Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Erstes Kapitel

Innocenz Lorum hing den Schläger an die Wand und wühlte sich ein Loch in einen Bücherhaufen. Da saß er nun vor seinem Schreibtisch wie in einem Steinbruch. Jede Aussicht war ihm verlegt. Das war nicht immer so gewesen. Der Bruder Studio hatte bis heute mittag im Innern der Stadt gewohnt und hatte als vis-à-vis eine schöne Metzgerstochter gehabt, die oft am Fenster saß und strickte und mit braunglitzernden Augen neugierig über die Straße sah. Auch machte sie mit dem fleißigen Zeigefinger über den Stricknadeln allerlei schöne Hieroglyphen, deren Deutung dem Jüngling viel Zeit wegnahm. So war Innocenz an Jahren ein Mann geworden, während seine Weisheit noch in den Kinderschuhen lief.

Alles mußte nun anders werden. Das von den Eltern ererbte Geld war zu einem winzigen Häuflein zusammengeschmolzen. Dem Ausgeben mußte ein Einnehmen folgen. Hinter dem taufrischen Kanaan lag das trockene Land der Philister, in dem der Sauerkohl reifen sollte und die Kartoffel. Zwischen diese poesiearmen Nutzpflanzen wollte und mußte Innocenz. Aber der Weg führte durch das Dornengestrüpp eines Examens, in dem schon mancher zerkratzt und blutig hängen geblieben war. ›Das soll mir nicht begegnen,‹ dachte der junge Mann und warf den flimmernden Tand des Studentenlebens entschlossen hinter sich. So war er herausgezogen aus dem lärmenden Zentrum der Stadt in die Stille eines Vorstadthinterhauses und saß gleich in der ersten Stunde über seinen Büchern wie die Henne über den Eiern. Nicht einmal den Blick erhob er über die wohlgeordnete Phalanx der Zeilen aus Angst vor der Metzgerstochter und ihrem berückenden Bilde, das noch immer verführerisch lockend vor ihm in den Lüften schwebte.

Erst als es Abend geworden und manche schwere Erkenntnis mit sauerem Schweiß erkauft war, trat der mutige Forscher ans Fenster und sah in die dämmermatte, warme Abendluft hinein.

Der bläuliche Rauch niedriger Schornsteine trug den Geruch von Knoblauch und Hammeltalg unter seine Nase. Innocenz wehrte sich nicht gegen dies Aroma. Das war so der Armeleutegeruch, mit dem er künftig wohl zusammenleben mußte, denn sein Vater, ein Postbeamter mit großem Titel aber geringem Einkommen, hatte ihm keine Millionen hinterlassen. ›Viele verbogene Treppen hinauf, über ausgetretene Türschwellen und vermoderten Fußboden hinweg, würde er sich voraussichtlich sein Auskommen suchen müssen,‹ so dachte der angehende Arzt und betrachtete mit teilnahmvollem Interesse die buckligen Dächer, die mit ihren Moosziegeln förmlich ineinander hineinkrochen. Das war ein wildes Durcheinander von Giebeln, Dachfirsten und windschiefen Mansarden, deren Geburtstag weit vor der Erfindung des Richtscheites zurückzuliegen schien. Nur ganz da drüben, den Wirrwarr jäh durchschneidend, stand ein großer, öder Bau mit schnurgeraden Linien steif und pedantisch da. Alle seine Lichtöffnungen waren mit den dichten Quadraten einer eisernen Drillage überkleidet und verrieten, daß das Haus vielleicht die Dependance der Herberge zur Gerechtigkeit sein möchte, in welcher armen Teufeln Kost und Beleuchtung vom gutmütigen Staate umsonst gestellt werden.

Indessen war es dunkel geworden und hier und da flammte hinter papierverklebten Scheiben ein mattes Licht auf an buckligen Fensterkreuzen. Da dachte Innocenz bei sinkendem Tage zum ersten Male nicht an die sangesfrohe Kneipe, sondern ans Schlafengehen und wühlte in dem Kleinkram seines Koffers nach einem Nachthemd. Plötzlich verstrickten sich seine Finger in ein feines Kettchen und er zog daran. Da kam's zum Vorschein, klein und winzig und doch allerliebst, und weckte alte Erinnerungen. Eine blinkende Medaille war's an goldenem Kettchen, die ihm einst die Mutter auf dem Sterbebett um den Hals gelegt hatte, als er kaum der Schule entwachsen war. Er hatte sie getragen bis zu jener Stunde, wo er zum ersten Male die Männerbrust dem Säbel seines Gegners zeigte. Damals hatte er das Amulett verschämt und heimlich in die Tasche geschoben. Er fürchtete den Spott der anderen. Heute, wo sein Lebensweg eine andere Richtung nahm, konnte er das Ding wieder anlegen. Zwar glaubte er längst nicht mehr an seine Wunderkraft, aber es konnte ihn zuweilen an die liebe Tote erinnern, und so warf er das Kettchen um den Hals und die Medaille hüpfte auf dem weichen Fell seines Busens, in dessen behaartes Dunkel sich eine breite, feurige Narbe verkroch.

›Was da nicht alles zusammenkommt,‹ dachte Innocenz und lächelte. ›Die Spuren rohen Faustrechts und naiven Kinderglaubens, beides auf einer Menschenbrust.‹ Er schüttelte lächelnd den Kopf und kramte weiter.

Da fischte er ein kleines Gebetbuch: den ›Kongreganistenspiegel‹. Es war noch neu und ungebraucht. Als er das Kolleg verließ und zur Universität ging, hatte es ihm der ehrwürdige Jesuitenpater mit den asketischen Zügen im kahlen Bekennergesicht in die Tasche gesteckt.

»Du wirst eine Zeitlang wenig Geschmack an frommer Betrachtung finden,« hatte er gesagt, »aber stecke das Gebet nicht ganz auf. Jeden Sonntagmorgen schlage das Büchlein auf und suche die erhabene Stelle, die da beginnt: O domina mea, o mater mea, und denke an das liebe Marienantlitz in der Nikolauskapelle, vor dem du so oft dein Sprüchlein gesprochen hast. Sie, die Himmelskönigin, sieht dann auf dich und wird dir die Hand reichen, dich aufzurichten, wenn du gefallen bist, denn auch du wirst straucheln und am Boden liegen. Der Weg zum Leuchtturm wahrer Erkenntnis geht durch eine brausend gefährliche Brandung. Wehe dem Schiffer, der ganz ohne Kompaß in den Nebel des Aufruhrs steuert.«

So hatte der Jesuitenpater einst gesagt. Innocenz wußte noch jedes seiner Worte, und doch hatte er seit Jahren nicht mehr an jene Abschiedsrede gedacht. Ja, nun lag auch vor ihm der Nebel, der alle Zusammengehörigkeit der Dinge auflöst und jeden auf sich selber stellt. Wie würde er sich zurechtfinden in der feuchten Finsternis des Lebens, die über Schlünde und Klippen ihren grauen Mantel wirft!

Innocenz zog seinen Wecker auf, legte sich zur Ruhe und verschlief sein Zagen. Noch ehe die Sonne da war, ermunterten ihn ihre vorausgeschickten Messingstrahlen zur Arbeit. Er erhob sich von seinem Lager. Warmer Brodem stieg von der Erde auf und wälzte sich zum Fenster herein, denn es war Hochsommer. Der Student reckte mit Behagen die mächtigen Glieder und ließ sich im Nachthemd an seinem Schreibtisch nieder. Hier, hoch über den Giebeln, gab es keine Metzgerstochter, der seine unverhüllte Kraft zum Ärgernis werden konnte. Zu ihm herein blickten nur die Schwalben, die kreischend durch den blauen Äther schossen, und ein mausender Kater, der bei seinem Weg über die Hohlziegel an seiner partiellen Nacktheit keinen Anstoß nahm. Im Katerauge lag vielmehr eine gönnerhafte Herablassung, als ob der Graue sich beim Anblick dieses Menschenkindes erinnere, daß seine Katzenvorfahren einst im Ägypterlande göttliche Verehrung genossen. Innocenz änderte aber auch diesem erhabenen Katerpedigree gegenüber in nichts seine Haltung, streckte sich vielmehr und dachte: ›Schade, daß unsere Stammeltern uns um das Glück der Nacktheit gebracht haben. Kinder und junge Mäuse haben's noch und sind lustig, und unsereiner könnte es brauchen, es studiert sich prächtig dabei,‹ und er vergrub den Kopf in beide Handteller und fing zu büffeln an.

Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er einige Worte hörte, die vom Himmel zu fallen schienen.

»Du da in deinem Hemd, hör' doch und gib Antwort!« rief eine Männerstimme. »Kannst du mir sagen, ob's heut ein Freitag ist?«

Innocenz trat ans Fenster und sah verwundert ins Leere hinaus. Er prüfte jede Dachluke, jedes Giebelfenster um sich her und suchte, ob nicht etwa aus einem Kamin – von allen Möglichkeiten die wahrscheinlichste – der schwarze Kopf eines Schornsteinfegers auftauchen möchte. Es war alles umsonst, er fand niemand.

Indessen fuhr die Stimme fort: »Eine Wurst an einen Faden gebunden ginge gerade noch hier durch das Eisengitter und wäre eine prächtige Sache für einen, der schon seit vierzehn Tagen an der Fastenkost eines alten Kommißbrotes nagt. Bei Gott, ich würde sie hinunterwürgen, und wenn ihre Haut aus zweiundfünfzig Freitags-Todsünden gearbeitet wäre.« Der Student riß die Augen weiter auf und ließ sie nun mit systematischer Gründlichkeit über Wände und Dächer gleiten. An jedem fehlenden Ziegel verweilte er und an jedem Loche, das die Ratten aus den lehmigen Riegelwänden gekratzt hatten. Es war alles umsonst. Wer zum ersten Male vor einem Grammophon steht, kann nicht verwunderter sein, als es Innocenz war. Hatte irgendeiner dieser geschnitzten Balkenköpfe die Sprache gefunden und redete zu ihm?

Auch der Kater drüben auf dem Dache war aufmerksam geworden. Er machte einen Buckel, drehte dem Studenten das Hinterteil zu und schlug mit dem Schwanze einige verwegene Durchzieher in die schieferblaue Morgenluft. Bald aber duckte er sich zum Sprung, streckte den Kopf weit vor und taxierte den Raumabstand zwischen sich und einem fernen Gegenstand.

Innocenz folgte der Blickrichtung des Tieres und sah nun drüben an dem Fenstergitter etwas, was sich wie ein Wieselkopf duckte und wieder aufstand, zu lauern schien und sich wieder versteckte. Ein Fernglas brachte die richtige Deutung. Es waren Menschenfinger, die durch Zeichen um Verständnis und Beistand flehten. Innocenz holte einen Karton und schrieb mit Pinselstrichen darauf: ›Sobald es dunkel wird!‹ Dann warf er dem Kater einen Wurstzipfel zu, den dieser mit den Pfoten auffing, setzte sich über seine Bücher und arbeitete. Alles war wieder still. Der Briefträger beantwortete später die Frage: Was das da drüben für ein Haus sei, mit: »Ein Militärgefängnis.« Das klärte die Situation für den Einsiedler unterm Giebeldach.

Es kam der Abend und kleidete die Welt in schwarze Tüllstoffe. Auf der Bude des Studenten brannte zunächst kein Licht, dann mit einem Male flammten drei kleine Reste von Christbaumkerzen auf, die auf einer Semmel staken. Das war das Fanale, das die Aufmerksamkeit der Empfangsstation wachrufen sollte. Ein durch die Zähne getriebener Pfiff meldete: »Verstanden!«

Innocenz machte sich nun auf die Sohlen und kaufte ein. Mit Zigarren und Wurst ausgerüstet kam er vor dem Gefängnis an und merkte, daß er auf Stroh trat. Bald stieß sein Fuß in dem weichen Wirrsal an einen harten Gegenstand, der Laut gab: »Hund, ich könnte dir alle Knochen im Leibe zerbrechen,« klang es vom Boden herauf. »Glaubst du, ich habe das Stroh zusammengetragen, damit du dich hier einlogierst? Lieber will ich es auffressen, als ob ich ein richtiger Esel wäre.«

»Ruhig,« flüsterte Innocenz dem Pennbruder zu, »wenn du schweigen kannst, dann fällt etwas für dich ab,« und er klopfte mit dem Hausschlüssel dreimal an die Mauer. Stille ringsum.

Da mit einem Male war es dem Studenten, als ob ihm ein Nachtfalter um die Ohren stiege. Er griff nach dem Schwärmer und erfaßte einen Zettel, der an einem Faden niederhing. Die gleiche Schnur, die das Briefchen gebracht hatte, trug etwas Mundvorrat in die Höhe. Der Mann am Boden hatte sich indessen erhoben und forschte: »Kennt Ihr den da oben?«

»Eigentlich nicht,« war die Antwort, »aber er ist ein Gefangener.«

»Da Ihr so viel für einen Fremden wagt, müßt Ihr ein guter Kerl sein. Notabene, an mir hätte die nächste Ronde einen besoffenen Strolch gefunden, aber was an Euch? O ja, gut und dumm wachsen paarweise auf einem Stiel wie die Haselnüsse.«

»Bei Gott, Ihr habt recht, so weit hatte ich nicht gedacht. Hoffentlich ist die Schuld des Eingesperrten nicht derart, daß ich meinen Schritt bereuen möchte.«

»Eine Kleinigkeit. Von ihm hüpfen die Hände wie vom Zigeuner die Flöh. Er hat einen Rekruten hinter die Ohren geschlagen. Ich müßte noch drei Wochen über den Jüngsten Tag hinaus in die Ewigkeit hinein sitzen, wenn ich wegen jeder Ohrfeige eingelocht worden wäre.«

»Seid Ihr mit ihm verwandt?« setzte Innocenz die Unterhaltung fort.

»Das nicht, aber ich kenne ihn – wenn auch von keiner guten Seite – von Kindsbeinen auf, und als ich vorhin pfeifen hörte, notabene, da wußt' ich gleich, auf welchem Ast der Vogel sitzt.«

»So hattet Ihr die Absicht, ihm beizuspringen, und ich bin Euch zuvorgekommen?«

»Ja,« sagte der Fremde, bog in ein Seitengäßchen und verschwand. Innocenz ging mit seinem Briefe einem Restaurant zu. Seine frohe Seele hatte keine Ahnung davon, daß heute abend das Schicksal den ersten dünnen Faden eines mächtigen Narrenseiles gesponnen hatte, an dem es ihn von einem Leid zum andern schleppen konnte. Hätte der Mann an der Gefängnismauer seine Drohung wahr gemacht und ihm wirklich einige Knochen zerschlagen, er hätte als Krüppel an einer Krücke immer noch leidlich bequem durchs Leben humpeln können und wäre glücklicher gewesen, als er es nun wurde.


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