Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Nachdem Innocenz Lorum vom Hause der Mutter Gutbrot aus eine Zeitlang nach Großem und Glänzendem geangelt hatte, kam er zu der Überzeugung, daß, wenn die Forelle nicht beißt, auch ein Weißfisch mitunter ein guter Bissen sein könne, und er hielt zum zweiten Male seinen Einzug in Birkenried. Als ob der Flickkorb einer Weißnäherin ausgeleert worden wäre, fielen auch diesmal aus sackgrauen Wolken mächtige Schneeflocken und verschluckten völlig das bißchen Licht, das an dem frühen Novemberabend spärlich genug vom Himmel kam. An der Taubhausmühle reckte Innocenz den Kopf zum Wagenfenster hinaus, sah aber nichts als eine rote Lampenglut, die, durch weiße Tüllvorhänge gemildert, in das Dunkel der Straße stach. Warum starrte der junge Mann so nach den Fenstern hin, und was konnte er zu finden hoffen? Ach, er wäre selbst mit einem entstellten Schattenriß zufrieden gewesen, den er mit dem Bilde von Käthchen Sommertag hätte vergleichen können, das immer noch frisch und jungfräulich in seiner Seele lebte. Ihm klopfte das Herz bis zum Halse herauf, und eine warme Hoffnung hüllte ihn in ein schmeichelndes Ahnen ein, daß am Ende doch noch nicht alles zwischen dem Mädchen und ihm vorüber sein könne. Dem Mädchen? Aber sie war ja kein Mädchen. Sie war doch die Frau eines anderen, eines Mannes, der eines schönen oder häßlichen Tages wiederkommen und seine verbrieften Rechte einfordern würde. Innocenz mußte sich dies wieder und wieder sagen, um seine störrigen Gedanken, die wie scheuende Rosse über die Randsteine, die neben dem Pfade des Biedermannes hinlaufen, hinüber wollten, auf dem Fahrdamm der Rechtschaffenheit zu halten. Was konnte es zwischen ihm und Käthchen Hebenstreit – Hebenstreit? ach, daß sie diesen Namen gegen einen Sommertag einhandeln mußte! – noch anderes geben als eine glatte Höflichkeit und ein bißchen Mitleid, wie man es einem Handwerksburschen schenkt, dessen innere Not neugierig durch zerrissene Rockärmel in die Welt hineinguckt?

Innocenz erreichte seine Wohnung und wanderte am nächsten Morgen bereits wieder hilfebringend durch die vertrauten Gassen und Winkel. Noch floß der Pfuhl über die Stalltürschwellen und bildete im Schnee braune Lachen, in denen die Gänse mit roten Beinen standen und sich wunderten, daß die Welt immer weißer wurde, trotzdem sie mit Schnattern dagegen protestierten. Noch hämmerte hinterm Hängeladen der Nagelschmied, und der ortsgewaltige Ratsdiener lief mit großen Steuerzetteln und einem kleinen Duft nach Wacholderschnaps die Treppen auf und ab.

Leute, die nach den Kramläden gingen, grüßten den Arzt höflicher als vordem und zogen ehrerbietig, fast wie vor dem Pfarrer, die Mütze vom Kopfe. Der Ruhm des weitgereisten Mannes hatte ihn auf ein höheres Piedestal gestellt.

Auch war der Knochenfranzel nicht mehr da, der, wie die Volksausgabe eines guten Buches auf schlechtes Papier gedruckt, immerhin das Respektgefühl vor dem ärztlichen Personal herabminderte. Alleinherrscher auf seinem Arbeitsfelde, ging Innocenz in seinem Berufe auf. Er wurde von Woche zu Woche wunschloser und wäre schon beinahe im harmonischen Zusammenleben mit seiner Umgebung zufrieden gewesen, wenn ihn nicht zuweilen das unbändige Verlangen überwältigt hätte, Käthchen, seine erste Liebe, wiederzusehen. Ein paarmal war es ihm gelungen, den Gedanken im Entstehen niederzuringen, ein paarmal war er bis zur Schwelle der Taubhausmühle gekommen und hatte sich auf dem Absatz herumgedreht, ein paarmal war er hineingegangen und hatte seinen Wein getrunken, ohne daß ihm Käthchen zu Gesicht kam. Ein fremdes Mädchen mit einem importierten Gesicht, das in der Gegend nicht seinesgleichen fand, nahm dem Lokal seinen familiären Charakter und bediente die Gäste. Man war nicht vernachlässigt, aber man fühlte sich nicht mehr daheim. Innocenz verweilte nicht mehr mit Behagen in der Nähe des Kachelofens und floh in die Gesellschaft seiner Bücher.

So war der Winter hingegangen. Der Saft stieg in das tausendfach geästelte Netz der Bäume. Nun durfte die Axt des Holzschlägers nicht länger im Forste wüten. Ihr Werk war getan, denn große Fichtenleichen lagen geschält und zur Abfuhr bereit quer über schmale Waldwege.

Da schrillte eines Nachts die Glocke des Arztes erbärmlich durch den Hausgang. Innocenz fuhr aus dem Bette und eilte ans Fenster. Unten stand im fahlen Mondschein eine Gestalt und warf einen langen Schatten über den nächsten Dunghaufen.

»Was wollt Ihr?« rief der Doktor.

»Seid Ihr's selber?« war die Antwort.

»Wenn ich mich kenne, dann bin ich Doktor Lorum, und nun seid so gut und rückt heraus damit, wer Ihr seid, oder sagt, was los ist, daß Ihr meinen Schlaf stört?«

»Was los ist? Ja, wer das sagen könnte, ohne Euch gefragt zu haben. Von außen gleicht er einem Hinterwälder Holzhändler, aber er ringelt sich wie eine Schlange und ist deshalb am Ende gar ein Salamander. Möglich, daß er einen über den Durst getrunken, möglich, daß er einen Froschtümpel verschluckt hat, denn aus ihm heraus quakt es wie aus sumpfigen Wiesen in Juninächten. Nehmt zur Sicherheit ein Purgirmittel mit, damit Ihr nicht zweimal den Weg verlauft. Zeit ist Geld, und wer zu etwas kommen will, muß an seinen Stiefelsohlen sparen.«

»Und wo finde ich den Kranken?«

»Da, wo man ihn hingelegt hat. Er ist Euch so rund wie ein Schweizerkäs, aber er rollt nicht fort. Im Gegenteil, man muß befürchten, daß er die Erde durchliegt und in Afrika irgendwo herauskommt.«

»In welchem Hause?« fragte der Arzt verdrießlich.

»In keinem Hause, in einer Mühle. In der Taubhausmühle links vom Hausgang hinter der Tür, in der die Katze ihr Schlupfloch nach dem Speicher hat. Aber Doktor, geht nicht auf einmal zu dem Manne. Mehr so nach und nach und brockenweise. Der Schmerz hat ihn nervös gemacht. Er könnt' erschrecken, wenn er Euch auf einmal sieht und Euren Schröpfkopfkasten.«

»Nun macht, daß Ihr viertelpfundweise zum Teufel kommt!« sagte der Arzt. »Der heurige Wein scheint aus Euch zu reden.«

Er schlug das Fenster zu und begann, sich eilig in die Kleider zu werfen. Sobald das Wort Taubhausmühle gefallen war, schwebte vor der Seele des Arztes keineswegs das gedunsene Bild eines kranken Holzhändlers, sondern das des einst so heiß geliebten Weibes. ›Ob er sie wohl heute sehen würde, ob sie sich wohl verändert habe, und was ihr Auge zu ihm sagen werde, wenn auch ihr Mund schwieg,‹ das waren die Gedanken, die mit dem Arzt aus dem Hause gingen, ihn hinein in den Mondschein der Straße begleiteten, laut mit ihm redeten, lauter als das Murmeln des Windes in den Hohlziegeln der Scheunendächer, lauter als das Plätschern des gesprächigen Dorfbrunnens.

Die Taubhausmühle lag im dunklen Schatten ihres breiten Daches. Nur ein Fenster links vom Eingang glühte im roten Lichte. Innocenz tastete die Klinke und trat ins Zimmer. Da stand schlank und hehr, wie Diana selber, Käthchen Sommertag neben dem Tische und hatte die Hand in ein Waschbecken getaucht.

Der Arzt war wie betäubt. Er fand den Holzhändler nicht, so dick der auch war. Sein Auge war ertrunken in der Schönheit dieses Weibes. Seine Beine standen wie im Moorboden einer Wiese; er konnte keinen Schritt vorwärts machen. Die Situation war so, daß sie einen Stich ins Komische annahm.

Da ging Käthchen mit königlicher Haltung auf ihn zu und reichte ihm stumm die Hand. Sie zog den Willenlosen vorwärts nach einem Sofa, auf dem der Kranke lag, umringt von einem Häuflein Gaffer, das Mitleid heuchelte, während die Neugier vorwitzig aus allen Gesichtern lachte. Man war ganz Erwartung. Man erhoffte auf Kosten des Holzhändlers ein Schauspiel oder eine seither noch nie dagewesene Operation. Jeder einzelne fühlte, daß sein Ansehen ins Ungemessene wachsen müsse, wenn er von sich behaupten könne, daß er der tapfere Augenzeuge eines unerhört kühnen Wagnisses gewesen sei. Ein Stückchen Unsterblichkeit schien für jeden an dem kostbaren Moment zu hängen. Man war deshalb höchlichst enttäuscht und indigniert, als der Arzt verlangte, daß das verehrliche Publikum sich entfernen möchte, damit der Holzhändler in Ruhe seinen Rausch ausschlafen könne.

Die guten Leutchen kamen sich vor, als ob sie von zwei Falschspielern zu gleicher Zeit betrogen wären, von dem Kranken und von seinem Arzt. Zögernd und schwerfällig kam man der Aufforderung, den Platz zu räumen, nach, denn mancher trug nicht nur seine Person zur Tür hinaus, sondern noch einen Haufen höchst wichtiger Ratschläge und Verordnungen, die vordem einem Kesselflicker die Gesundheit gebracht hatten und bei einem Holzhändler sicher nicht versagen konnten.

Daß der Arzt die müßigen Gaffer entfernte, lag im Interesse seines Kranken, aber auch in seinem eigenen. Das Feuer knisterte im Ofen. Die Schwarzwälderin tickte im Uhrkasten, und die Lampe am Durchzug drehte sich gemächlich um sich selber. Sonst war alles Leben im Gemach erstorben, denn der Holzhändler war so gut wie tot. Einsamkeit ringsum, und ein Liebespaar, das nach Jahren schmerzlicher Trennung sich nun wiederfand, war ohne Aufsicht und Kontrolle.

Innocenz hatte zaghaft die Hand der Geliebten ergriffen und sah ihr lange ins feucht schimmernde Auge. Sie ließ es geschehen und lehnte sich zart und leise an den Körper des Arztes, als ob sie sich ausruhen wolle von einem langen, mühseligen Irregehen durch das Dornengestrüpp des Lebens. Dann aber sank ihr Kopf mit dem weichen Flatterhaar tiefer und tiefer, bis er an seiner Brust ruhte. Nun kam ein verhaltenes Stöhnen, ein schmerzliches Zittern, ein krampfhaftes Zufassen, ein leises Niedergleiten, bis mit einem Male ein konvulsives Weinen die ganze Gestalt wieder hochschnellte und sie schüttelte, daß sie bebte und sich beugte wie eine Pappel im Novembersturm.

Innocenz, erschreckt und überrascht zugleich, fühlte instinktiv, daß es Situationen gibt, in denen Worte gar nichts sagen können. Er handelte, und er tat, was bei tausend Frauen das allein Richtige gewesen wäre. Er schob die Hand unter das sammetweiche Kinn des geliebten Weibes, bog das Haupt in den Nacken und suchte mit seinen Lippen die ihrigen.

Doch vergebens. Käthchen Hebenstreit war anders geartet wie die Mehrzahl ihrer Schwestern. In ihr hielt stolze Frauenwürde die heiße Leidenschaft wie ein wildes Tier an eiserner Kette gefesselt. Sie wand sich los aus der Umklammerung des Arztes, trat einige Schritte zurück und streckte abwehrend die hoheitsvollen Arme vor sich aus.

»Ich bitte dich,« rief sie mit flehend weicher Stimme, »mache mich nicht unglücklicher als ich bin. All' die Jahre her hab' ich im Arme meines Mannes nur dich geherzt und dich gestreichelt, und wenn ich einem Kinde das Leben geschenkt hätte, mit deinen Zügen im Gesicht hätte es mein heiliges Geheimnis in den Markt hineingeschrien und der Menge verkündet, mit wem ich gelebt habe. Was halfs, daß ich in entnervendem Kampfe mit mir selber rang und zu vergessen suchte? Ohne mich selbst zu zerstückeln, konnte ich dein Bild mir nicht aus dem Herzen reißen. So schwankte mein Sein zwischen Ersehnen und Bereuen hin und her. Vor der Menge eine Rechtschaffene, vor mir selber eine Sünderin. Oft meinte ich, mein flammend heißes Sehnen müsse irgendwo in der Welt dich finden und dich zu mir ziehen, und als du kamst, da fing ich an dich zu fürchten. Mir war's, als ob du mir das Letzte nehmen könntest, was ich noch besitze, die Achtung vor mir selbst. Nun weißt du, weshalb ich dir aus dem Wege ging. Und nun, du Lieber, werde stark wie ich es sein muß, und fordere nichts von dem, was ich an einen anderen verkauft habe. Sei mir ein wackerer Freund, und ich werde dir verzeihen, daß du einen Augenblick auf eine Stimme hörtest, die mich schlecht nannte, und mit dem letzten Hauch meines Mundes will ich dich segnen und im Himmel warten, bis du kommst und mich die deine nennst. Der Gott, der die Flamme in mein Herz gelegt und mich unglücklich gemacht hat, er kann seine Kreatur nicht so verlassen, daß er ihr jedes Hoffen nimmt.« Weiter kam Käthchen nicht. Von innerer Bewegung überwältigt, schlug sie die Hände vors Gesicht und verließ schluchzend das Gemach. Nicht einmal der Laut ihrer Tritte lief hinter ihr her. Geräuschlos war sie wie ein Engel in ihre Kammer hinaufgestiegen.

Innocenz stand in namenloser Verwirrung da. In seinem Kopfe wälzten sich Erinnerungen und Vorwürfe schäumend wie Wasser in einer Turbine, und sie schufen doch nichts weiter als ein tosendes Brausen, das Schrecken erregte und wilde Klagen der Reue.

Mitten in diesen Wirrwarr mischte sich plötzlich ein Laut, der nicht von innen kam, sondern von außen. Es war das Schnarchen des Holzhändlers. Der Arzt hatte ihn schier vergessen. Nun drehte er sich hastig nach ihm um und sah außer dem Schlafenden noch etwas, was ihn peinlich berührte.

Vor dem Fenster bewegte sich draußen der Laden. Aber es war nicht so, als ob der Wind mit ihm sein Spiel triebe, sondern so, als ob ihn jemand hastig niederdrücke, um zu verbergen, was hinter ihm vorging.

›So also kommen sie auf ihre Kosten,‹ dachte Innocenz, ›das sind sie, die Hinausgewiesenen. Sie haben an den Wänden gelauert, und nun wird mit dem ersten Morgenlüftchen ein Flüstern durch das Dorf schleichen, ein giftiges Schlangenzüngeln, das an ihrer und meiner Ehre leckt und beide unter schleimigem Geifer begräbt.‹ Eine gewaltige Wut gegen etwas, was er leider nicht fassen und nicht erwürgen konnte, packte ihn. Seine Fäuste griffen in die Luft, und er stürzte vor die Tür. Nur der Mondschein lag in den Straßen. Die Welt war so menschenleer wie nach der Sintflut. Und doch wußte Innocenz, daß in diesem Augenblicke aus Astlöchern und Türspalten mehr als ein Dutzend hämischer Schurkenaugen nach ihm schielten, wußte, daß Späherblicke um Hausecken herum ihn verfolgen würden, bis die Tür seiner Wohnung sich hinter ihm geschlossen hatte.

Verärgert ließ er die Mühle und den trunkenen Holzhändler hinter sich und hastete über die Straße, um sich in Sicherheit zu bringen. In seinen vier Wänden wurde er ruhiger. ›Mein Gott, was war denn geschehen? Mehr nicht als was auf dem Markte, selbst unter der Kanzel während der Sonntagspredigt hätte geschehen können. Und doch, und doch! Wie werden die feinschnüffelnden Hunde das Wild riechen und Lärm schlagen, wenn sie es an den Weichen gepackt und in den Kot gerissen haben.‹

Ein ohnmächtiges Rasen gegen das Menschengeschlecht erfaßte den Arzt, und er verfluchte den Augenblick, in dem der übel beratene Noah den Rest der Bande aus dem Kasten führte.

Als die Wut einem ruhigeren Nachdenken allmählich wich, erkannte Innocenz voller Scham, daß er selber nicht besser sei als seine verehrlichen Mitmenschen. Hatte er denn damals, als er im Unterholz des Waldes stand, mehr gesehen als die spitzbübischen Lauscher am Fensterladen, und hatte er nicht an dem Fädchen seiner Beobachtung gesponnen und gesponnen, bis daraus ein dicker Strick wurde, mit dem man Käthchen Sommertag an den ersten besten Laternenpfahl hängen konnte? Von diesem Gedanken verfolgt, wurde er vor sich selber klein, so klein und zerknirscht, wie er es einst war, als er frierend und zähneknirschend vor dem furchtbaren Beichtstuhl des Pater Bonifaz in der Nikolauskapelle gekniet hatte.

In den folgenden Tagen ging Innocenz mit reinem Gewissen aufrecht durch die Straßen. Aber, wenn er einem von denen begegnete, die um den Holzhändler und seinen Rausch herumgestanden hatten, so nahm er dessen Gesicht aufmerksam aufs Korn. Doch die verschmitzten Bauernphysiognomien verrieten weder durch das Zucken eines Mundwinkels noch durch den flüchtigen Schein eines Lächelns, daß sie irgendwie über einen christlichen Mitbruder irgend etwas Arges dachten oder nur ahnten. Aber der Arzt traute den schafsledernen Visagen nur halber. Sein Auge hatte flüchtige Blicke aufgefangen, die pfeilschnell wie mausende Hamster von seinem Gesicht nach dem der Frau Hebenstreit schossen, wenn er in die Stube der Taubhausmühle trat, und seinem mißtrauischen Ohre war das Schleichen leiser Pirmasenzer Filzpantoffel um die geschlossenen Läden des Hauses nicht entgangen.

Käthchen vermied mit Ängstlichkeit alles, was sie ins Gerede bringen konnte. Sie sprach mit dem Arzt nicht mehr als nötig war, um über dessen Wünsche und Aufträge ins klare zu kommen. Die Flammenzunge der Verleumdung sank nieder, und die Glut, die nicht mehr geblasen wurde, schien zu verloschen.

Da geschah etwas ganz Unbedeutendes, ein Nichts, und brachte doch das ganze Dorf in Aufregung. Frau Hebenstreit hatte an einem Sonntag schwankenden Schrittes die Kirche verlassen. Schellenzeichen hatten eben die fromme Gemeinde darauf vorbereitet, daß die Wandlung gekommen sei, und daß der Herr in Brotsgestalt sich seinem Volke zeigen werde. Das Schweigen der Anbetung harrte dem heiligen Augenblicke entgegen. Da gerade wurde Frau Hebenstreit bleich und bat ihre Nachbarin, ihr Platz zu machen, daß sie den Stuhl verlassen könne. Sie schwankte durch den Gang der Kirchentür zu. Alle Leute auf der Orgelbühne sahen sie – das war selbstverständlich – aber nicht bloß die, sondern es sahen sie auch – und das war wunderbar – die Schulbuben im Chor, mitsamt den Meßdienern und den unschuldigen kleinen Mädchen auf der linken Seite vom Hochaltar. Und diese ganz Harmlosen stießen sich mit den Ellbogen, lächelten bedeutungsvoll und begruben dann die schielenden Augen in die heiligen Psalmen der Gesangbücher. Der einzige, der nicht gleich wußte, was vorging, war der Priester am Altar, der in dem feierlichen Momente der Wandlung, mit breitem Meßgewand angetan, seiner Gemeinde den Rücken zudrehte. Ihm aber erzählte in der Sakristei der Mesner, während er ihn entkleiden half, was sich ereignet hatte. Der würdige Herr machte ein erschrockenes Gesicht und seufzte nach dem Gekreuzigten hinauf, der am Paramentenschrank hing: »Herr, alle deine Wasser gehen über mich!« Und er schüttelte den Schnee seiner Locken, daß er empört auf der goldgestickten Stola tanzte.

Er war aber der einzige, dessen Herz sich mit Trauer füllte bei dem schweren Gedanken, daß des Fleisches Schwachheit einem seiner Pfarrkinder zum Fallstrick der Tugend geworden sein könne. Die andern freuten sich auf einen Skandal wie auf die Fastnacht und suchten eifrig nach Zeichen, die den Verdacht bestärkten. Man putzte die Brillengläser und richtete sie auf Käthchen Hebenstreit. Man suchte der Vertraute ihrer Waschfrau zu werden, man erfragte beim Krämer, ob in Kinderwäsche keine Einkäufe gemacht worden seien.

Von jetzt ab mehrten sich dem Arzt die Zeichen, daß das Ansehen seiner Person abermals im Schwinden sei. Leute, die vordem bei seinem Erscheinen die Mütze bis zu den Knöcheln gezogen hatten, lüpften sie jetzt nicht höher, als ein Kuhhorn über den Schädel guckt. Andere stierten interessiert in die Streichholz- und Zichorienauslage eines Krämers hinein, wenn er auf sie zukam, und blickten ihm nach, wenn er von ihnen wegging. Am Geburtstag des Landesfürsten, wo Gevatter Holzschuhmacher und Blaufärber ihren Patriotismus an der Festtafel abstempeln ließen, umging man im Bogen den Arzt, wenn man sich die Ehre gab, mit dem Stationskommandanten auf das Wohl des Landesvaters anzustoßen.

Innocenz bemerkte alle diese Zeichen, die öfters etwas Provozierendes an sich hatten, und nahm sich vor, den Fehdehandschuh aufzuheben und der Verleumdung bei der ersten besten Gelegenheit kraftvoll ins Gesicht zu schlagen. Den Ziegenhainer fester in die Faust gedrückt, trat er auf die Türschwellen, daß die Häuser wackelten. Seine Stimme wurde herrisch und seine Worte mitunter rücksichtslos und verletzend. Es war, als ob er den Streit vom Zaune brechen, aus irgendeinem Munde das schändliche Wort »Ehebrecher« herausreißen wolle, damit es Wesenheit annehme und seine Faustschläge fühlen könne, anstatt daß es ungreifbar herumkroch, geduckt und lauernd wie ein Gespenst, das durch die Sturmnacht schleicht und Brunnen vergiftet. Aber keiner von den Maulwürfen zeigte die Schnauze am Tageslicht, und die dunkle Minierarbeit ging weiter.

Der Winter trifft den Dachs im Bau, den Bauer unter seinem Strohdach. In Klumpen sammeln sich die Nachbarn auf der Bank, die um die »Kunst« gezimmert ist, kriechen schier ineinander hinein und bähen sich den Buckel an den warmen Kacheln. Hier in den verräucherten Stuben beim Schnurren des Spinnrades und beim Klappern der Stricknadeln kramt die Liese aus, was sie über die Suse gehört, und die Saat der üblen Nachrede schießt frech in die Halme. Bei einer gewagten Anspielung begegnet Hansphilipp einem ermunternden Lächeln, wird kühn und findet ein unzweideutiges Wort. Der Petervelten, neidisch auf den Ruhm seines Vorredners, übertrumpft diesen mit einer Unflätigkeit und hat die Lacher auf seiner Seite.

Beim Lebkuchenfranzel waren die Spinnräder mit den bunten Rockenbändern zusammengetragen. Die Bauerndirnen hatten die Röcke Schlitz auf Schlitz angezogen und waren gekommen, um sich auszuleben. Der Frühling war nahe, und man mußte doch Sünden haben, daß sich die Osterbeichte lohnte. Man setzte sich in bunter Reihe auf die Bank, die der Wand entlang lief. Der Ziehharmonikaspieler saß auf einem Schemel mitten in der Stube, sein Instrument auf den Knieen. Er ließ sich hören, und der Chor sang nach schleppenden Melodien schwermütige Heimatlicher: »Zu Straßburg auf der Schanz« und »Es geht bei gedämpfter Trommel Klang«. So pflegt die Orgie zu beginnen.

Sobald die Stimmung bei fortschreitendem Abend und kreisendem Maßkruge sich gehoben hatte, kamen Schelmenlieder an die Reihe und schnurrige Erzählungen aus dem Leben der Hinterhäuser. Von Zeit zu Zeit machte sich einer der Burschen an der Hängelampe zu schaffen. Sie brannte trüber für Augenblicke, und nun verriet der grelle Ausschrei von Mädchenstimmen, daß die Burschen zuzugreifen verstanden. Die elegische Stimmung war überwunden. Man rückte einander zu Leibe und redete eine dicke, hanebüchene Prosa, in der die Worte nicht mehr gewogen wurden.

»Die Krämerbärbel gibt's geschwollen,« sagte die Margarete schadenfroh.

»Na, und erst das Taubhauskäthchen! Wer hätte das gedacht?« ergänzte Line.

»Borsdorfer Äpfel kriegen Warzen, wenn die Sonne drauf scheint. Ist die etwa von Biskuitteig?« ließ sich einer der Burschen hören.

»Die Taubhauskäthe?« wunderwerkte eine Schwarzhaarige. »Ich kann's nicht glauben, daß die über die Grenze baut. Eher könnt Ihr mir aufschwatzen, daß der Sägebock kälbert. Wenn ich's seh', so glaub' ich's nicht.«

Ihr antwortete eine Blondhaarige: »Das braucht kein Mensch mehr zu glauben. Man braucht nur Augen, um zu sehen, wie ihr der Rock nach hinten wächst.«

»'s wird 'ne Komödie geben,« fiel einer der Burschen ein, »wenn der Baldachin kommt. Der läßt sich nicht übers Vorend zackern.«

»Ein bissel lebhafter wird er schon reden, als Mosche Stutzig geredet hat. Er gehört nicht zu denen, die den Liebhaber auf den Knieen der Frau finden und noch fragen können: ›Sahrchen, wo ist denn mein Platz?‹«

Aber diese geschickte Aufwärmung einer alten Dorfgeschichte lachten alle, die in der Stube waren, unbändig. Nur der Ahndel am Ofen steckte den Wassersack seiner Pfeife in die Westentasche, warf die dürren Arme vor sich in die Luft, schüttelte den eisgrauen Kopf und sagte im warnenden Prophetentone: »Wenn's ist, wie ihr sagt, dann ist's nichts zum Lachen, ihr jungen Leut'. Dann ist's gut für jeden, der damit nichts zu tun hat. Der Baldachin ist an dem Tage auf die Welt gekommen, als man den Schinderhannes köpfte, und an einem Quartembertag ist er getauft. Einen hat er schon erschossen; ich glaub', er liefert noch einen auf den Kirchhof.«

»Gemach, gemach. Ahndel!« fuhr die Bärbel Wohlgemut dazwischen. »Wer wird denn gleich vom Umbringen reden? Ein richtiges Pfarrgut ernährt den Domine und den Kaplan, und ein rechtschaffenes Kamel trägt zwei Höcker, ohne daß es zusammenbricht. Warum soll der Baldachin nicht übersehen können, daß ein fremder Ochs auf seiner Wiese grast? Die Hauptsach' ist, daß was Gescheites dabei herauskommt. War der Vater ein Doktor, so kann der Sohn ein Professor werden. Die Gescheitheit erbt sich fort wie ein altes Kanapee, und auf beiden sitzt sich's nicht schlecht.«

Der Ahndel, der zu alt war, um an der Bärbel ihrem losen Gerede noch Gefallen zu finden, klopfte seinen Pfeifenkopf aus auf den Ofenstein und ging mit schlürfenden Schritten in seine Kammer. Bald brachen auch die jungen Leute auf und gingen paarweise ins Dunkel hinein unter leisem Flüstern und gelegentlichem Stehenbleiben an Scheunenecken und anderen Stellen, wo sie über sich kein Fenster zu fürchten brauchten. Die Gesellschaft hatte sich aufgelöst. Ein jeder trieb auf eigne Rechnung sein Geschäft.

Was in der Spinnstube gekocht worden war, wurde dem Arzt am nächsten Tage tellerwarm serviert. Jedes Dorf hat seine Zuträger mit Filzpantoffeln und sanften, frommen Gesichtern voller Mitleid, die an Kranken- und Totenbetten herzbeweglich weinen, bei Kindstaufen und Schlachtfesten maßlos essen, und in der Herdecke oder unter der Hintertür den lieben Nächsten gottsträflich herunterreißen können.

Eine solche würdige Persönlichkeit war von der Gartenseite aus in der Morgenfrühe in das Haus des Arztes getreten. Der Biedermann hatte ein Taschentuch um das Kinn gebunden und machte ein Gesicht, als ob er der Generalpächter von sämtlichen Zahnschmerzen der Erde wäre. Und doch war der verbundene Kopf nur die Schutzmarke, unter der das Geschäft der Zuträgerei betrieben wurde.

So wußte denn Innocenz, ehe noch sein erregtes Herz ein Dutzend Schläge getan hatte, alles, was in der Spinnstube verhandelt worden war. Er wußte, was die Leute über Käthchen Hebenstreit dachten und erfuhr, daß man seine Person in einen Zusammenhang brachte mit dem Zustande der Taubhauswirtin. Da flammte es in ihm auf. Seine Seele reckte und schüttelte sich. Sie wollte den Verdacht abwerfen, der auf ihm selber ruhte und auf dem Weibe seiner Verehrung.

»Du mußt der Sache auf den Grund kommen,« sagte er zu sich selber, als die Tür hinter dem Ohrenbläser ins Schloß gefallen war. »Klar mußt du sehen, Innocenz Lorum, und dann trägst du, was zu tragen ist.« Und er nahm sich vor, in der allernächsten Zeit nach der Taubhausmühle zu gehen, um sich mit den eigenen Sinnen Gewißheit zu verschaffen, ob Käthchen eine Gefallene war oder nicht.

Er wählte zur Ausführung seines Vorhabens einen Samstagsabend. Das Glöckchen rief mit dünner Stimme zum Ave. Die Straßenkehrer vertauschten den Besen mit dem Rosenkranz und liefen spornstreichs dem hell erleuchteten Kirchlein auf der Höhe zu. Unter dem Portal machten sie halt und klopften oberflächlich den dicksten Dreck mit der Hand von den Röcken. Die Kleiderfrage war Nebensache, denn schon ist es schummerig, und der Herr sieht ins Herz.

Innocenz sah den Kirchgängern verärgert nach und dachte im stillen: ›Da laufen sie hin, dem Herrn ein fromm Gesicht zu zeigen, während ihr Herz wie ein Storchennest von Kröten wimmelt und Blindschleichen. Man sollte sie statt mit Weihrauch mit Schwefel räuchern, damit ihre Wespenzungen das Stechen verlernten. Erst laß das Lästern über deinen Nächsten, dann mag dein Lied den Herrn preisen.‹ In diesem Augenblick fing ein Harmonium leise zu präludieren an.

Der Arzt beschleunigte seine Schritte, um fortzukommen, und trat mit nervöser Hast in die Wirtsstube der Taubhausmühle. Sie war leer und von einer schwelenden Lampe nur spärlich erhellt. ›Bald wird jemand kommen und den Docht höher drehen,‹ dachte er und setzte sich in das Halbdunkel einer Ecke.

Richtig, da kam Käthchen Hebenstreit, setzte einen Schemel unter die Lampe, stieg hinauf, reckte den schlanken Körper und suchte tastend die kleine Messingschraube. Das Licht wurde heller, und nun fiel mit einem Male ein matter Strahlenmantel über das Weib herunter, schmiegte sich in jede Biegung ihres Körpers und umriß ihre Gestalt mit gelbem Griffel. Da stand sie wie ein Modell auf einem Postament, und was Innocenz nie zu finden hoffte, wovor er sich fürchtete, das sah sein für anatomische Formen geübtes Auge ach nur zu deutlich.

Da war es ihm, als ob er das Zusammenstürzen eines Gottestempels mit erlebte. In seinen Ohren war ein Zischen und Brausen, als ob Weltmeere sich in den kochenden Rachen von Kraterschlünden ergössen, und um seine Augen wob ein grauer Dunst, dessen Schwefelgeruch seine Nerven beleidigte und seine Schleimhäute ätzte. »Also doch!« stöhnte er, und ohne dem Weibe noch ein Wort zu gönnen, stürmte er vors Dorf hinaus in die Nacht des Waldes, um dort in der großen Stille sich auszuweinen.

Noch eine andere Seele weinte an diesem Abend unter dem Druck einer wahren Bergeslast. Das war die von Käthchen Hebenstreit. Sie hatte das brüske Aufbrechen des Arztes wohl bemerkt und zu deuten vermocht. Wie ein Speer war ihr die Gewißheit ins Herz gedrungen, daß auch er dem Urteil des Haufens folge und sie für eine Verworfene halte. Was wollte, was konnte, was mußte sie tun, um den schwarzen Nebel zu zerstreuen, der sie wie ein Gespenst umwickelte und zum Popanz für Kinder machte? Jedes Auge, das sich auf sie richtete, suchte wie das Messer des Anatomen ihren Körper zu durchforschen. O, sie hatte sie satt, diese schadenfrohen Raubtierblicke. Ihre Seele, in einem rätselhaften Dunkel wandelnd, dürstete nach Finsternis. Sie floh in ihre Kammer. Dort warf sie sich nieder vor dem gekreuzigten Nazarener, und ihre Hände rangen hilfesuchend zu seinem Bilde empor. Was half's? Er regte sich nicht. Wehe der verfolgten Unschuld, wenn sie keinen anderen Verteidiger hat als ihn und ihr gutes Gewissen. Da hing er machtlos mit den festgenagelten Händen. Ja, wenn sie frei wären und die Geißel schwingen könnten wie dazumal im Tempel, dann würde wohl mancher verstummen, der jetzt so überlaut schrie. Aber so, – aber so! – Konnte er sich selber nicht helfen, wie will er anderen ein Retter sein?

Käthchen fiel zurück in ihrer Not und wandte die Blicke dem Boden zu. Sei du wenigstens barmherzig, Mutter Erde, und nimm dein Kind in deinen Schoß auf. Gebiete dem Herzen, daß es eine Minute stille stehe, und in wenig Stunden ist dein Kind begraben, und all die Schmach, die es mit sich schleppt, lästert seinen Namen nicht weiter. Und doch, und doch! – In dem unglücklichen Weibe erwachte das Verlangen zu leben, ja zu kämpfen und zu triumphieren, wie der triumphierte, der über ihrem Haupte da oben am Kreuze hing. Sie hob das Auge und warf es in sein mildes Dulderantlitz. Und seltsam, von den sanften Lippen des Erlösers löste es sich los und klang heilend in ihr Ohr: Harre aus, meine Tochter! Noch ist meine Stunde nicht gekommen. Wenn sie aber da ist, dann will ich dich strahlend machen wie die Morgenröte, und schöner noch sollst du sein als die Braut im Hohen Lied.


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