Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Fünftes Kapitel

Die Zeit des Examens war da. Innocenz Lorum, neben dem in seinen Burschentagen auf dem Bürgersteig kein anderer Mensch Platz hatte, schlich im schwarzen Anzug und Zylinderhut demütig wie ein Pfarramtskandidat durch die Straßen, grüßte die Oberwärterin in der Entbindungsanstalt, als ob sie der Sprößling eines erlauchten Hauses wäre, streichelte den Hund des Anatomiedieners und stand stramm vor dem Famulus der inneren Klinik. Wenn er gar den Überzieher eines der Herren Examinatoren hängen sah, suchte er, ob er nicht eine Stelle fände, an der sich irgend etwas abputzen ließe; denn ihm war's, als ob alles aus dem Wege geräumt werden müsse, was den Geist verdrießen könne, der in dieser Hülle zu herrschen pflegte. War irgendeine Station der langen Fahrt glücklich überwunden, so änderte sich das Verhältnis. Menschen, Säle, Wissenschaft, alles wurde für den Zurückschauenden kleiner und wenig beachtenswert. Der Anatomiediener, der während des Examens an der Türe zu lauern pflegte, um nicht versehentlich da zu gratulieren, wo er hätte kondolieren sollen, bekam den üblichen Obolus eines Talers, aber er hatte nichts Überirdisches mehr an sich. Die Welt lief jetzt, auch wenn er nicht die Vorsehung spielte. Ja man war kühn genug zu denken, sie wäre auch vordem ohne ihn gelaufen.

So waren, während die Quecksilbersäule des Seelenbarometers zwischen »himmelhoch jauchzend« und »zum Tode betrübt« unruhige Sprünge machte, drei Stationen überwunden und Innocenz stand vor Beginn der vierten fröstelnd auf den Sandsteinplatten des Spitalganges und horchte auf jedes Geräusch, das aus dem Privatzimmer des inneren Klinikers kam. Rannte zufällig in weißer Schürze und hochgerafften Hemdärmeln ein Famulus vorüber, so brachte er ihn, indem er seinen Arm wie einen Schlagbaum von sich streckte, zum Stehen und fragte, die Worte wie aus einem Spundloch blasig hervorsprudelnd, was man an interessanten Fällen zur Stunde in den Krankensälen habe und für welche sich »der Alte« am meisten interessiere.

Es war von keiner guten Vorbedeutung, daß gerade im Moment eines solch intimen Gedankenaustausches sich die Tür öffnete und der gefürchtete Examinator auf den Gang trat.

»Kandidat Innocenz Lorum,« sagte er, während seine zornigen Blicke den Famulus auf eine Schaufel luden und den Gang entlang warfen, »folgen Sie mir.«

Innocenz redete keinen Ton, sondern lief wie der Schatten des Gefürchteten den kühlen Gang hinunter, bis sich eine Tür auftat, in der beide verschwanden. Vier kahle Wände, ein Bett, ein Nachttisch und vor diesem in verwaschenem Spitaldrillich ein Schuhmacher, der mit heiserer Stimme die beiden grüßte und sich erhob. »Dieses Ihr Fall,« sagte der Professor, »in einer Stunde werde ich Sie abholen,« und er nickte mit dem Kopf, ging und schloß von außen die Tür.

Innocenz musterte den Schuhmacher zunächst von außen, lockte durch allerlei Fragen einen ganzen Steckbrief aus ihm heraus, beklopfte ihn, horchte an ihm herum, als ob er jeden Gedanken seiner Hirnwindungen herauslesen wolle, sah ihm in den Mund, in die Ohren, in die Nasenlöcher, und fing die ganze Prozedur, eine Sisyphusarbeit, wieder von neuem an. Bald zog er ein Thermometer aus der Tasche, bald ein Hörrohr, dann seine Uhr, dann sein Taschentuch, denn ein kalter Schweiß lief ihm über die Stirne, als der Chronometer ihm kühl und bestimmt mitteilte, daß bereits eine halbe Stunde verstrichen sei. ›Eine halbe Stunde und kein anderes Resultat, als das bißchen Heiserkeit, womit ich nichts anzufangen weiß,‹ so dachte Innocenz und klopfte nun mit gesteigerter Kraft an dem Objekt seiner Beobachtung herum, bis der Schuster wild wurde und sich mit Energie dem widersetzte, daß der gelehrte Herr die Ohren an seinem Buckel wärme.

»Ihr quält mich, weil Ihr nicht wißt, was mir fehlt. Warum rückt Ihr nicht mit der Sprache heraus. Ich bin keiner von denen, die einen Menschen in der Tinte sehen können, ohne ihm herauszuhelfen. Ich helfe, wenn ich kann, und Euch kann ich helfen, junger Mann!« sprach triumphierend der Zunftgenosse des Hans Sachs. »Hier lag,« fuhr er fort, »seit Tagen ein beschriebener Bogen herum, dessen Sinn ich nicht verstand. ›Wer weiß, wozu es gut ist,‹ dachte ich mir, ›hilft's dir nicht, dann vielleicht einem anderen,‹ und ich habe mir die Sache abgeschrieben.« Mit diesen Worten zog der Schuster die Schublade seines Nachttisches heraus und überreichte dem Kandidaten Lorum eine leidlich leserliche Abschrift seiner Krankengeschichte. Als Innocenz das unsaubere Skriptum aus dem Nachttisch auf sich zukommen sah, war ihm gleich behaglich zumute wie dem Erzvater Jakob, als die Engel an einer Strickleiter zu ihm niederstiegen. Wenige Sätze und ein Blick auf eine kleine Zeichnung am Rande des Papiers genügten, um ihn zu orientieren. Was der Zufall ihm hier an Erkenntnis zugeschoben hatte, war nicht sein geistiges Eigentum, gestand er sich beschämt, doch was verschlug's, ›selbst Ehrlich stahl einmal ein Ferkelschwein‹, lautet ein Sprichwort seiner Heimat. Hätte er vorher gerne die Minuten wie ein Fernrohr auseinandergezogen, daß sie zu Stunden wurden, so hätte er sie jetzt gerne zusammengeschoben, daß sie zu Sekunden einschrumpfen möchten. Mit Ungeduld erwartete er die Rückkehr des Examinators. Endlich öffnete sich die Tür. Der Professor behielt die Klinke in der Hand und rief von der Schwelle ins Zimmer: »Sind Sie fertig?«

»Nein,« sagte Innocenz, »mir fehlt ein Kehlkopfspiegel.«

»Den sollen Sie haben.«

Der Hofrat verschwand und erschien mit dem Instrumente wieder. Da Innocenz die Technik beherrschte und die Kehlkopfzeichnung gesehen hatte, so genügten einige Augenblicke, um ihm ein Bild von dem Innenverputz des kranken Schusters zu geben. Und er erhob sich mit professoraler Großartigkeit, die er seinen Lehrern abgeguckt hatte.

»So rasch fertig, und was haben Sie gefunden?« fragte überrascht der Examinator.

»Eine Neubildung auf dem rechten Stimmband!« war die bestimmte Antwort. Der Hofrat riß hinter seinen Brillengläsern die Augen auf, als ob er dem Flugversuch eines Luftschiffers folge und sah bewundernd an dem langen Innocenz empor.

»Sie verdienten, ans Krankenlager der Majestät gerufen zu werden. Was dort an Riesenautoritäten herumwimmelt,« sagte er verächtlich lächelnd, »reicht Ihnen nicht bis zum Nabel.« Dabei streckte er sich nun selber nach Möglichkeit und hatte offenbar das Bestreben, neben seinem genialen Schüler eine gute Figur zu machen. So kamen sie mit hallenden Schritten wie eine militärische Ablösung vor die Türe der Klausur, wo der Lehrer eine tiefe Verbeugung machte und seinen gelehrten Schüler über die Schwelle treten ließ.

»Ihr Examen ist bestanden,« sagte er, »halten Sie sich beim Abfassen der Krankengeschichte nicht zu lange auf, verweilen Sie lieber etwas gründlicher bei einer guten Flasche, die, wie Sie wohl wissen werden, unser Spitalkeller der Munifizenz des Julius Echter von Mespelbrunn gesegneten Angedenkens verdankt.« Innocenz lächelte geschmeichelt, der Professor wohlwollend, und beide trennten sich.

Nichts regte sich im Zimmer, als des Studenten pochendes Herz und ein heimlicher Durst hinter seiner Halsbinde. Dann aber schrillte eine Klingel in den hochgewölbten Gang hinaus und Sprungschritte klapperten die Sandsteinplatten herunter.

»Der Herr Doktor befehlen?« fragte ein Bedientenkopf mit glatten Backen, der in den Türspalt geklemmt war.

»Dem Schuster auf Nummer Fünf eine Flasche Randesackerer Traminer und mir die doppelte Dosis!« kommandierte Innocenz, im Jargon seines Handwerks bleibend.

Von jetzt ab kam der Spitaldiener wie des alten Hamlets Geist des öfteren, um nachzusehen, wie es um Dänemark stehe, ob die Tinte ausreiche, ob Streusand vorhanden, die Lampe geputzt wäre, und nahm jedesmal ein Teil von dem mit, was des hochfrommen Bischofs Güte den kranken Spitalgästen in Gnaden vermacht hatte, bis er mit der Zunge paradierte und mit den Füßen stotterte. Auch Innocenz nahm an seinen Rockärmeln etwas von der Kalkfarbe des Hausganges mit ins Freie, obwohl er sich Mühe gab, schnurgerade auf der mittleren Plattenfuge zu laufen, und sein Zylinder war ihm verwegen auf das rechte Ohr gekrochen, als es ihm unten gelungen war, das Tor zu forcieren.

Noch stand die Sonne hoch, und der Umstand, daß von den Vorübergehenden hier und da einer schadenfroh lächelte, veranlaßte unsern Helden, dem Drängen der Straße den Rücken zu kehren und die Einsamkeit aufzusuchen. Bald war er auf verlassenem Pfade mitten in den Feldern und verpuffte seinen inneren Tatendrang in der Art, daß er Disteln die Köpfe abschlug und zuweilen irgend etwas Unsinniges laut vor sich hinsang. Mit der Zeit wurde er ruhiger und konnte für den Beschauer schon beinah für genesen gelten, als der Klang der Abendglocke ihn vollends aus den leichten Geistesnebeln riß, die wie Marienfäden um seinen Kopf hingen. ›Wo Teufel bin ich denn,‹ so dachte er, ›mir kommt die Glocke so bekannt vor? Und das Nest da unten im Tale, ist das nicht Birkenried? Welcher Geist der Schalkheit hat mich diese Straße geführt, um hier mit meinem Affen eine Galavorstellung zu geben,‹ und er machte eine so exakte Drehung um seine Längsachse, daß man meinen konnte, er sei von seinem Vater auf einer Töpferscheibe gedrechselt worden.

Jetzt aber, als das Gesicht der Stadt wieder zugekehrt war, kamen für ihn andere Erwägungen. ›Wäre es nicht entzückend schön, auf ein Stündchen vor Käthchen Sommertag zu sitzen, ihr vom heutigen Tage zu erzählen und zu sehen, wie die Freude warm aus ihrem Antlitz schlägt;‹ und es drehte die Töpferscheibe unsern Jüngling wieder gegen Birkenried. ›Nein, lieber nicht,‹ sagte eine andere Stimme, ›wer weiß, wie das alles heute herauskommt? Wirst du nicht zu viel sagen, wo noch der Wein deine Zunge steuert?‹ Jetzt wurde Innocenz Lorum ärgerlich, trat mit resolutem Schritt von der Töpferscheibe herunter und schritt wie aus einer Pistole geschossen, bolzenstracks dem Dorfe zu.

Schon dämmerte es ein wenig in den Gassen, und Gans und Ente, die den Höfen zuwatschelten, waren schon zum Verwechseln ähnlich, als ein Mann mit einer Flinte an dem späten Wanderer vorüberging. ›Er wird auf Zugschnepfen lauern wollen,‹ dachte der Student und ging weiter. Der hinter ihm blieb stehen. Innocenz sah dies nicht, er schloß es aus dem Umstand, daß er keine Tritte hörte. ›Solltest du die Aufmerksamkeit der Passanten noch aus dem gleichen Grunde auf dich lenken, wie vor zwei Stunden?‹ dachte er beschämt und prüfte sich selber, indem er versuchte, in der Haltung eines Seiltänzers über die Randsteine zu laufen. Es gelang, und zuversichtlich und erwartungsvoll trat der Student in die dämmerige Wirtsstube, in der Käthchen Sommertag herrschte. Die Diele zitterte taktfest mit dem Gang der Mühle, und der ›Lahrer hinkende Bote‹, der am Schlüssel des Uhrkastens hing, tänzelte vergnügt trotz seines Stelzfußes zum Geklapper des Mahlganges. Innocenz setzte sich an einen der Tische, ohne durch irgendein Geräusch auf seine Person und deren Bedürfnisse aufmerksam gemacht zu haben. So heimste er zum Lohn für seine Geduld den Inhalt eines Gesprächs ein, das in der Küche nebenan geführt wurde.

»Ist er endlich fort, der Überlast vom Holderhof? Da sitzt er, als ob er eine Hypothek auf mein Herz hätte und berechtigt wäre, die Zinsen quartalsweise einzutreiben. Wenn er erst einmal an meinem Staubtuch hinge, ich wollte ihn wohl zum Fenster hinausschnicken, daß ihm das Wiederkommen verginge. Zu schade, daß sie ihn nicht im Militärgefängnis behalten haben, bis die Dreiläufer-Hasen, die Feldhühner und ich um seine Begnadigung petitioniert hätten.«

Der Mund, der so redete, gehörte ins Gesicht von Käthchen Sommertag, und wenn Innocenz Lorum auch viel darum gegeben hätte, die Nase, die Augen und was sonst um den redseligen Gesellen herumlag, zu sehen, so war er doch schlau genug, zu schweigen, bis er mehr noch gehört hätte.

»Du warst vordem weniger hart in deinem Urteil gegen Balduin,« sagte eine andere Stimme, »und ich könnte dir den Zeitpunkt nennen, an dem deine Gesinnung sich geändert hat. Laß nicht den Sperling in deiner Hand fliegen für die Taube auf dem Dach. Nimm dich in acht, nimm dich in acht. Studentenbraut wird selten getraut!«

»Ihr redet, Mutter, wie ein Makler, der kein Risiko bei dem Handel hat, lobt, was Ihr mir aufhängen möchtet, tadelt, was mir gefällt, und sagt mir nichts, was ich nicht schon weiß, nämlich: daß ich den Studenten will. Wenn Ihr einmal wißt, Mutter, ob er mich will, dann kommt mit Euerer Weisheit, und Ihr sollt für die gute Botschaft alle Küsse haben, die er mir nicht geraubt hat. Gute Mutter,« sprach die Stimme nach einer Pause weich und zärtlich, »wenn auch unsere Äcker aneinandergrenzen, mein und Balduins Herz liegen weit auseinander.«

Käthchen Sommertag hatte damit die Unterhaltung beendet und kam eiligen Schrittes aus der Küche in die Wirtsstube herein. Starr stand sie da, als sie sah, wer da am Tische saß, und die runde Glasscheibe hinter ihr in der Küchentür wob um ihr erstauntes Gesicht einen allerliebsten Heiligenschein. Dann mit einem Male löste sich der Bann, der sie festhielt, und es sah aus, als ob Käthchen Sommertag entfliehen wolle. Jetzt war es Zeit für Innocenz Lorum, vorzustürmen und festzuhalten, was nach ihm begehrte. Vermutlich wäre eine Hand hinreichend gewesen, diesen Zweck zu erfüllen, aber Innocenz brauchte beide, und das Mädchen hatte nichts dagegen. Sie schrie nicht auf, als ihre Finger knackten in der Faust des starken Mannes, und als er ihr gar ein wenig auf den kleinen Fuß trat, tat sie nicht empfindlich. Wer weiß, ob nicht noch mehr geschehen wäre, wenn nicht die Scheibe in der Küchentür so warnend ihr großes Auge aufgerissen hätte, denn schon senkte Innocenz verlangend den Kopf.

»Nicht doch,« flüsterte das Mädchen ängstlich, »liefern wir dem Pfarrer keinen Stoff zu seiner Sonntagspredigt. Sie glauben nicht, wieviel scheele Blicke in einem Dorf auf ein Mädchen gerichtet sind,« und sie schob den Jüngling mit leisem Druck der Hände sanft vor sich her und auf seinen Platz. Da saß er nun und ließ die hungrigen Augen im Antlitz des Mädchens grasen wie Lämmer auf der Weide. Unerschöpflich war die Nahrung, unstillbar der Hunger. Zum ersten Male saß Innocenz an dem reichen Tische der Liebe, fast betäubt von der Überfülle des Gebotenen, als die Tür sich öffnete und ein Schnurrer hereintrat, nach dem man gerade in diesem Augenblicke schwerlich geschickt hätte, wenn er nicht von selber gekommen wäre.

's war Pankraz Überdies, der auf seiner abendlichen Wirtshauspromenade bis zur Taubhausmühle gekommen war. Er setzte sich neben der Tür an den Kopf einer langen Tafel, bestellte ein Glas Wein, stierte eine Zeitlang hinein, ohne zu trinken, und schlief ein. Nicht lange und er gab Töne von sich wie ein tibetanischer Grunzochse, fiel mit dem Kopf auf seine Arme und warf sein Glas um. Das Naß lief ihm über die Kniee und in die Stiefel hinein, er regte sich nicht.

»Gott sei Dank!« sagte Innocenz und griff nach Käthchens weicher Hand, die, von der Lampe rosig beleuchtet, auf dem Tische lag.

»Nein, um des Himmels willen!« wehrte diese leise und zuckte mit der Schulter nach dem Schlafenden hinüber, »er sieht durch Riegelwände, und es ist gewiß kein Zufall, daß er heute da sitzt, wo er gerade sitzt. Paßt auf, ob ich recht habe!« und sie erhob sich und ging nach der Tür. Im Vorübergehen legte sie einen Groschen auf den Tisch vor den Schlafenden.

Nicht lange, so erschien unter dem schmutzigen Rockärmel ein Finger und schob sich langsam vor. Ihm folgte ein zweiter und im Nu war der Groschen verschwunden. Den Studenten belustigte dieser Vorgang, und er opferte einen zweiten Groschen, der unter den Schnarchakkorden des Grunzochsen denselben Weg tänzelte wie sein Vorgänger. Mit einem dritten war's nicht anders. Es war, als ob den Scheidemünzen Beine gewachsen wären wie den Tausendfüßlern. Wie die Feldwanzen, den breiten Schild nach oben, marschierten sie unverzagt ins Dunkle.

Jetzt nahm Innocenz den Schlafenden am Rockkragen und schüttelte ihn. Wie ein Mohnkopf auf geknicktem Stengel schwankte das Haupt herüber und hinüber, aber die Augendeckel öffneten sich doch unter dem Druck der Männerfaust, und ein verwunderter Blick fragte Innocenz, was das zu bedeuten habe.

»Ihr spielt Komödie!« sagte der Student, »macht, daß Ihr zum Teufel kommt, oder ich helfe Euch über die Treppe.«

»Ihr mich hinauswerfen?« sagte der Trunkenbold. »Ihr solltet froh sein, daß ich da bin. Laßt los! Für Euere paar lumpigen Groschen habt Ihr mich jetzt genügend gerüttelt; es sei denn, Ihr wolltet sie wieder aus mir herausschütteln! Sagt eins: wohin ist Käthchen Sommertag verschwunden? Und macht Platz, daß ich zu ihr kann! Ich möchte meinen Mund ein wenig ihrem Ohre nähern, wenn ich sonst auch keines Euerer Rechte an sie antasten will.« Er lachte, schob den Studenten auf die Seite und verschwand hinter der Tür im Hausgang.

Nicht lange, und Käthchen Sommertag kam zurück, bang und verstört. »Ihr müßt fort!« sagte sie dringend, riß des Studenten Hut vom Nagel und gab ihm den schweren Ziegenhainer in die Hand. Innocenz sah sie fragend an.

»Fragt nicht, ein andermal, nur jetzt folgt mir aufs Wort und schnell!« und sie schob den Widerstrebenden zur Tür hinaus.

»Mir ist so bang um Euch,« flüsterte sie im Dunkel des Ganges, »tut mir die Liebe an und geht den anderen Weg zur Stadt, nur den nicht, den Ihr heute gekommen seid, bei allen Heiligen bitte ich Euch darum.«

Innocenz fühlte den würzigen Duft ihres Atems in seinem Gesicht und seine heißen Lippen suchten verlangend die ihren. Das Mädchen aber war fort.

›Man hat mich zum besten,‹ dachte er, verärgert auf der Straße stehend, ›ich will nur sehen, wer mir Vorschriften zu machen hat, welche Richtung ich nehmen soll!‹ Er faßte den Ziegenhainer trotzig in die Faust und schritt nun erst recht den Weg zum Dorfe hinaus, den er gekommen war.

Das Mondlicht hatte in die Kette grauer Nebelstreifen einige goldene Schußfäden geworfen und mit diesem Gewebe die Bäume überhängt und auch den Wegweiser, daß er gespenstisch und drohend aussah, als er dem Innocenz Lorum noch einmal den Vorschlag machte, zu überlegen, welche Straße er wählen wolle. Aber Innocenz fürchtete sich heute nicht. Er wäre, mit seinem Stocke bewaffnet, in ein Rudel Wölfe hineingelaufen, und er hatte Mut, es mit einem Dutzend Hammerschmiedsgesellen aufzunehmen. So lief er in einen Hohlweg hinein, wo der Nebel sich gesetzt hatte, wie die Hefe im Weinfaß und die Dunkelheit dichter wurde. Er pfiff die Weise eines Liedes vor sich hin, als ein anderer Pfiff, schrill wie ein Peitschenknall, seine Melodie köpfte. Ehe Innocenz noch wußte, was das bedeuten solle, pfiff es wieder vor ihm durch die Luft. Dann hinter ihm und fast rings um ihn herum. ›Das ist ein Steinhagel, der dir gilt,‹ dachte er, aber es kam ihm nicht in den Sinn, zu fliehen. Im Gegenteil, er stürmte kühn die Böschung hinan und drückte nur den Examenszylinder tiefer in die Stirne in der Erwägung: ›Besser der Zopf wie der Kopf.‹ So erreichte er den Rasen eines Baumgartens, bekam eine Gestalt in der Taille zu fassen und schleuderte sie in den Hohlweg hinunter. Wie aus dem Boden gewachsen, standen andere Gestalten vor ihm, und ein wüstes Hagelwetter von Stockschlägen prasselte auf seinen Zylinder nieder und auf seine breiten Schultern. Innocenz griff mit den Fäusten in den Haufen der Wegelagerer wie in eine Heringstonne und, was er faßte, flog über die Böschung hinunter auf den Straßendamm. Allein der Ring der Gegner um ihn wurde enger. Schon hatte einer der Strolche seinen Rockkragen erfaßt, ein anderer hing an seinem Ärmel, und ein dritter suchte ihm die Rockschöße abzureißen, als hinter den Kämpfern im Vordertreffen ein heiserer Schrei ertönte und der dumpfe Schall eines schweren Gegenstandes, der auf harte Hirnschädel aufschlug. Unterdrückte Schmerzensseufzer, laute Flüche, das Bellen eines Hundes und immer wieder das schwere Aufschlagen des harten Werkzeuges erinnerten eben den hartbedrängten Studenten an der Ilias berühmte Kämpfe, als ein achilleisches Schreien, das aber nicht nach der Sprache des Homer klang, seine klassischen Vorstellungen kreuzte.

»In dreier Teufels Namen, Herr Lorum, notabene nur einen von den Schelmen lebendig festgehalten!« rief eine Stimme, »die andern Edelgauner will ich schon zur Hölle prügeln.«

Der Rufer im Streit war dem Studenten bekannt. Keine Frage, es war der Überdies, der diese einschränkende Bemerkung machte, und Innocenz gedachte auch seiner Weisung zu folgen und griff mit neubelebter Kraft herzhaft in das Wespennest.

»Halt beim Schweineschwänzchen!« rief die Stimme wieder, »das fehlte zu guter Letzt noch, daß wir uns gegenseitig die Hälse brächen, nachdem die Strolche wie Schafleder ausgerissen sind. Der Pankraz steht vor Euch, Herr Lorum, notabene, und hat nun sein Frühstück abverdient. Wie ich am Abend meine Runde durch die Kneipen machte,« fuhr er fort, »da hörte ich, welche Brühe der eifersüchtige Windhund, der Balduin, für Euch in der Pfanne kochte. Zwei Hunde und ein Knochen! Da muß es doch zu einer Beißerei kommen. Versteht Ihr nun, aus welchem Faß mein Rausch stammte, als Ihr mich besoffen bei Käthchen Sommertag fandet? Begreift doch, daß der Schelm sich taub stellt, wenn er mehr hören will als andere Leute. Wenn Ihr jetzt nicht ganz vor den Kopf geschlagen seid, o ja, so könnet Ihr Euch das weitere zusammenreimen. Ich bin fertig, so fertig wie der Melkeimer hier, mit dem ich die Hunde in die Flucht geschlagen!« und Pankraz hob den Arm höher und reckte den Eimer ins Mondlicht hinein, das eben daran war, den Nebel vollends auf den Boden zu drücken. Man sah den eisernen Henkel auf der einen Seite losgerissen, und die Reife fielen gelockert an den Dauben nieder.

»Dem Himmel sei Dank, daß er so lang gehalten hat!« bemerkte Innocenz mit einem Blick auf die seltsame Waffe.

»Der Eimer, meint Ihr?« sagte Pankraz, »notabene, den fülle ich, bevor ich zu Käthchen Sommertag gehe, zur Hälfte mit Wasser und erzähle ihr, daß es die Tränen seien, die ich um Euer Schicksal geweint hätte. Ich werde ihr sagen, daß Ihr platt wie ein Iltisfell am Boden läget, und sie wird weich werden wie Käsematten und einsehen, daß soviel Flüssigkeitsverlust meinerseits nicht unersetzt bleiben darf.«

»Hoffentlich durchschaut sie deine Absicht, und ihre Gutmütigkeit hilft dir nicht zu einem Rausch!« bemerkte Innocenz. »Du kannst zwar einen Eimer voll vertragen, aber zuletzt bringt auch eine Feder das Kamel zum Zusammenbrechen, und heute gerade könntest du am Ende noch deine starken Arme brauchen.«

»Sorgt nicht für mich, ich komme zu dem, was mir behagt. Versteht, da die Weiber für mich nicht lachen, so mögen sie für mich greinen, da hab' ich meine Freude dran. Ich werde dem Käthchen erzählen, daß Ihr voller Löcher wäret wie der heilige Sebastian und zerbeult wie Euer Zylinderhut. Ich denke doch, Ihr überlaßt mir dies Möbel in Gnaden. Ihr könnt ohne ihn auskommen. Besser ohne Hut wie ohne Kopf. Denn sagt: hätte der wohl klug gehandelt, der vor einer Viertelstunde für Euern Schädel einen Doppelgroschen geboten hätte?«

»Du bist ein grausamer Schelm, wenn du dich an den Schmerzen anderer weiden kannst!« machte ihm Innocenz zum Vorwurf.

»Ein Schelm schon,« sagte Pankraz, »wenn man den einen Schelm nennt, der über der anderen Dummheiten lacht. Warum sind sie nicht alle so vernünftig wie ich? Mir macht die Liebe keine Schmerzen. Mein Großvater war in der Theorie ein Weiser, in der Praxis ein Narr. ›Die Liebe ist ein Gefühl, was man keinem Hund wünschen soll,‹ notabene, so sagte er, freite aber doch meine Großmutter und zeugte mit ihr meinen Vater. Der war nicht klüger als der Alte, und so vererbte sich die rare Weisheit in der dritten Generation auf mich. Jetzt aber ist's am Ende. Keinem meiner Nachkommen wird der Nachtwächter aus der Gosse helfen. Notabene, weil ich meinem Großvater zeigen will, wie man der Gemeinde einen Armenhäusler spart, so muß mit mir das glorreiche Geschlecht derer ›ab und zu Überdies‹ enden. Wenn ich nun selber keine Dummheiten mache, soll ich mich da nicht freuen an den Narrheiten der andern? So ein Mädel heulen sehen um einen Kerl, den sie nach einem Jahre vielleicht einem Hausierer für ein Päckchen Haarnadeln verhandeln würde, sehen Sie, Herr Lorum, das ist mir ein Feiertagsvergnügen, für das ich dem Himmel danke.«

Innocenz konnte dieser Weltanschauung eines Enterbten nicht widersprechen, deshalb sagte er nur: »Verfüge, wenn es dir Freude macht, wie die Kirchhofskommission über alle meine Knochen. Nur sage dem guten Kinde, ich würde auferstehn und käme schon einmal wieder, selbst dann, wenn der Weg so unsicher wäre, wie die Straße von Jerusalem nach Jericho.«

»Notabene, um mit dem Balduin Rebhühner zu rupfen, werde ich aus dem eigenen Witz hinzusetzen,« bemerkte Pankraz und warf den Hut in den Melkeimer und beides über den Rücken. Im Abgehen wendete er sich noch einmal um und riet vorsorglich: »Nehmt Euer Taschentuch um die Ohren, die Nacht ist kalt, und wenn Eure Nase halbwegs Mitleid hat mit Eurem Zustand, so wird sie Euch schon den Gefallen tun und trocken bleiben bis zu Eurer Waschkommode.« Mit diesen Worten ging er in den Nebel hinein, der seine Konturen auflöste in einem schwarzgrauen, wogenden Chaos.

Den Studenten band nun auch nichts weiter an diese gastliche Stelle, wo man ihm die Rockschöße heruntergerissen hatte. Er nestelte sein Taschentuch um die Ohren, stellte den Kragen und ging, kräftig ausholend, der Stadt entgegen, innerlich bewegter, als er äußerlich erscheinen mochte. Ihn beleidigte der Gedanke, daß nun etwas in den Schmutz der Straße geworfen war, was seither als sein unbestrittener innerer Besitz galt: Seine stille, zaghafte Liebe zu Käthchen Sommertag. Was mochten die ungewaschenen Mäuler der Leute von Birkenried heute abend hinter klebrigen Biertischen nicht alles über das Mädchen sagen und über ihn? Wie undelikat war es, sich vorzustellen, daß ihr lieber Name zwischen Zähnen hervor und über Lippen müßte, die beide nach Bier und Tabakssudder stanken!

Auch der andere Gedanke, daß er nun einen Feind habe, war ihm widerwärtig. Nicht aus Furcht vor dem Kampf, sondern wegen des Bewußtseins, daß er diesen Feind nicht stellen könne, daß er immer mit feigen Waffen aus dem Hinterhalt kämpfen und unsichtbar sein werde, wo man doch die Wirkung seiner vergifteten Geschosse fühle.

Diese und andere Erwägungen entwichen übrigens, als Innocenz seinen Schädel wieder mit einem Hut bedeckt aus einem Warenhause trug. Im Gewühl der Straße war das Abenteuer bald vergessen, und der junge Mann aß noch am gleichen Abend bei Mutter Gutbrod mit respektablem Appetit.


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