Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Drittes Kapitel

Als der Student am nächsten Morgen erwachte, glaubte er einen Grund mehr zu haben, fleißig zu sein und sprang mit beiden Füßen aus dem Bett. Ein Schwarm von Sperlingen, der in den Zweigen einer alten Ulme dem jungen Tag entgegen lärmte, lockte ihn, einen Blick ins Freie zu werfen. Da gewahrte er, wie drüben unter dem Fenster des Gefangenen der gefleckte Kater auf der Erde saß und als Lohn für seine Vermittlerrolle ein reiches Frühstück von Wursthäuten zusammenlas. ›Bei jedem Geschäft,‹ so grübelte der junge Mann, ›pflegt für einen Dritten etwas abzufallen, dem Kater die Wursthaut und mir?‹ – – –

Er dachte den Satz nicht ganz zu Ende, sondern setzte sich nieder und vergrub den Kopf in mächtige Folianten, fest entschlossen, des Mädchens nicht eher wieder zu gedenken, als bis der Vetter wieder hungrig sein und von ihm einen zweiten Botengang verlangen würde.

So gingen zwei Wochen hin, ohne daß die Finger sich gezeigt hätten, und schon fürchtete Innocenz, daß der Gefangene ausquartiert sei. Dem war nicht so. Eines Morgens sah der Mansardenbewohner am Fenster drüben eine leere Wursthaut an ein Lineal gebunden im Winde flattern und sah den Kater, der verlangenden Blickes vom Giebel eines Schuppens nach der leckeren Beute schielte. Zuweilen duckte er sich, als ob er der Dachfirst das Kreuz eindrücken wollte, dann wieder richtete er sich plötzlich hoch auf, als ob er fürchte, ein Windstoß könne den leckeren Bissen über seinen Kopf hinweg ins Weite tragen. Zuletzt aber zog er unter bedauerlichem Maunzen ab. ›Nun wird es Zeit, daß auch ich gehe,‹ dachte der Student, sorgte dafür, daß er diesmal seinen Geldbeutel nicht vergesse, und wanderte aus den schlafenden Straßen, in denen soeben die ersten, mit den Bäckerjungen den Höfen entsprungenen Hunde sich Morgenvisiten machten.

Wie er die Steige hinaufschritt, liefen die Klänge der Morgenglocken hinter ihm her, holten ihn ein und umhüllten ihn mit wogenden Wellen, in denen seine liebende Seele tanzte wie Kork auf dem Wasser. Nie noch war er seiner Zukunft so sicher wie jetzt. Solch ein Examen war schon Tausenden gelungen, die dümmer waren als er, und lag die Schulbank hinter ihm, wie die Eierschale hinter dem Rebhuhn, dann würde er wie dieses schon laufen können die Furchen des Lebens entlang und auch querfeldein, um zu erhaschen, was der Hunger heischt und des Lebens Notdurft. Alles erschien so leicht, so selbstverständlich, so glänzend wie das Morgenrot, das den Gipfel des Berges küßte, dem Innocenz Lorum entgegenschritt. Ob er heute wohl schon mit dem geliebten Mädchen ein bindendes Wort reden werde? Wohl kaum. Er gedachte sich an ihrem Anblick zu freuen, jede Linie ihres Leibes in seine Seele zu drücken wie in weiches Wachs, sich wärmen zu lassen von dem Feuer ihrer Blicke, dann heimzukehren mit dem Klischee eines Engelsbildes, das er rufen könne, wenn er nach ihm verlange, damit es bei ihm sitze und seine Arbeit segne. Von wimmelnden Liebesgöttern wie auf einer lichten Rosenwolke getragen, kam endlich Innocenz vor der Taubhausmühle an und trat in das dämmernde Dunkel der Wirtsstube.

In einer muffigen Kanasteratmosphäre saß an einem der Tische ein Überbleibsel vom Tage vorher, drückte sich die Nase glatt in Bierresten, schlief und schnarchte dazu. Dieser Anblick stürzte unseren Freund aus dem Strahlenglanz seines Himmels in ein tiefes Mitleid mit Käthchen Sommertag, die dem Anblick solcher Gesunkenheit nicht aus dem Wege gehen konnte. Er fühlte in sich ein Erwachen wie zu einer heiligen Pflicht. Eine Perle mußte er aus dem Schlamm heben. Dieser Menschenblüte mußte er einen anderen Platz an der Sonne verschaffen.

Da trat sie herein in Morgenfrische erglänzend. Doch der Strahl ihres Auges wurde plötzlich stumpf und trübe, und eine mit Ekel gemischte Verdrossenheit überzog die Heitere ihres Gesichtes, wie der Rauch eines Fabrikschlotes den Morgenhimmel. Ihr ward, als ob sie zu einem Besen greifen müßte, um diesen Haufen moralischen Unrates hinauszukehren in die Gosse, wo die Enten über ihn watscheln mochten, wenn sie keine Rücksicht nehmen wollten auf die Reinlichkeit ihres Schuhwerkes.

Innocenz war ein feiner Beobachter und las aus dem Gesichte des Mädchens heraus, wie sie die Schande der Menschheit, von der auf jeden ein Teilchen abfällt, in seiner Gegenwart schwerer trug, weil sie fürchten mochte, daß ihr Wert in seinen Augen sinken könne. Er reichte ihr die Hand, zog sie nach dem Fenster und sagte schalkhaft: »Ich hoffte, Sie würden dem ein freundliches Gesicht zeigen, der gekommen ist, um zu bezahlen, was Sie wohl schon für verloren hielten!«

»Sie machen sich lustig über mich, und Sie müssen doch fühlen, daß ich mich vor Ihnen schäme. Was werden Sie von einem Hause denken, in dem man so was duldet? Der dort ist einer, der sich übernimmt, wenn er eine mitleidige Seele findet, die für ihn zahlt; so kommt er zuweilen zu einem Rausch. Der Vater ist zu gut, um ihn vor die Tür zu setzen, und doch ist mir sein Anblick hier fast unerträglich. Haben Sie Zeit?« sprach sie mit einer plötzlichen Wendung des Gespräches und sah Innocenz mit flehendem Auge an, daß er nicht »nein« sagen möge. Der tat es auch nicht, sondern ließ sich von einer weichen Mädchenhand in den Hof führen und einen Rechen auf die Schulter legen. »Sie können Ihre Schuld abverdienen,« sagte Käthchen wohlgelaunt, »und kriegen noch was obendrein, wenn Sie sich geschickt zeigen in der Heuernte –« und sie schritt an der Seite des Studenten zum Tore hinaus.

Die Leute auf der Straße sahen den modisch gekleideten Städter mit dem Rechen über der Schulter verwundert an, dachten, ob der wohl die Suppe verdiene und gingen lächelnd ihren Geschäften nach. Hunde kamen, fühlten die Dissonanz zwischen dem Rechen und seinem Träger und riefen in allen Tönen der Hundesprache in die Höfe hinein: »Ein Rechendieb, ein Rechendieb!« Gänse, die den Alarmruf hörten, eilten herbei und suchten Innocenz an den Hosenbeinen festzuhalten. Hätte man den Maharadschah von ganz Vorderindien in all seiner Pracht durchs Dorf getragen, er hätte kaum mehr Aufsehen erregen können als Innocenz mit seinem Rechen. Der Barbier riß das Fenster auf und rief seinem Nachbar zu, er glaube, daß wir demnächst einen Meteorfall erleben würden, der Mann, der soeben vorbeigegangen sei, sehe schon danach aus, als ob er die Sterne vom Himmel herunterrechen könne.

Je verlegener Innocenz übrigens dreinschaute, um so aufgeheiterter wurde Käthchen. »Man wird Sie wohl für einen Fulder Drescher nehmen! Alle guten Geister! Da kommt auch schon der Kreisphysikus Wakernagel gesteckelt, um für zwei Groschen nachzusehen, ob Sie geimpft sind,« so scherzte das lose Mädchen und setzte mit einem graziösen Sprunge über den Chausseegraben hinüber in den weichen Wiesenteppich hinein. Innocenz hinterher. Zart und mollig lief es sich da wie über den Rücken einer Heideschnucke, und der elastisch federnde Wiesengrund warf die Zwei in die Höhe, wie Federn von spielenden Kindern in die Luft geblasen. So kam das Paar dem Wagen nahe, der von schaumigen Wolken duftenden Heues umlagert war. Gescheckte Kühe standen um den Segen und fraßen mit greifenden Zungen einen Tunnel hinein. Niemand wehrte ihnen. In fröhlicher Schaffenslaune hatte Valentin der Kühbub seinen Rock abgeworfen und griff in Hemdsärmeln nach der Gabel, um dem Großknecht zuzutragen, der auf dem Wagen stand.

Die Gabel war das Werkzeug der Männer, weil sie Kraft erforderte, während der Rechen in der Hand der Frauen mehr spielend tat, was auch nicht entbehrt werden konnte, den Segen häufte und dem nachging, was in kleinen Büscheln hinter Gräben und Maulwurfshügeln geblieben war. Innocenz hatte sich eine Gabel ausgesucht.

»Denkt, daß Ihr keine Kerze tragt in der Prozession, Ihr müßt mit beiden Händen zulangen und nicht wie die Barbiere mit zwei Fingern!« höhnte der Großknecht, und die Zuhörer lachten, lachten mit überlegenem Selbstbewußtsein, weil sie an dem Neuling sahen, daß auch ihr Tun eine Kunst ist, die gelernt sein will. Der Student aber achtete des leisen Spottes nicht, er verdoppelte nur seine Anstrengungen. Die Mägde sahen mit Vergnügen, wie sich die Lenden des Jünglings strafften unter der Last des Heubündels über seinem Haupte und wie die Muskeln seiner Schenkel härter und eiserner hervortraten. Sie stießen einander mit den Ellenbogen und ließen vielsagende Blicke von Innocenz Lorum zu Käthchen Sommertag schweifen. Blicke, die ein förmliches Gespinst flochten um zwei Menschen, ein Netz, wie es die Spinne um ihre Beute webt.

Die Schatten des Morgens waren kürzer geworden. Die Sonne schoß mit feurigen Pfeilen ins Tal herunter. Die Menschen liefen der Kühle des Bächleins zu und nach den Erlenbüschen, die sein Ufer säumten. Dem Dorfe zu schwankte der Heuwagen und verschwand hinter dem ersten Hause, voran die Kühe mit bedächtigem, fast andachtsvollem Schritt. Aller Blicke waren fragend und fast ängstlich der Fuhre gefolgt bis zu der harten Glätte der Chaussee. Denn, was der Fleiß vieler Menschenhände geschaffen hatte, konnte eine kleine Hamsterfamilie vernichten, in deren Haus ein Wagenrad versank. Nun aber war die Gefahr vorüber. Der Wagen war auf festem Untergrund, schon auf dem Pflaster. Man hörte es am lauten Schlagen der Achsen. Und doch noch immer hingen die Blicke aller am Eingange des Dorfes. Erwartete man etwas von daher? Jedenfalls, und soeben kam auch etwas. Die Buttergretel, ein halber Dilltapp war's, mit einem Korbe auf dem Kopf, über dem sich ein weißes Leintuch im unruhigen Luftzug vielversprechend blähte. Die Knechte griffen nach ihren Hosentaschen, holten ihre Messer hervor und kratzten mit dem Daumennagel die Brotkrume herunter, die noch von früheren Mahlzeiten an der Klinge klebte. Die Mägde setzten sich steifer, spreizten die Schenkel auseinander und formten zwischen ihnen in den Schürzen einen leicht gehöhlten Tisch. Ganz ohne Verabredung hatte man sich im Kreise gelagert und ehrfurchtsvoll in der Mitte eine hochheilige Stätte freigelassen zur Aufnahme des Korbes, den die plattfüßige Buttergretel nicht ohne frommen Seufzer niedersetzte, um die Hülle zu entfernen. Ein allgemeines »Ach!« befreite sich aus den Herzen der Zuschauer beim Anblick einer mächtigen Zinnschüssel und ihres Inhaltes. Dicke Milch, die Sorbeta des Nordländers in den heißen Sommermonaten, und der Rahm noch darüber, steif wie Pergamentpapier und daneben Stücke schwarzen Brotes, fast kantig zugespitzt wie Steinbeile. Ach, welch ein Regen gab es jetzt in allen Zungen, welch ein Wandern des Löffels vom Mund zum Rande der Schüssel, welch selbstverständlich Greifen nach dem Schoße der Mägde, in dem das Brot lag und anderes. Wer seinen Glauben verloren hat an naive Harmlosigkeit und seinen Appetit, der komme und stärke beides am Anblick eines solchen ländlichen Mahles.

Innocenz lag neben Käthchen Sommertag und pickte sein Brot aus ihrem Schoß, anfangs scheu und mit verlegenen Griffen. Als er aber dem Mädchen ins Antlitz sah und nirgends jene Röte merkte, die so fromm tun kann und doch nur verrät, daß Feuer irgendwo ist, wo besser keines wäre, da wurde er fast heimisch in der Gegend ihrer Kniee und holte seine Nahrung unverzagt und ohne Nebengedanken von des Mädchens Schürze wie die Hühner aus der Fuhrmannskrippe.

Als die Magen zufrieden waren, wanderten die Augen über die geschorene Wiese hin den letzten Häusern des Dorfes zu, wo soeben wieder die Kühe erschienen, den leeren Wagen hinter sich herziehend. Sie kamen ohne Führer zielsicher und mit eiligen Schritten wie die Schneeschipper, wenn es zum Essen geht. Auch der Grund ihres Eifers war der gleiche, denn ihnen war ja der Tisch in der Wiese gedeckt. Gefräßig stapften sie mitten in den Heuhaufen hinein und achteten dessen nicht, was sie mit den Füßen zertraten. Der Großknecht kam und brachte ihnen mit dem Peitschenstiel auf die gefräßigen Mäuler Lebensart und Manieren bei. Käthchen trat herzu und tröstete die Gestraften mit Schmeichelworten, während sie ihnen streichelnd durchs Fell fuhr. Die Braune war starrköpfig. Käthchen faßte sie beim Horn und mit energischem Gesichtsausdruck zwang sie die Widerwillige zum Gehorsam. In diesem Augenblick glaubte Innocenz ein Bild aus der germanischen Urzeit vor sich zu haben und eines jener blonden Weiber zu sehen, wie sie im Triumphzug des Germanicus den verweichlichten Römern so bestrickend in die Augen stachen. Außer dem Studenten hatte übrigens niemand das Mädchen und sein Tun beachtet. Ein jeder war an seinem Geschäfte. Die Wiese sollte heute sauber werden, denn schon stach die Herbstzeitlose aus dem Boden, wollte den blauen Kelch auf dünnem Stengel in die Lüfte heben und die Blätter entfalten.

Schon ging dem einen oder anderen des Gesindes die Arbeit aus. Die Rechen hingen am Wiesbaum und die Gabeln staken in den Seiten des Heuwagens. Da legten die Kühe die breiten Stirnen in die Joche, stemmten die sehnigen Beine an den Boden und machten den ersten Schritt. Der Ladeknecht auf dem Wiesbaum tat einen leichten Schrei, schwankte, fiel und glitt an der Flanke des Wagens über das weiche Heu zur Erde. Niemand nahm sein Mißgeschick tragisch. Die Näherstehenden lachten und er selbst rettete sich mit der Bemerkung: »So hätt's nicht pressiert, ich wäre ohnedies gleich abgestiegen,« vor Spott.

»Schade, daß er sich nicht ein wenig beschädigt hat,« sagte Käthchen neckend zu Innocenz, »wir hätten dann vielleicht gesehen, ob Sie in Ihrem Berufe ebenso tüchtig sind wie als Heumacher.«

»Besser so,« widersprach der Angeredete, »sonst hätte mich wohl der Chirurge zum Dorf hinausgeprügelt, weil ich ihm ins Handwerk gepfuscht,« und er schritt neben dem Mädchen her, mit Absicht so nahe, daß ihre Röcke im Gehen seine Knöchel fächelten und daß ein kleiner unsicherer Schritt ihre Hüften sich berühren ließ.

»Seid Ihr fertig?« riefen die Leute auf der Straße den Heimkehrenden zu. »Bis aufs beste, was noch nachkommt, den Ernteschmaus,« antworteten diese und zogen die Nasen hoch, als ob sie schon den Braten röchen, den Käthchens Mutter derweilen zu Hause bereitet hatte. Für Innocenz hatte man im Herrenstüble eine Tischecke gedeckt. Doch er wollte dies nicht, ihm schmeckte es besser am Gesindetisch unter all den Menschen, denen das Essen eine heilige Pflicht ist, wie Gebet und Sabbatheiligung. Der Student fühlte sich wohl inmitten all der gewissenhaften Esser, aber er konnte nicht warten, bis der obligate Handkäs wie das Siegel auf dem Brief vor einem jeden auf dem Teller lag. Schon blickte die Dämmerung mit schläfrig trüben Augen durch die Scheiben, und sein Weg war noch weit.

Käthchen Sommertag hatte ihm auf seine wiederholten Fragen nach der Höhe seiner alten Zeche noch keine Antwort gegeben, aber sie hatte sich erhoben und war neben ihm durchs Zimmer geschritten. An der Tür zum Hofe wäre für sie eine schickliche Gelegenheit gewesen, Abschied zu nehmen. Sie ließ sie unbenutzt. Sie schritt neben ihrem Gaste auf das Pflaster hinaus, obwohl dessen Steine holprig waren und alt und die Gefahr nahe legten, daß man stolpern und ein Bein verrenken könne. Sie kam zum Hintertürchen, mußte aufschließen und ihren Begleiter auf eine hohe Schwelle aufmerksam machen, über die man fallen konnte, wenn man die Augen so wenig am Boden hatte wie er. Wer rechtlich denkt, achtet die Absicht seines Vorgängers und verriegelt das wieder, was jener in weiser Berücksichtigung verschiedener Möglichkeiten verschlossen hat. Käthchen Sommertag tat auch das nicht, ließ die Türe offen stehen und begleitete ihren Gast noch bis zur Gartenecke. Dort stand ein unheimlicher Holunderbaum, der mit überhängenden Zweigen ein Versteck schuf für lauernde Wegelagerer. Hatte Käthchen ganz das Grausen verlernt, daß sie gerade da an der verrufenen Stelle stehen blieb und schier harmlos zu ihrem Begleiter sagte: »Sie fragten, was Sie schuldig wären? Sie haben Ihre Schuld abverdient und ich denke, Sie bekommen noch etwas heraus.«

»Zahlen Sie in Naturalien und nicht in Geld,« sagte Innocenz, von dem plötzlich alle Schüchternheit gewichen war, »so bin ich bereit, zu empfangen« und er spitzte ein wenig den Mund und hielt ihn seiner Begleiterin entgegen.

»Nicht doch,« wehrte diese, »am Quartalschluß vielleicht, wenn Sie sich bis dahin gut führen. Aber hier haben Sie ein kleines Paket. Nur die eine Hälfte seines Inhaltes ist für meinen lustigen Vetter, die andere ist für Sie,« und Käthchen Sommertag drückte dem jungen Manne zärtlich die Hand und verschwand zögernd mit kleinen Schritten in der Pforte, denn ihr war's, als ob sie etwas freigebiger hätte sein können, als sie gewesen war.

Innocenz Lorum schritt, vom Glücke in ein Paradies gezaubert, im Mondlicht verklärt über die einsame Bergeshöhe und hörte dem Gesang der Grillen zu, die aus Erikabüschen zwischen Steingeröll ihr Lied sangen. Aus ihm heraus hörte er die Stimme der Natur, die sich ihm, dem Stadtkinde mit dem blöden, überstäubten Sinne, entschleiern wollte. Was hatte er von der schönen Gottesnatur seither gehabt? Als der Sohn eines Postbeamten hinter dem Glasverschlag einer Vierzimmerwohnung im fünften Stockwerk geboren, hatte er durch die Hinterfenster in einen finstern Schacht hinuntergeblickt, den man den Hof nannte, und dem Teppichklopfen zugehört, das da unaufhörlich zu seiner Höhe herauftrommelte. Durch die Vorderfenster überschaute er eine ganze Reihe schadhafter Dächer mit Mansardengiebeln, vor deren Scheiben blühende Geranien und zerrissene Kinderwäsche in malerischer Abwechslung ein Bild kleinbürgerlicher, halbverhungerter Genügsamkeit hinzeichneten. Sein Schulweg führte ihn durch enge Gassen, in denen die Auslage eines Holzschuhmachers abwechselte mit einem Haufen Grünzeug, das auf einem Schubkarren, die Passage sperrte. Dann kam am Ende der Gasse hinter einem nüchternen Kiesplatz der prosaische Backsteinbau des Gymnasiums mit seinem höhnenden Echo im Stiegenhause, seinen bellenden Schulstuben und den erbärmlich grünen Wänden, die ins Unendliche zu steigen schienen. So sah der Ort aus, wo man die Stirnen formt für künftige Lorbeerkronen. Und dann das Auswendiglernen all der fremdsprachlichen Vokabeln! Wie in ein Zuchthaus wurden sie ins Gehirn hereingetrieben, ach und immer lag neben dem Hunde der Knüppel. So reihte sich wie ein Rosenkranz aus Holzperlen eine Woche an die andere und nur selten kam das Glück, daß ein dienstfreier Sonntag des Vaters das ermüdende Einerlei der »Gegrüßet seist du, Maria« mit dem »Vaterunser« eines Spazierganges über den Fluß oder nach dem nahen Schenkenschloß unterbrach. So war's durch die Jahre der Kindheit gegangen, bis es noch schlechter kam. Der Vater war krank geworden und gestorben. Viel kleine Beamte mit blechernen Verdienstmedaillen auf der Brust folgten seinem Sarge, aber auch der Landrat war unter ihnen, und das war so schön; so schön war auch das Grab im Schatten einer Traueresche, daß in der Mutter eine wilde Sehnsucht nach Frieden erwachte. Ihr Körper war nur noch der Schattenriß dessen, was er einst gewesen. Sie schwebte, legte sich nieder und starb. Innocenz war, als dies geschah, bereits am Ende seiner Gymnasialstudien.

Was lag vor ihm? Immer und immer wieder nur Säle, in denen man angesporte Weisheit predigte und durch den Tubus des Mikroskops die Welt im kleinen betrachtete, während die Welt im großen draußen lag wie ein unentdecktes Land. Ein Bummel durch die benachbarten Bierdörfer wurde besprochen wie eine Reise nach Hindostan. Und doch lag in dem Jüngling der beißende Hunger nach den Horizonten. Auf einem Pferde über die träge Scholle fliegen und den Körper auf Bergeshöhen in der Morgenröte baden, das war der faustische Drang, der in dem Stadtkinde kochte. Das Übermaß schwellender Kraft verlangte nach Betätigung. Dem Sturme die Stirne bieten, zwischen zitternden Baumriesen im Gewitterdunkel den Heimweg suchen und zu wissen, daß es irgendwo ein Licht gibt, das auf uns wartet, und eine Seele, die für uns bangt und betet, das war's, was das Leben wert machte, gelebt zu werden, danach hatte sich Innocenz gesehnt. And nun war das alles nahe gerückt, ja über ihn gefallen, wie ein warmer Maienregen. War's da ein Wunder, daß seine Seele jauchzte, während seine Füße tanzten wie jene Davids vor der Bundeslade!

Innocenz war wie in einem Traume über die Höhe gekommen und stand im Dunkel seines Mansardenzimmers. Im Dunkel zog er sich aus. Er fürchtete durch die Helle die schöne Fata Morgana zu verscheuchen, die funkelnd vor seinen Augen stand. Zwei breitgestirnte Kuhköpfe und eine Heldenjungfrau, die sie meisterte. »O domina mea« flüsterte er, als sein Haupt auf den Kissen lag, und schlief ein.


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