr rauchen, ehe sie satt werden. Sie essen nichts ungekocht. Also erbarmt Euch ihrer. Zählt die Minuten nicht, die Ihr auf Posten steht. Schon manchmal war einer froh, daß er zu einer Sache zu spät kam.«

Innocenz, von dem geheimnisvollen Wesen des Weibes getroffen, nahm die Würde eines Aufpassers an und ließ sich auf dem Stein einer Gemarkungsgrenze nieder, um die Kunst des Kartoffelstehlens im Nebenamt zu studieren. Die Sibylle zeigte übrigens keineswegs die Hast eines bösen Gewissens bei ihrer Sünde gegen das siebente Gebot; sie war bedachtsam und wählerisch, als ob sie die Absicht hätte, eine landwirtschaftliche Ausstellung mit Musterkartoffeln zu beschicken. Ihr Blick haftete am Boden, und nur zuweilen erhob sie den Kopf, um der Sonne ins Gesicht zu sehen. So war eine Stunde vergangen und mehr, als sie sich aufrichtete, ihren Sack nahm und im benachbarten Buschwerk versteckte.

»Der findet seinen Weg im Dunkeln heim und ich den meinen durch die Hecken. Ihr aber seid bedankt einstweilen, Doktor. Wenn Ihr aber merkt, daß ich Euch einen größeren Dienst geleistet habe als Ihr mir, dann legt einen Taler unter die Brücke zu Birkenried, er wird seinen Herrn finden.«

Somit war Innocenz in Gnaden entlassen und konnte gehen. Er ging auch, aber keineswegs beruhigten Herzens. Das seltsame Weib und seine prophetische Drohung hielt seine Seele in zitternden Händen. Wie ein Vogel war sie in einen Käfig eingeschlossen, und wenn die Furcht riet, den Versuch zur Flucht zu wagen, so riet sie anderseits auch wieder, sich zu ducken und still zu bleiben.

So war er mit unentschlossenem Zögern über die sonnige Bergeshöhe gekommen und in den Schatten weitgeästeter Nußbäume, die ihre Silhouetten mit scharfem Griffel auf den smaragdgrünen Rasen zeichneten. Ah, wie das gut tat, in der sanften Kühle hinzuwandeln. Zur Linken einen Rain mit wilden Rosenhecken, zur Rechten, eine Mulde, in der ein munteres Bächlein plaudernd ins Tal sprang. Da brauchte man doch nicht immer nur mit sich selber zu reden, man konnte zuhören und seine Gedanken von den lachenden Wellen forttragen lassen in ungemessene Weiten. Und in der Tat, Innocenz sah bald wieder Schiffe vor sich schwimmen, die nach einem fernen Strande der Sehnsucht steuerten. Da blähte ein frischer Wind die Segel seiner Seele, und der Gummiring des Grauens, der seine Männerrippen zusammenschnürte, wurde weiter und ließ den Lungen Raum zum Atmen. Rascher, als man denken sollte, kam der Wanderer aus dem Klingen in das breitere Tal. Da war es aus mit dem Frieden der Einsamkeit. Die Landstraße erwürgte ihn mit ihrem Rädergerassel. Das Bächlein erschrak und hüpfte verwegen in den breiteren Bach; da war's auch mit ihm aus und vorbei. Es wurde von dem größeren Wasserlauf verschlungen.

Die Silberschlange des Baches schwoll ein wenig an und verkroch sich mit dem Bächlein im Bauche unter schwarzgrünes Erlengebüsch. Die schwanken Zweige schüttelten ihre breiten Blätter, dankbar für die feuchte Kühle, und dämpften das fröhliche Stimmengewirr badender Kinder, die ihre schlanken Leiber neckend zwischen den Stämmen zeigten. Innocenz beneidete die Kleinen um das Labsal des kühlenden Nasses und hätte am liebsten die Kleider von sich geworfen und sich in die Flut gestürzt. Doch das verbietet dem Erwachsenen die Sitte. Schon war ja das Dorf nahe und drüben am anderen Ufer schimmerte mit rotem Dache der Kreuzhof, in welchem die Taubhauswirtin eine Zuflucht gefunden. Ein Widerstreit der Gefühle verwirrte den Arzt. Halb zog's ihn nach dem Hause hin, halb trieb es ihn von dorten weg. So wankte er unentschlossen vom Wege ab in die Wiese hinein.

Da durchschnitt mit einem Male ein heller Aufschrei aus vielen Kinderkehlen die Luft. – – – So redet schon nicht mehr die überlauteste Ausgelassenheit, so schreit die zitternde Angst nach Hilfe. ›Ein Kind in Gefahr,‹ dachte der Arzt und stürzte in wilden Sätzen die Böschung hinab und dem Ufer des Baches zu. Mit ihm auf gleicher Höhe lief ein Mann, der vom Himmel gefallen sein mußte, nach dem Erlendickicht. Nackte Knaben, die mit verzerrten Gesichtern aus den Büschen brachen, war das erste, was den beiden Männern begegnete. Kein Zuruf vermochte die Fliehenden zu stellen. Schreckensbleich, als ob der blasse Tod einem jedem im Nacken säße, suchten die Kinder ihr Heil in planloser Flucht.

›Nur vorwärts, hier tut rasche Hilfe not,‹ dachte jeder der Männer, und vier energische Beine traten das Röhricht zu Boden und lichteten einen Pfad nach dem Wasser. Ein geschliffener Smaragd, in dem sich die Sonne beguckte, lag unschuldsvoll vor den Blicken der Männer. Aber der mattgrüne Emerald hatte eine falsche Ader, die rot gefärbt über ihn hinlief, sich langsam windend und drehend wie der Rauch einer Zigarette.

»Blut!« schrie der Arzt, und »Blut!« hallte es wie ein Echo aus dem Munde des anderen zurück. Innocenz sah dem Rufer ins Gesicht, erkannte seinen Knecht und fragte voll banger Ahnung: »Pankraz, wer?« Der wies auf eine Stelle im Riedgras, wo zwei Stiefel lagen, von denen ab der Zipfel eines Kleidungsstückes mit den Wellen trieb. – Zugreifen und mit jähem Ruck aufs Ufer reißen, was man erfaßt hatte, das war nun das Werk eines Augenblickes. Man war zum Schlußakt einer Lebenstragödie gekommen. Wer war's, der aus dem Dunkel des Diesseits den krausen Sprung in die Nacht des Jenseits gewagt hatte? Die nächste Sekunde mußte es dem Arzt enthüllen und sie tat's.

Da lag einer hingestreckt, dessen blaue Fingerspitze noch den Drücker des Revolvers umkrallt hatte. Er kannte diese Fingerspitze. Es war die gleiche, die einst zwischen den Eisenstangen eines Kerkerfensters heraus eine Verständigung mit ihm gesucht hatte. O daß er sie nie gesehen hätte! So also mußte Balduin Hebenstreit enden! Vielleicht mit einem Fluch auf den Lippen gegen ihn, gegen sie!! – – Innocenz schlug die Hände vor die Augen. Er konnte die Leiche nicht sehen, obwohl sie schön war. Der Tod hatte dem Antlitz seinen heiligen Stempel des Friedens aufgedrückt. Da war kein Schmerz mehr und keine Leidenschaft, die an den Muskeln zerrte. Die klassische Ruhe eines Marmorbildes war veredelnd auf diese Züge gefallen, wie der Morgentau auf die wilde Rose. Ach, und dies Wunder hatte ein Stückchen Blei vollbracht, das seinen Weg genommen durch die Hydraköpfe krauser Gedanken, die in den Hirnwindungen ihr unseliges Wesen trieben. – – Gedanken, in denen auch er eine Rolle spielte, ach, und welche vielleicht! – Innocenz war wie niedergedonnert und selbst das Bewußtsein seiner Unschuld vermochte es nicht, ihn aufzurichten.

Wie lange er so stand? Wer weiß es? Als er die Augen endlich öffnete, wimmelte es auf beiden Ufern des Baches von Menschen. Da standen Leute im Sonntagsstaat mit dem Gebetbuch in der Hand, andere in Hemdsärmeln den Knobelbecher zwischen den Fingern wirbelnd. Wie einen jeden die Kunde von dem Frevel getroffen hatte, so waren sie der Unglücksstelle zugelaufen, Zechbrüder und Betbrüder. Zwischen die Beine der Erwachsenen drängten sich nackte Kinder. Niemand sah, daß sie nackt waren und sie selber wußten es auch nicht. In allen Köpfen wohnte nur noch das Grauen und zwang die Gehachse aller, wie die Speichen auf die Nabe, auf einen Punkt, auf das kleine Loch an der rechten Schläfe des toten Mannes. Es war, als ob man alles ungeschehen machen könne, wenn man nur das kleine Loch da verstopfte, aus dem ein Eßlöffel voll Blut rann. War denn niemand da, der's tat; niemand, der rief: Balduin steh auf und lebe!!

Während noch alle starr und staunend standen drängte plötzlich ein verstaubter Mühlbursche zitternd vor Aufregung seine weiße Gestalt wie einen Keil in die Menge der Gaffer hinein. Der Bote mußte vor in die erste Reihe, daran konnte nichts ihn hindern. Nicht die bösen Blicke der Verdrängten und nicht die Rippenstöße vieler knochenbewehrter Ellbogen. Endlich war er, wo er hinwollte. Neugierde hatte ihn nicht getrieben. Er warf keinen Blick auf den Toten. Das Unabänderliche kümmerte ihn nicht. Dem Abwendbaren wollte er einen Helfer bringen. Keuchend faßte er den Arzt am Ärmel und zerrte ihn gewaltsam durch die Mauer, gebildet aus Menschenleibern.

»Rasch, eh sie stirbt,« keuchte der Ungestüme, und dann jagte er am Ufer hin und über die Holzbrücke dem Kreuzhof zu, in dem Frau Hebenstreit wohnte.

Innocenz begriff im Nu. Balduin tat nichts Halbes. Nur mit ihr zusammen wollte er vor seinen Richter treten. Hier Frage und Antwort, – und dann ein gerechtes Urteil.

War ihm der Anschlag nicht ganz geglückt, und war Frau Hebenstreit vielleicht noch zu retten? Unter dem Eilenden lief der Weg hinweg. Krachend fuhr die Faust des Arztes auf die Klinke und die Tür sprang auf.

Was war das? Ruhig, als ob nichts geschehen wäre, stand Käthchen mit erhobenem Haupte im Zimmer. Der Schild ihrer Augen war blank. Wie auf dem Antlitz der versteinerten Niobe vom Berge Sipylos lag Trauer in ihren Blicken, aber weder Anklage noch Verzweiflung. Über ihr eigenes Unglück hinausgewachsen stand sie erhaben da, wie das Symbol der verfolgten Unschuld. Der blühende Schnee ihrer Marmorbüste schimmerte aus dem weitgeöffneten Kleid und ihre Hand drückte das weiche Gespinst einer Serviette gegen das Herz.

»Käthchen,« rief Innocenz, hingerissen von der überirdischen Macht ihrer Erscheinung. »Armes, unglückliches Käthchen.«

Sie schwieg, trat etwas näher ans Fenster heran und zog die Hand mit dem Tuche aus dem Mieder. Da stürzte das rote Blut aus zwei runden Öffnungen hervor und färbte den Alabaster ihrer Brust. Es war, als ob man Rosenblätter über Lenzschnee streute.

Innocenz erbebte als er das Blut sah und die Stelle, von der es kam. Hinter diesen Öffnungen liegt das Herz. Wehe wenn es verletzt wurde. Hastig schlug er seine Linke um die Verwundete, während seine Rechte die Quellen schloß, durch die ihr Leben zu verrinnen drohte. So eng aneinandergeschmiegt hatten sie schon einmal gestanden. ›Damals war es fast eine Sünde gewesen, heute ist es ein Gebot der Notwendigkeit und ein drittesmal wird es nicht vorkommen,‹ sprach der Arzt aus Innocenz heraus, ›denn wie soll ein Mensch weiterleben, dem zwei Kugeln gerade über dem Herzen die Brust durchbohrt haben?‹ und seine Arme umschnürten fester ihren Leib. Sie sollte nicht im Staub des Fußbodens enden, wenn ihr letzter Augenblick gekommen war.

Die Sekunden rannten hin und wurden Minuten. Die Minuten reihten sich aneinander zu einer Viertelstunde und Käthchen stand immer noch. Das Unglaubliche mußte Wahrheit werden. Das Herz konnte nicht getroffen sein. Er, der den Sternen ihre Bahnen wies, er allein und nur er konnte zu seinen Zwecken das Verderben abgelenkt haben. Innocenz fühlte die Hand der Vorsehung über sich und fing an zu zittern. Käthchen erschrak und sagte leise: »Auf was warten Sie?«

Wollte der Arzt bei der Wahrheit bleiben, so hätte er antworten müssen: ›Auf Ihren Tod.‹ Das brachte er nicht übers Herz und so stellte er die verlegene Frage: »Käthchen, kamen die Schüsse aus unmittelbarer Nähe?«

»Ich fühlte die Kälte des Revolverlaufes auf meiner Haut, als ich ihm sagte: ›Wenn du mich töten kannst, so will ich schuldig sein. Ein Gottesgericht mag zwischen dir und mir entscheiden.‹ Da blitzte es zweimal auf vor meinem Auge. Ich sah wie ihn die Angst von dannen jagte und fiel zurück auf einen Stuhl.«

An diesem Gottvertrauen stärkte Innocenz seinen Glauben an Käthchens Rettung. Er besann sich auf sich selber, drückte sein persönliches Empfinden nieder und fing an als Arzt seines Amtes zu walten. Er durchsuchte den Körper Käthchens und fand beide Kugeln unter der Haut im Rücken. Sie waren auf den Rippen hingelaufen, wie das Rad über die Eisenbahnschiene. ›Hier waltet mehr als Zufall,‹ dachte Innocenz zerknirscht, als er ohne besondere Schwierigkeit die Geschosse mit dem Messer ans Licht beförderte. ›Versuch's, wenn du mich töten kannst, dann will ich schuldig sein,‹ Sie hatte ein Gottesgericht gefordert und der Himmel war ihrer Unschuld zu Hilfe gekommen. Wie sonderbar war dies alles. War denn der alte Kinderglaube richtig, daß es über den Sternen waltend einen gibt, der seine Engel sendet, um seine Kinder zu leiten, daß sie nicht ihren Fuß an einen Stein stoßen?

Während Innocenz noch so sann und sann, ging vor dem Hause ein Gegröhle los. Es war die Menge der Gaffer, die drüben am Bache für ihre Schaulust keine Nahrung mehr fand, nachdem man den toten Balduin hinweggetragen hatte. So kamen sie wie schmutziges Stauwasser und ebbten plätschernd an die Hofmauer. Man hörte Jammern, aber auch Anklagen wurden laut und Verwünschungen, die ihre Schärfe gegen die Frau des Toten richteten. »Er hat seinen Frieden,« hörte man rufen, »mögen andere sehen, wie sie nach dem heutigen Tage noch schlafen können!«

Käthchen, nur durch eine dünne Riegelwand von der Menge getrennt, hörte diese Äußerungen und wußte wohl, wem sie galten, aber sie blieb ruhig. Wie eine altchristliche Märtyrerin sah sie gefaßten Auges nach der Tür des Zwingers, aus dem die Tigerkatze der Volkswut springen mußte.

Da war dem Notabeneoja indessen in der Küche die Geduld ausgegangen. Er riß ein brennendes Scheit aus dem Kesselfeuer heraus und stürzte sich unter die Menge. Im nächsten Augenblick war sie zerstoben wie ein Starenzug vor einem Büchsenknall. Das war das Satyrspiel nach der Tragödie.

 

Käthchen Hebenstreit war verbunden und zu Bett gebracht. Der Arzt konnte gehen, und er ging. Draußen wartete die Nacht auf ihn, eine stille, freundliche Nacht, eine der Nächte, wie sie scheinen, wenn der Tag sich in Gewittern ausgetobt hat. Von Furcht befreit atmete die erlöste Erde auf und streute ihre Düfte aus, nach dem Blutgeruch eine wahre Erquickung für Innocenz. Unter dem Blätterdach der Nußbäume wandelte er den Berg hinan. Wohl lag eine schmerzvolle Trauer auf seiner Seele, aber der unheimliche Druck des Grauens war doch gewichen. Er glaubte an das Walten einer ausgleichenden Gerechtigkeit und er glaubte wieder an Käthchen Hebenstreit. Alle die Grausamkeiten und Zufälle dieses ereignisvollen Tages mußten durch einen allweisen Gedanken verbunden sein. Er, der Käthchen vor dem Tode bewahrt hatte, war ihr noch einen weiteren Akt der Gerechtigkeit schuldig. Wozu sonst die Quälerei des Lebenmüssen?

In diesen Gedanken war der Wanderer auf die Bergeshöhe gekommen und ging an dem Grenzstein vorüber, von dem aus er heute dem Kartoffelstehlen der Zigeunerin zugesehen hatte. ›Schon manchmal war einer froh, daß er zu einer Sache zu spät kam,‹ hatte die Sibylle zu ihm gesagt und in der Tat, was wäre wohl aus ihm selber geworden, wenn Balduin ihn im Zimmer seiner Frau traf? Der Gedanke umfaßte die Qualen einer ganzen Hölle. Drei Gräber nebeneinander und um sie herum als Zaun die Schande, so daß der Gerechte, der vorübermußte, ein Kreuz schlug! – –

Der Himmel hat es nicht zugelassen – der Himmel – – Mystisch religiöse Vorstellungen, die fast vergessenen Wurzeln einer bigotten Erziehungsaussaat trieben geile Stengel. Dem Petrus erschien auf der Via Appia eine Lichtgestalt und hieß ihn umkehren – – – Innocenz grübelte und grübelte, bis er aus den Lumpen des Zigeunerweibes den Engel Gottes herausgeschält hatte. Gleichwohl legte er seinen Taler unter die Brücke zu Birkenried und konstatierte am nächsten Tage mit Befremden, daß er verschwunden war.


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