Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Achtzehntes Kapitel

Doch es kam anders. Noch wollte die Parze den Schicksalsfaden des Pärchens nicht durchschneiden. Die Sirene tönte wieder. Innocenz und sein Schatz schlugen die Augen auf und sahen sich staunend in die errötenden Gesichter. Waren sie denn nicht tot? Schwamm das Schiff wirklich noch auf den Wellen und trug es sie noch einmal zurück ans Gestade des Lebens? Jedenfalls atmeten sie und sahen ins Licht. Die Nacht, die schreckliche Nacht war hinabgesunken. Es war hell in der Kabine und durch die Luke blitzte ein Strahl der Morgensonne. Auch das erbärmliche Schwanken hatte aufgehört. Man fühlte, daß das Schiff wieder seinen Willen durchsetzte gegenüber den Launen von Wind und Wogen. Welch ein Auferstehungsmorgen! Dem Leben wiedergegeben, waren die zwei Menschen Kinder geworden voller Einfalt; und Kleinigkeiten, die vordem keine Beachtung fanden, erlangten für sie einen hohen Wert. Sie wurden wieder haushälterisch und griffen nach jedem Schächtelchen, das der Sturm von seinem Platze geworfen hatte, und schafften wieder Ordnung um sich her. Irma tastete auf der Bettdecke ein Stück Seife, und Innocenz fand einen noch seltsameren Gegenstand und hob ihn in die Höhe. Er schimmerte im Sonnenschein und gab wie ein Goldkäfer ein gelbliches Licht von sich. Es war das Geschenk des Jankel Navratil, die kleinen Kinderschuhe – ein Vorwurf für beide und doch auch wieder eine stolze Freude. Schon war etwas da, was auf einen kleinen Engel wartete, und wer weiß, vielleicht war er selber schon unterwegs und kam, um unser Pärchen Vater und Mutter zu nennen und eine Schuld von ihnen zu nehmen, die in der letzten Nacht über sie gekommen war.

In diesem Augenblick verträumten Sinnens tönte die Sirene in kurzen Stößen wieder. Innocenz wußte, daß sie jeden von der Schiffsmannschaft an seine gewohnte Stelle rief und erhob sich rasch. Noch ein heißer Kuß auf die Lippen der Geliebten und dann hinaus aufs Deck. Seine Kraft und sein Können gehörten jetzt wieder den Kranken und Verwundeten.

Über halbtote Menschenleiber hinweg, über Barrikaden von Hausgeräten und Matratzen kam der Arzt nach oben. Himmel, welch ein Anblick! Das Deck sah aus wie ein Krautfeld, in dem ein Rudel Wildschweine seine Mahlzeit genommen hat. Da war nichts mehr ganz, die Dielung aufgerissen, der Mast wie ein Kohlstrunk glatt durchgebissen, der Zaun der Reling durchbrochen, niederhängend und an die Schiffswand schlagend. Ein Gewirr von Trossen und Spieren lag und hing wie ein Netz vom Achterdeck bis zum Bugspriet. Aber das wackere Schiff hatte siegreich mit dem Sturm gerungen, und trotz aller Wunden ging es aufrecht, wenn auch müde und lahm über das rauchende, dampfende Schlachtfeld. Die Sonne war triumphierend aus der Sturmesnacht emporgestiegen. Die Wolken waren wie mit Reisigbesen hinweggefegt. Was hier und da noch in schaumigen Fetzen herumhing, war vergänglicher Natur, war der Hauch des Nachtfrostes auf einer Fensterscheibe.

Wie die Menschen auflebten unter dem wiedergekehrten Lichte! Jeder war auf seinem Platze, und mehr als hundert Hände regten sich, um in überlegter Arbeit gutzumachen, was das unsinnige Rasen des Sturmes verdorben hatte. Der Teerpinsel tanzte über das Deck, die Winde drehte sich von selber und rollte die Taue auf, so daß sie sich hinlegten wie Vogelnester. Kommandoworte ertönten, Matrosen liefen hin und her. Nur den Kapitän sah man nicht. Aber auch er war nicht müßig. Er hatte den Revolver ins Etui zurückgelegt und saß im Kartenhause. Mit einem Bleistift auf der Seekarte befragte er den Kompaß, verglich ihn mit dem Stand der Sonne, rechnete und rechnete, bis er heraus hatte, wo das Schiff sich befand. Endlich erhob er sich und rief von der Brücke herunter dem Maschinisten zu: »Wir haben eine Schlagseite auf Steuerbord und können höchstens zehn Knoten fahren, nicht wahr? Gleichwohl werden wir am Abend ins Süßwasser des Kailani kommen und die Zitadelle von Kolombo sehen.«

Diese Worte des Alten liefen wie eine Siegesdepesche in alle Winkel des Schiffes und wirkten wie die Alarmtrompete im Kasernenhofe. Leute, die sich schon im Bettgestell wie in ihrem Sarge eingerichtet hatten, erhoben sich und lasen wieder die erbärmlichsten Dinge zusammen, die ihr auferstandener Leib eben nicht entbehren konnte. Vom Seewasser klebrige Strümpfe wurden über die nackten Füße gezogen. Mäntel und genagelte Schuhe wurden aus den Koffern geholt und bereit gelegt. Ein jeder wollte fix und fertig sein, wenn der Augenblick gekommen war, das Schiff zu verlassen. Wie hatte man das Meer so satt und seine Schrecken! Nur keine Minute länger auf dem Wasser bleiben, als unbedingt erforderlich war, nicht um ein Vermögen, nicht um alle Schätze Indiens. Mancher, der das Schiff bestiegen hatte in der Absicht, in Australien mit Diamanten zu handeln, änderte seinen Plan und gedachte sich auf Ceylon mit dem Hausieren von Streichhölzern durchzuschlagen.

Auch Master Samsons goldene Berge waren zu kleinen Maulwurfshügeln zusammengesunken. Sein Arm, der ihm die Welt erobern sollte, war von dem Schiffsarzt in eine Holzschiene gewickelt worden, und wie er aussehen würde, wenn diese Hülle fiel, wußte vorläufig niemand zu sagen. Doch er verzagte nicht. Solange die Vorsehung den Menschen Füße ließ und ihm so viel Platz auf der Erde, daß man einen Schusterstuhl darauf stellen konnte, wollte er sich getrauen, seinen Mund mit ehrlich erworbenem Futter durchzuschlagen. Er hatte wenig Wissenschaft in seiner Jugend gesammelt, aber er hatte öfter einem Schuster zugesehen, während andere in der Schule saßen, und dies Bemühen konnte nun seine Früchte tragen, vorausgesetzt, daß die Leute in Hinterindien Futterale über ihren Hühneraugen trugen. ›Deshalb mal immerzu und vorwärts, bis man auf nichts mehr tritt,‹ dachte er und raffte mit dem linken Arme seine Siebensachen zu einem Bündel zusammen.

Die Logleine klingelte und wickelte sich ab. Man machte eifrig Knoten. Das war vorläufig die Hauptsache. Man stand auf Deck und suchte den Horizont ab nach Land. Essen und Trinken konnte auch einmal ausfallen.

Als gegen vier Uhr des Nachmittags eine dunkle Linie die blaue Ferne begrenzte, kam eine große Aufregung unter die Reisenden. Jeder bückte sich, hob vom Boden auf, was sein war, und warf es in Koffer und Kasten. Verstohlen erhob man über diesem Geschäfte zuweilen den Kopf. Man traute nicht recht. Man fürchtete, das ferne Land könne sich wie eine Nebelwand in nichts auflösen, und man holte Ferngläser herbei und war froh, als man sich überzeugte, daß man ein festes Gebirgsmassiv vor sich habe und nicht etwa die veränderlichen Formen eines Wolkengebildes.

Unter den vielen, die sich freuten, an Land zu kommen. gab es zwei, die diesem Geschehnis mit gemischten Gefühlen entgegensahen, weil es ihnen die Trennungsstunde bedeutete. Das Schiff wird seine Reise nicht fortsetzen können. Es wird ins Trockendock zur Reparatur gehen. Irma wird in Kolombo eine andere Fahrgelegenheit finden und weiterfahren. Innocenz wird auf den Kaimauern im Sonnenbrande hinschlendern, sich gegen die Moskitos wehren, im dünnen Schatten der Dattelpalmen liegen und sich nach einer Lotosblume sehnen, die das Wasser weiter getragen hat, immer weiter nach Osten, bis es sie an einen dürren Strand schwemmt, wo ihre Wurzeln eintrocknen und ihr Blütenkelch auf welkem Stengel sterbensmüde in die Abendsonne sinkt.

Unter solchen Gedanken half der Arzt die Koffer Irmas packen. Er glättete ihre weiße Leibwäsche mit den Händen, um sie in den Kasten zu legen, und wenn er an die Körperformen dachte, denen diese Gewebe sich vertraut anschmiegen durften, dann flutete eine heiße Welle durch seine Adern, färbte sein Gesicht mit verräterischer Röte und legte in seine Blicke einen flammenden Liebeshunger.

Sie sah ihn an, erriet seine Gedanken, drückte ihre blassen Wangen an sein glühendes Antlitz und flüsterte, die Augen schließend: »Hab' Geduld, der Himmel ist uns ein Wiedersehen schuldig.«

Während sie emsig weiter arbeiteten, kam dem Arzt das Geschenk des Jankel Navratil noch einmal unter die Finger. Wie waren sie so herzig, die kleinen Dinger. Innocenz hörte, wie sie auf der Diele klappten, und sah, wie in ihnen ein dicker Knirps daherschwankte und die Speckhändchen hilfesuchend nach ihm ausstreckte. Da durchrieselte ihn zum ersten Male das heilige Gefühl der Vaterfreude. Irma sah, wie er zitterte, und fuhr mit ihren schlanken Fingern über seine Hand, nahm die Schuhe und barg sie wie ein Kleinod unter Spitzen und feinem Seidenzeug, während ihre Lider sich weit öffneten und ihre Blicke sich in seine Augen bohrten, als ob sie ihm ein großes Geheimnis offenbaren wolle. Aber sie schwieg gleichwohl und legte nur ihr Haupt schutzsuchend unter seine Schulter. Indessen hatte ein feuchter Tau in ihren Augen sich zu Tränenperlen verdichtet, die langsam über ihre blassen Wangen rollten. Innocenz sah die Tränen und schüttelte den Kopf. Er konnte sie nicht verstehen.

Ihr Schweigen wurde durch den Schrei der Sirene unterbrochen, der wie ein Jubelruf über das Wasser schwebte. Sprach die blecherne Stimme des Schiffes bereits mit dem Lande? Wenn dem so war, ach, dann hatte ja die Uhr ausgehoben, um die Trennungsstunde der Liebenden zu schlagen. Der gleiche schmerzliche Gedanke bewegte zwei Seelen und umflorte vier Augen mit Trauerschatten, als ein Schiffsjunge unter die Tür der Kabine trat und mit seemännischer Kürze meldete: »Gnädige, der Kapitän hat durch Flaggensignale erfahren, daß am Abend ein Dampfer nach Hongkong weitergeht. Alle Passagiere, die es wünschen, werden ausgebootet und können vor Sonnenuntergang ihre Reise fortsetzen.«

Damit verneigte er sich und ging mit gutem Gewissen seiner Wege. Er hatte ja keine Ahnung davon, welch bittere Kunde er gebracht hatte. Also bevor noch die Sonne im Westen zum Meere niedergesunken war, trennte ein Wasserstreifen, der von Minute zu Minute breiter wurde, die Liebenden. Keine Brücke gab es, auf der eine Annäherung möglich war. Ja hätte man selbst Königreiche ins Meer versenkt, kein Stein von ihnen hätte übers Wasser geguckt, um ihren Fuß zu tragen.

Noch ehe sie Zeit hatten, diesem Empfinden nachzugeben, verwirrte ein hastiges Laufen auf allen Gängen und Stufen ihre Gedanken. Fässer wurden gerollt, Koffer geschleift, Schachteln und Bündel getragen. Alles strebte aus dem Bauche des Schiffes nach oben, floh vor der dicken, muffigen Luft, die durch das enge Zusammenleben vieler Wesen und Dinge allmählich entstanden war. Von außen her drangen fremdartige Laute einer unbekannten Sprache ans Ohr, Worte, die Hilfe anboten und doch in ihrer Wildheit Schrecken erregten. Da war nun kein Platz mehr zu innerer Sammlung. Im Geräusch der Dinge, die sich aneinander rieben, wurde die Stimme des Herzens übertäubt. Auch Irma und Innocenz kamen in den Strudel und wurden erbarmungslos vorwärtsgeschoben, wie vorm Billettschalter eines Theaters. So kamen sie nach oben und sahen das Schiff umschwärmt von Hunderten von kleinen Booten, die sich nach dem Fallreep drängten. Ihre Führer schillerten in allen Farben, vom fahlen Gelb des Malaien bis zum Ebenholzschwarz des Nubiers. Dabei hatten ihre Physiognomien zum Teil alles Menschliche abgestreift. Manche erinnerten an Bulldoggen, andere an hindostanische Götzen voller Heimtücke und Bosheit. Und in diesen Tiergarten sollte Irma van der Klingen hinuntersteigen und sich der Führung solch fragwürdiger Wesen anvertrauen! Innocenz schauderte bei dem Gedanken, faßte die Geliebte um die Taille und zog sie fester an sich heran. Feuchten Auges sah sie ihn dankbar an.

Indessen gab der Dampfer, der zur Abfahrt bereit drüben an der Kaimauer lag, ein Signal, das zur Eile trieb. Nun wurde das Menschengewimmel auf dem Fallreep geradezu lebensgefährlich. Einer suchte dem andern mit bepackten Schultern den Vortritt abzuringen. So stießen Gepäckstücke widereinander, rollten die Stufen hinunter und fielen, wenn's gut ging, auf den Boden des Nachens oder wurden von flinken Händen eben noch aus dem Wasser herausgefischt. Anderes sank ins bodenlos Tiefe. Grimmige Worte steigerten sich zum Geheul. Wütende Blicke flogen herüber und hinüber, und dieselben Menschen, die noch vor wenig Stunden fromm füreinander gebetet hatten, fingen wieder an, sich zu hassen und zu verwünschen.

War ein Nachen gefüllt, so stieß er ab, drängte sich mit Ruderschlägen zwischen den anderen durch und fuhr dem Lande zu oder bog um den hohen Kiel eines schwarzen Schiffsrumpfes herum, um da hinten irgendwo zu verschwinden.

Irma van der Klingen stand noch immer unbeweglich neben Innocenz und sah verträumt auf das nervös überhastete Treiben der Reisenden hinunter. Sie hatte keine Eile. Ja, es schien, als ob sie auf ein Wort wartete, das sie einlud, dazubleiben. Sie setzte sich noch einmal und sah dem Mann an ihrer Seite fragend ins Gesicht. Der schien sie nicht zu verstehen oder wußte zur Stunde nicht, was er mit einem Weibe beginnen sollte. Innocenz war im Angesicht von Kolombo nicht unternehmender, als er es war vor der Taubhausmühle.

So leerte sich das Verdeck, und auf den Stufen des Fallreeps gab es Platz. Da rief von unten eine ungeduldige Stimme: »Wird's bald? Bei solchem Zögern kann selbst einem Lloyddampfer die Geduld knapp werden.«

Irma erhob sich entschlossen, legte ihre Lippen an das Ohr des Geliebten und flüsterte leise: »Auf Wiedersehen übers Jahr, so Gott will!«

Innocenz nickte schweigend, faßte die liebe Gestalt, drückte sie an seine Brust und trug sie die Stufen der Schiffsleiter hinunter, an deren Ende sie von ihm niederglitt in die braune Höhlung eines Fischerbootes. Ruder senkten sich in die Flut. Wassertropfen spritzten auf; der Kiel kam ins Gleiten. Einen Augenblick noch flatterten nasse Taschentücher in der Luft, dann war der letzte Faden, der zwei Menschenherzen verband, durchgerissen, und mit dem Nachen war Irma im Schatten gewaltiger Schiffsleiber verschwunden.


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