Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Vierzehntes Kapitel

Spinnen, die im Scheunengebälk ihre Fäden gespannt hatten und auf Mückenschwärme warteten, erlebten eine arge Enttäuschung. Rechen, Hacken und andere Dinge, an denen sich das Fangnetz bequem verankern ließ, wurden herabgerissen und damit war dem Gliederfüßler der Lohn so vieler fleißiger Arbeit vernichtet. Auch mit dem Winterschlaf der Sense war's vorbei. Sie ward von ihrer einsamen Höhe herabgenommen und mußte sich den Hammer gefallen lassen, der sie scharf machte zu ihrem schweren Beruf, viel blühendes Leben in den Staub zu legen. Im Laden des Krämers waren Wetzsteine ein viel begehrter Artikel, und wer ein tüchtiger Mäher war, konnte in seiner Hütte den Besuch des protzigsten Bauern erwarten. Ehe noch das Lied der Nachtigall verklungen war, hörte ein aufmerksames Ohr aus dem Morgennebel heraus das Rauschen der Sense. Der Landmann lebte wieder ganz im Freien. Um sein Haus kümmerte er sich nur deshalb, weil es auch die Wohnung seines Viehes war. Monate alte Händel zwischen den Nachbarhöfen kamen zum Schweigen, und der zur Winterzeit so gesund erblühende Dorfklatsch starb lendenlahm und gebrechlich. Von den Menschen hinweg war das Interesse hinaus auf die Felder gewandert zu Bohnen und Erbsen.

Innocenz konnte deshalb unbelästigt seine Sachen packen und seine Abreise vorbereiten. Der Bauer denkt in gesunden Tagen eher an das Hereinbrechen eines Erdbebens, eines Waldbrandes oder eines Hagelschlages als an die entfernte Möglichkeit, daß er einen Doktor benötigen könne. Krankwerden erscheint ihm wie eine Lächerlichkeit, und sollte jemand einen Pferdehuf zwischen die Augen oder einen Rechenzinken ins Sitzfleisch bekommen, nun, dann war ja der Knochenfranzel noch zur Hand. Der junge Arzt konnte also gehen. Er war so überflüssig, wie die Fausthandschuhe im Sommer. Wer würde ihn vermissen, wer nach ihm fragen außer einer – außer einer, die sich ihr Glück nicht denken konnte ohne ihn?

Seit einer Woche schon war Innocenz allabendlich nach der Taubhausmühle gegangen, um Käthchen Sommertag zu finden, aber er traf sie nie allein. Immer saß Balduin Hebenstreit in der Stube und stierte in den »Lahrer Hinkenden« hinein, als ob er ein Lebkuchenhändler wäre, der das Datum aller Jahrmärkte im Königreich auswendig lernen muß. Wenn der Arzt eintrat, so riskierte er es, einen Augenblick den Kopf ohne Stütze zu lassen, die Mütze abzunehmen und neben sein Glas auf den Tisch zu legen. Das war aber auch alles, was an konventioneller Höflichkeit aus ihm herauszuholen war, und dies magere Hors d'œuvre pfefferte er dermaßen mit dem Paprika bissiger Blicke, daß es ungenießbar blieb. Innocenz beachtete ihn schließlich nicht mehr, obwohl er ihn lieber in dem Krater des Popokatepetl gewußt hätte als in der Nähe von Käthchen Sommertag. Wie die Mistel am Apfelbaum, so klebte er an der Taubhausmühle, und viel weiter, als der Schatten der Scheunen reichte, war er selbst an Jagdtagen nicht von den Gebäuden wegzukriegen.

Der Polizeidiener streckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Balduin, dir ist eine Magd vom Gebälk herunter in einen Stalleimer gefallen.«

»Warum nicht gar in eine Nadelbüchse?« antwortete er trocken und sah über den Rand des »Lahrer Hinkenden« hinweg nach der Küchentür, wo aller Wahrscheinlichkeit nach Käthchen Sommertag demnächst erscheinen mußte.

Ein andermal, als dem Herrn vom Holderhof gemeldet wurde, daß draußen sein Waldmann von einem Fleischerhund halb aufgefressen sei, brachte er es über sich, der Stube den Rücken zuzukehren und durchs Fenster auf die Straße zu pfeifen.

Da war denn keine Aussicht, daß Innocenz und Käthchen vor ihrem Auseinandergehen noch Gelegenheit finden würden, ein Wort unter vier Augen zu reden, wenn sich der Himmel nicht ins Mittel legte.

Und er tat es in scharmanter Form. Er nahm eine Tante Balduins zu sich und schickte einen seiner Engel in der Uniform eines Gerichtsdieners aus, um den Herrn Hebenstreit zur Testamentseröffnung zu bitten. Einer solchen Lockung war nicht zu widerstehen. Der Geladene ging mit erborgter Trauermiene in der Morgenfrühe zum einen Tor des Dorfes hinaus; Käthchen Sommertag mit pochendem Herzen und erwartungsvollem Bangen zum anderen.

Dieser Tag sollte ihr Geschick entscheiden. Ein Dompfaff sang in dem Holunderstrauch. Das nahm sie als ein gutes Zeichen. Und als ihr aus dem Walde eine Stimme zurief: »Guck, guck!« da dachte sie: ›Jetzt noch nicht, aber heute abend will ich es tun, denn kommen wird er ja. Pankraz hat ihm gewiß gesagt, zu welcher Stunde ich den Heimweg antreten muß.‹

Ja, es war ein langweiliger Tag, der Tag der Holz- und Grasversteigerung bei Onkel Gottfried auf dem Kreuzhof. Alle Landwirte auf zehn Meilen in der Runde waren an diesem Termin herbeigeeilt, obwohl es nichts zu hören gab als das Bieten der Steigerer, den Zuschlag des Auktionators und das Klopfen des Schlegels über dem Spunden des Bierfasses. Zu tun freilich gab es für das Personal beiderlei Geschlechtes in Keller und Küche mehr wie genug.

Käthchen war im Weinkeller beschäftigt, und wenn sie auch müde wurde von dem ewigen Auf und Ab und manchmal verschnaufend auf der Kellertreppe saß, so war sie doch von Herzen froh, daß man sie heute nicht an die Kasse genommen hatte. Allmächtiger Himmel, wie wäre es ihr möglich gewesen, ihre Gedanken soweit zu ordnen, daß sie hätte rechnen und die Bücher führen können? War es ihr doch, als ob alles, was sie umgab, Fässer, Häuser, Menschen und Tiere, in die Kleider des Innocenz Lorum gekrochen wäre, ihr mit seinen Armen winkte und sie mit der Glut seiner lieben Blicke wärmte, bis ihr ein verräterischer Purpur ins Gesicht schlug. Aus dem Dunkel des Gewölbes sah sie ihn auf sich zukommen, und wenn sie die Augen schloß, fühlte sie, wie seine Brust die weichen Kissen ihres Busens preßte und wie seine Lippen sich zwischen die ihren drängten, bis die Zähne leise aufeinander knirschten.

Zuweilen aber überkam sie eine wahnsinnige Angst. Sie erkannte, daß sie mit Gebilden ihrer überreizten Phantasie wie mit Wirklichkeiten spielte, und daß die Wirklichkeit vielleicht mit ihr spielen würde, bis ihr das Herz brach. Wenn Innocenz sie wirklich liebte, warum wollte er sie verlassen und in die Welt hineingehen? Ach, wer ihr doch diese Frage beantworten könnte!

Unter Hoffen und Verzweifeln war der Abend gekommen. Mancher von den Heusteigerern nahm einen gehörigen Ballen mit nach Hause und ging schwankenden Schrittes über die Straße. Die Mägde am Brunnen ließen ihre Kübel überlaufen, guckten den Taumelnden nach und wollten sich schier totlachen, wenn die Füße eines solchen Trunkenboldes mit einem Pflasterstein Billard spielten. Bernerwägelchen fuhren vor, füllten sich rasch mit Menschen und rasselten ins Land hinaus. Der Oberförster erschien auf der Treppe mit seinen Hunden und zündete seine große Holzpfeife an zum Zeichen, daß die Federfuchserei mit dem Tabellenführen ein Ende habe. Auch Käthchen war froh, daß ihr Dienst am rinnenden Kranen vorüber war, aber zu einer vollen Glückseligkeit wollte ihr Herz nicht kommen. Ihr war's, als ob das, was sie vom Schicksal heischte, zu viel des Glückes sei für ein armes Menschenkind, als ob ihr jemand den Becher der Liebe aus der Hand schlagen könne, bevor sie noch daran genippt hatte.

Der Abend mahnte zur Heimkehr. Käthchen hing ihren Korb an den runden Arm, sagte Onkel und Tante Lebewohl, empfing deren Dank für die Aushilfe und schritt zum Dorfe hinaus.

Schon lag der Saum des Waldes vor ihren Blicken, und das Mädchen fing an zu rechnen: ›Wenn er dich lieb hat, dann wird er dir möglichst weit entgegenkommen,‹ und ihr verlangendes Auge suchte eifrig im dunklen Laubwerk des ersten Busches.

In der Tat, die Zweige bewegten sich, es gab ein geheimnisvolles Rascheln, aber was hervorkam, war nicht der Geliebte, sondern zwei glatthaarige Dackelleiber auf acht wackligen Hundebeinen. Käthchen war zum Tode erschrocken. Das waren Balduins Hunde, und hinter den wackeren trat ihr Herr aus der Nacht des Forstes. –

»Ein Sack voll Geld ist auf der Landstraße sicherer als ein schönes Mädchen,« sagte er, »und wer ein fein's Liebchen hat, der hat auch die Pflicht, es zu hüten. Dir zuliebe, Käthchen, habe ich den trockenen Notar und seinen Erbverteilungsplunder im Stiche gelassen, habe die Flinte über die Schulter geworfen und würde mich nun freuen, wenn ein Dutzend Strolche käme, damit du sehen lerntest, was Balduin für dich zu leisten vermag.«

»Ich bin dir gewiß dankbar für deinen guten Willen,« sagte das Mädchen, »aber Käthchen Sommertag hat auch zwei Fäuste, um Leute abzuschütteln, die ihr unbequem werden. Gib mir die Straße frei und überlasse mich meinen Gedanken! Schon sehe ich das lichte Abendrot am Ende des Waldes.«

Balduin war betreten, aber nicht geschlagen. »Die Straße ist nicht mein, nicht dein, sondern einem jeden,« entgegnete er gereizt, »und wenn ich schon weiß, daß du da, wo ich schreite, lieber einen anderen sehen würdest, so bleibe ich doch, und ich möchte es keinem raten, mir meinen Teil an dem Wege streitig zu machen.« Und er nahm die Flinte von der Schulter.

In diesem Augenblick wurden die Hunde stutzig, blieben stehen und äugten mit verlegenem Knurren ins Dickicht jenseits des Straßengrabens. Der Jäger wurde aufmerksam und fuhr mit dem Kolben nach der Backe.

Ein jäher Schrecken zuckte dem Mädchen durch alle Glieder, aber kurz entschlossen warf es sich an die Brust des jungen Mannes und stöhnte flehend: »Balduin, schieß nicht. Tu es meinen Ohren zulieb. Der Knall einer Büchse kann mich schier verrückt machen. Lieber Balduin, schieß nicht!«

»Lieber Balduin!« wiederholte der junge Mann. Käthchen, wenn es auch nur die Angst ist, die dich lehrt, zärtlich zu sein, so will ich mir doch auch den kürzesten Augenblick deiner Gunst nicht rauben lassen!« Und er legte verwegen seinen Arm um die Taille des Mädchens und zog sie mit starkem Griff an sich heran.

Käthchen fühlte, daß sie jetzt mit Klugheit weiter käme, als mit trotzigem Widerstand. Sie mußte die Bestie mit Liebkosen unschädlich machen, denn ein einziger Schuß ins Dickicht konnte all ihr Glück vernichten – und sie wehrte sich nur lässig gegen Balduins Zudringlichkeit.

Plötzlich aber tat sie sehr erschrocken und zog den jungen Mann zurück in der Richtung nach dem Kreuzhof.

»Was fällt dir bei?« sagte Balduin verwundert.

»Ach, ein kleines Versehen wird nun meinen Beinen viel Arbeit kosten!« lachte das Mädchen, »'s ist unglaublich! Wie konnte ich nur den Schlüssel zu meiner Kammer auf dem Kreuzhof lassen? Wo soll ich armer Wurm über Nacht mein Haupt hinlegen?«

Der Verliebte fühlte, daß ihm hier Gelegenheit geboten sei, ein warmes Eisen zu schmieden, und er war so ritterlich, daß er sich erbot, dem müden Kinde den weiten Weg zu sparen.

So ging Balduin, und Käthchen floh. Sie floh, als ob ein Rudel Wölfe auf ihrer Fährte wäre.

Bald wurde es heller um sie, und der Wald lag hinter ihr. Drunten sah man den Rauch der Abendfeuer um die Dorfschornsteine tanzen. Nur noch ein Hohlweg, an dessen Hängen der Weißdorn blühte, war zu durchschreiten, und Käthchen Sommertag war im Schutze der Gasse.

Jetzt mäßigte sie ihre Schritte, schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. In welchen Konflikt der Pflichten war sie gekommen? Und wenn Innocenz gesehen hatte, was geschehen war, mit welchen Worten sollte sie sich verteidigen? Und doch, ihre Tränen sollten für sie reden. Noch konnte der Geliebte schwerlich voraus sein. Sie wollte ihn erwarten.

Sie setzte sich in die Weißdornhecken, stützte die Ellenbogen auf die runden Kniee und preßte ihren Kopf zwischen die Hände, als ob sie ihn hätte zerdrücken wollen. Der Doppelsinn des Lebens war's, der sie verklagte. Was tun, wenn all ihr Weinen keinen Glauben weckte? Ach, wenn er doch kommen wollte und ihren Jammer sehen! Käthchen Sommertag erhob den Kopf über den Blütenschnee des Weißdornes und blickte nach dem Eingang des Hohlweges, den eine sonnendurchglühte Abendwolke mit einem Purpurvorhang abschloß. So schön das war, es war doch nicht das, was das Mädchen sehen wollte. Wie sie sich nach ihm sehnte und vor ihm fürchtete!

Aber er kam nicht. Die Feuerglut der Wolke erlosch, ein sanftes Rosa löste sie auf. Diesem folgte ein stockiges Grauweiß, wie Schafwolle hingezottelt, dann ein bleiernes Schwarz. Die Nacht war da, und dunkel war es auch in Käthchens Seele. Sie sah den Weg nicht mehr, der durch den Einschnitt lief, aber sie sah so grauenvoll feurige Ringe wie glühende Linsen vor der Hornhaut ihres Auges tanzen, und sie fühlte warme Perlen, die ihr über die Wangen rollten. Ihr Gang war unsicher, fast taumelnd.

So sah sie bekümmert der Pankraz Überdies, der hinter einem halbgeöffneten Scheuertürchen stand und an einem Pferdegeschirr putzte.

Innocenz Lorum war in der Tat im Walde auf der Lauer gelegen. Seine Füße standen in blühenden Heidelbeersträuchern, während seine Hände eine himmelschreiende, ungeheure Dummheit machten. Sie schnitten nämlich einen Namen in die glatte, weiße Rinde einer Birke ein. Darüber weinte die Birke. Innocenz küßte die Tränen auf und fand sie süß und dachte sich: ›Es müßten alle Tränen süß sein.‹ Dann drückte er sich, als er von weitem ein Paar kommen sah, hinter die breiten Stämme und lugte nur so viel heraus, daß er sehen konnte, was auf dem Waldweg vor sich ging. Als er da bemerkte, daß Käthchen Sommertag sich an die Brust des Balduin warf, und daß dieser Gimpel seine Wange zu der ihrigen niedersenkte, da weinte er, und als ihm ein feuchter Tropfen in den Mund lief, da fand er, daß die hausgemachten Tränen bitter sind. Nun bedauerte er die Birke, und er schmierte ihre Wunde mit Lehm zu, während er die seinige durch grimmige Menschenverachtung zu heilen suchte.

Den Rückweg nach dem Dorfe nahm er auf demselben Diebespfädchen, auf dem er einst seinen lendenlahmen Gaul geführt hatte, und da wurde es ihm mit einem Male so wohl bei dem Gedanken, daß er nun in die Welt ziehe, wie den Jünglingen des Propheten Daniel im Feuerofen. Er war nicht allzusehr angebrannt und hatte die Gewißheit, daß er aus dem Birkenrieder Bratofen herauskam. Sein Gang wurde leicht, fast hüpfend wie jener der Butterweiber, die mit leerem Korbe vom Markte kommen. Häuser und Felder hatte er nicht zu veräußern, und für das Pferd hatte sich ein Milchhändler als Käufer gemeldet, der etwas mehr bot, als die vier Eisen wert waren, womit das kostbare Schlachtroß beschlagen war.

Der neue Pferdebesitzer hatte nichts dagegen, daß der Gaul seinem seitherigen Herrn noch einen Dienst leiste; und so kam Innocenz sicher, wenn auch langsam, zur nächsten Bahnstation.

Die Leute, die mit dem Arzt ins Kupee stiegen, hatten beinah alle die nächste Kreisstadt als Reiseziel. Wer eines Prozesses wegen unterwegs war, schimpfte über die Halsabschneider von Advokaten, ein anderer ließ an der Forstverwaltung kein gutes Haar, und ein dritter wußte zu berichten, daß der Gipfel aller Beutelschneiderei auf dem Zollamt zu suchen sei.

Hatte Innocenz gehofft, mit seinem Weggang von Birkenried alle Krähwinkelei los geworden zu sein, so erfuhr er jetzt, daß diese mit ihm ins Kupee gestiegen sei und ihn voraussichtlich um die halbe Erde begleiten werde. Er setzte sich verdrießlich in eine Ecke und betrachtete mit Wohlgefallen den einzigen Reisenden, der bis jetzt den Mund noch nicht aufgetan hatte. ›Ein angenehmer Herr,‹ dachte er, ›man könnte ihn für einen Philosophen nehmen, wenn nicht die Spitzhacke über seinem Schädel im Netz hinge.‹

Der Zug hielt und schüttete die Fracht der eingeborenen Bevölkerung auf den Perron der Kreisstadt. Niemand blieb zurück als Innocenz und der Philosoph. ›Nun dürfte er reden,‹ dachte ersterer. Doch der Mann schwieg beharrlich, auch dann, als der Arzt ein Fenster öffnete und ihn einer starken Zugluft preisgab.

Die Gegend, die draußen vorbeiflog, wurde immer reizloser. Sand, Erikarasen und wieder Sand. Hier und da ein Bauernhaus, dessen Mauern unter einem gewaltigen Strohdach zu ersticken schienen. Man war auf der Lüneburger Heide, und es wurde Abend. Schon blinzelten an den Bahnhöfen die Signallaternen der sterbenden Sonne ins verblassende Angesicht.

›Hätte er am Tage angenehmer sein können, so will ich mir für die Nacht keinen besseren Reisegenossen wünschen,‹ räsonierte Innocenz, warf seine Reisedecke über die Bank, sich selber darauf und schlief ein.

Nicht lange und er wurde geweckt. Der Zug hielt. Der stumme Gast stand, den Rucksack auf dem Rücken, die Spitzhacke über der Schulter, vor dem Schläfer und fragte mit allen Zeichen der Erregung in gebrochenem Deutsch: »Amburg?«

›Ah so, kein Philosoph, sondern ein Ausländer,‹ dachte Innocenz, schüttelte den Kopf, drückte den Mann auf seinen Sitz nieder und sagte: »Nix Amburg!«

Bald waren Rucksack und Spitzhacke an ihrer alten Stelle, die Räder surrten und der Arzt schlief. Er schlief und träumte von maurischen Bienenwabengewölben, in deren kühlem Schatten Odalisken wandelten mit verschleiertem Antlitz, als er sich rauh an der Schulter geschüttelt fühlte.

»Was gibt's zum Teufel?« fuhr er heraus.

»Amburg?« tönte ihm eine verschüchterte Frage entgegen, und wieder sah er seinen Reisegenossen zum Aussteigen bereit fix und fertig vor sich stehen.

›In der Weise komme ich um meine Nachtruhe,‹ überlegte Innocenz und sann auf ein Verständigungsmittel. Er glaubte auf einen guten Ausweg gekommen zu sein, zog seine Uhr aus der Tasche und deutete auf die sechste Stunde. Das war seiner Schätzung nach die Zeit, in der sie in der Elbestadt ankommen mußten.

»Grazie, Signore!« und »Capisco!« sagte der Ausländer unter vielen Bücklingen und hängte sein Reisegepäck wieder an den Nagel.

Der Arzt freute sich seines Einfalles und traf aufs neue alle Anstalten, den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. In der Tat, es stellte sich ein leichter Dämmerzustand ein, in dem der Geist eben auf Rosenflügeln in Palmenhaine entfliehen wollte, als die Frage: »Amburg?« den Ausreißer wieder in die Folterkammer eines Eisenbahnkupees dritter Klasse zurückrief.

Innocenz wußte, daß ihm jetzt hier wie überhaupt im Leben eine Dosis Grobheit nützlich werden könne. Allein über diese Panacee verfügte er nicht. So verzichtete er in Gottes Namen auf seinen Schlaf, setzte sich auf und hielt, so oft der Zug stille stand, sein Gegenüber mit Streicheln auf seinem Sitze.

So kam allmählich der Morgen. Zwei Frauen waren zugestiegen, hatten Körbe mitgebracht und einen Duft nach nassen Kleidern.

»Es wird doch nicht regnen?« bemerkte der Arzt und versuchte mit dem Vorhang die triefende Scheibe zu trocknen.

»Ja, was soll es denn in Hamburg anderes tun!« war die verdrossene Antwort einer der beiden. »Es ist ein Jammer, in dieser Gegend zu wohnen, zumal für eine, die einen Maurer zum Mann hat. Bei Frost und Regen – und wann gab es eins von beiden in Hamburg einmal nicht? – sitzt er zu Hause und muß Tabak kauen, wofür er nicht bezahlt wird. Ja, wenn alles gesammelt würde, was diese Maurer an Tabaksbrühe schon produziert haben, man könnte ein Dampfboot drauf verkehren lassen, wie auf dem Alsterbassin.«

Innocenz schwieg nachdenklich. Er hatte den kleinen Schikanen des Lebens entfliehen wollen. Nun waren sie mit ihm eingestiegen und fuhren mit ihm seit fünfzehn Stunden in der Eisenbahn. Würde eine noch größere Entfernung von Birkenried hierin Wandel schaffen?

»Hamburg!« rief es diesmal mit einem stark gehauchten »H« vorndran. Innocenz brauchte seinen Schützling nicht länger zu streicheln. Er konnte ihn aussteigen lassen. Dieser tat's und war bald im Menschengewühl verschwunden wie ein Kieselstein, den man in den Fluß wirft.

Es war ein kalter Sprühregen, in dem der zukünftige Schiffsarzt über ein klebriges Pflaster zwischen verrußten Häusergiebeln hinirrte. Es mußte das Direktionsgebäude der Schiffahrtsgesellschaft aufgesucht werden, ein Uniformhändler, ein Mützenmacher und vieles andere. Hier ein mageres Frühstück, dort eine Tasse schlechten Kaffee und so zwischendurch eine Komödie der Irrungen. Doch als der Abend kam, war das Notwendigste beschafft und in einem Hotel vierter Güte am Hafen zusammengetragen. Innocenz konnte ein wenig durch die erleuchteten Straßen schleichen und zusehen, ob er ein Momentbild vom Leben der Großstadt erhaschen könne.

Er kam nach dem Jungfernstieg und sah die glänzenden Spiegelscheiben eines eleganten Restaurants im Glanze der elektrischen Flammen schimmern. Neugierig blieb er stehen und suchte diese für ihn neue Welt durch einen Vorhangspalt zu genießen, wie er einst auf billige Weise durch Bretterritzen den Inhalt der Jahrmarktsbuden zu ergründen versucht hatte. Das Glück war ihm günstig. Er sah feine Saffianschuhe, die in die Ringe des Zigarettenrauches hineinstachen, zarte Hände, die auf spitzenüberkleideten Schenkeln mit Nelken spielten, Engelsköpfe, die aus einem Gewölk von Seidengaze herniedernickten. Und all der Himmelsglanz so greifbar, so erreichbar für einen, der Geld hat. Ja, das war das Eden, von dem Frau Immergrün schwärmte. Aber – aber – aber – Innocenz war schlecht bei Kasse und hatte auch keinen Kahlkopf, wie er da drinnen für die Herren der Schöpfung nach kanonischen Satzungen vorgeschrieben zu sein schien. Er drückte sich schweigend von seinem Luginsleben und ging. Im Hotel angekommen, freute er sich des doppelten Mangels und betrachtete mit Wohlgefallen seine Uniform. Sie bürgte dafür, daß die Stickluft sündiger Gassen und schmutziger Winkel hinter ihm bliebe. Auf Möwenschwingen über dem Gebreite schwebend, wollte er seinem grenzenlosen Ringen entfliehen und all seinem Leid.


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