Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Dreizehntes Kapitel

Der Frühling kehrte mit brausenden Stürmen die Wolken vom Himmel, dann schickte er einen warmen Wind aus dem Süden und brachte die Sonne zurück ans Firmament, unter dem gütigen Einfluß dieser beiden verzehrte sich der Schnee und wurde so dünn, daß die grünen Lanzetten der Wintersaat ihn durchbohrten und neugierig in die Welt hineinguckten. In den Dörfern wurden die Straßen und Plätze trocken, und wo immer sich eine ebene Fläche bot, trieben Knaben mit Peitschenhieben ihre Tanzknöpfe. Die Mädchen spielten an der Kirchenmauer mit Wollbällen, warfen sie wider die verbleiten Fenster, freuten sich, wenn die Scheiben klirrten, und fingen den bunten Knäuel mit den Schürzen wieder auf. Jedes Rindvieh stellte den Schwanz wie einen Fahnenmast kerzengerade in die Höhe, wenn es zur Tränke ging, und schreckte mit ungelenken Luftsprüngen die Mägde, die mit den Kübeln zum Brunnen wollten. Unter den Dachkandeln lärmten die Spatzen, stritten sich um die Bauplätze für ihre neuen Häuser, und die Männchen fochten mit frisch gewetzten Schnäbeln und scharfer Kralle blutige Kämpfe der Eifersucht, während die Weibchen sich damit begnügten, mit frecher Zunge übereinander zu schimpfen und sich gegenseitig schlecht zu machen. Überall regte sich der Frühling und verleitete Mensch und Tier zu allerlei Torheiten. Wenn auch die Bimssteingesichter der Männer starr und unbeweglich blieben, was auch immer zwischen Himmel und Erde vorgehen mochte, die Weiber regten sich, huschten zueinander, steckten die Köpfe in alle Modejournale, hatten allerlei zu beraten und vielerlei zu ändern und auszutauschen.

Innocenz traf auf seinen Gängen von Bett zu Bett die Nähterin mit ihrer Maschine bald da, bald dort, und er trug an seinen Absätzen rote und gelbe Reihfäden, weiße und grüne Zeugschnipsel von sonderbaren Formen mit nach Hause. Nicht selten überraschte er den Hausierer, wie er seine Stoffe auf dem Krankenbett ausgelegt hatte, aber wenn der Doktor kam, sein ganzes Lager rasch in seinem Wachstuchmagazin verschwinden ließ.

Fastnacht war nahe. Nun bereite dich zur Himmelfahrt, Schwartenmagen, du letzte gelbgeräucherte Reliquie des verblichenen Schweines! Tu dich auf, Mehlkasten, und du, Ölkrüglein der Witwe von Sarepta, schon harrt eures Inhaltes die Pfanne über dem prasselnden Reisigfeuer. Größer als sonst war in diesem Jahre die Spannung der Gemüter, höher die Erwartung auf den Glanz des Festes. Turnerschaft und Singverein, die trotzigen, unversöhnlichen Rivalen um die Volksgunst, waren nach vielem Bemühen und unter dem Zureden des Pfeifenvereinsvorstandes unter einen Hut gebracht. Wer wollte nun noch zweifeln, daß ein Fest herauskommen werde, von dem noch die späten Enkel singen und sagen sollten? Emerentia, die zeisiggelbe Frau des Dorfbarbiers Immergrün, war nach der Stadt gefahren und hatte in einer Kiste Kostüme mitgebracht von unerhörtem Glanz und unbezahlbarer Kostbarkeit. In der Dämmerung schon, aber auch später noch, wenn das satte Vieh in den Ställen sich ans Geschäft des Wiederkauens machte, war ein starkes Gelaufe nach ihrem Laden hin. Eine allgütige Melusine, stand Frau Immergrün, während ihr Mann im Hinterstübchen rasierte, zwischen goldenen Kronen von Pappendeckel, Königsmänteln aus Hasenfell, Kolliers und Armspangen aus lackierten Hobelspänen. Welch ein Auswählen und Wiederverwerfen, welch ein Kaufen und Wiederzurückgeben, welch ein Dranflicken und Wiederheruntertrennen! Frau Emerentia hielt mehr überflüssigen Fragen stand, als alle Kondukteure und Zugführer zwischen dem Ärmelkanal und Hellespont.

»Was meinen Sie, gute Frau Immergrün, zu einer Zigeunerin?«

»Gewiß, nichts Schöneres für dich, liebe Seele! Und wie das stehen wird zu deinen schwarzen Kirschenaugen und dem Rabenhaar. Die Brust heraus und ich will das Kleid so an dich hinlegen. Etwas wilder mußt du um dich schauen. So, eben wird es recht. Nein, gib dich nicht zu verführerisch, auf daß dir der Dirnenwaibel nicht nachläuft und deinen Gewerbeschein verlangt oder gar dich über Nacht ins Loch steckt.« »Ich traue Eurem Urteil ja gewiß, Frau Immergrün, aber meint Ihr nicht, ich sollte es einmal probieren, wie das Kostüm einer Gärtnerin mich kleiden würde?«

»Eine Gärtnerin? Was könnte es Passenderes für dich geben, deine blauen Augen und deine Flachszöpfe? Einen kleinen Rechen ins Haar, ein schwarzes Mieder mit Goldpassementrie und ein Körbchen mit Rosenkohl an den speckigen Arm, und nicht nur die Bursche laufen dir nach, nein, auch die Gänse des ganzen Kirchspiels.«

Ja, Emerentia war ein merkantiles Genie von nie gesehener Größe und eine Künstlerin überdies. Aus einem Eisenhafendeckel und einem Schürhaken machte sie einen römischen Legionär, aus Bücklinghaut und einer Mädchenbrust eine erzgepanzerte Kriemhilde.

Und sie fand Anerkennung, die Anerkennung der Masse und die Anerkennung der Guten. Ihr zuliebe saß Innocenz Lorum manche halbe Stunde im Kabinett des Barbiers und ließ sich den Kopf waschen. Und wenn der Laden für Augenblicke leer war, dann hüpfte die Kleine auf Bachstelzenbeinen ins Hinterstübchen und plauderte, plauderte von sonnigen Tagen an den Ufern der Seine, von Mondscheinnächten im Bois de Boulogne, von Champagnerknallen und Zigarettenduft auf den Höhen des Montmartre. Und noch intimere Dinge holte sie hervor aus dem Schrein ihres Herzens. Sie sprach von Armen, die sie weich umschlungen hatten, von Küssen, die versengend nach ihrem Herzen niedergebrannt waren. Und ach, diese Welt, diese schöne Welt hatte sie verlassen, diesem Streichriemen zuliebe, der nun ihr Mann war. Es war zu dumm.

Innocenz hörte diese Mignonlieder, und ein mächtiges Sehnen nach den Brunnen des Lebens zog in seine Seele ein. Es gab Augenblicke, in denen Käthchen Sommertag vergessen war, hinweggeschwemmt von einer heißen Blutwelle, die nach Allwissenheit verlangte. Gewiß, daß er in die Weiten wollte, das war ihm klar, aber auch hier in Birkenried wollte er nicht versauern. Wenn er die See nicht haben konnte, so wollte er sich in die Pfütze setzen, plätschern, plätschern, wie es auch die anderen taten. Warum sollte er anders sein wollen wie die vielen? Sich anpassen, das war's vielleicht, was er seither vernachlässigt hatte. Mit dem Strome treibt ein leichter Lufthauch das Frachtschiff, aber der größte Sturm bringt den Nachen nicht von der Mündung zur Quelle.

Dies und anderes hatte Innocenz bedacht, ehe er sich entschloß, sich in den Fastnachtstrudel von Birkenried zu stürzen. Frau Immergrün formte seinen äußeren Menschen so, daß er in etwas dem Charakter des Festes entsprach. Eine Schellenkappe auf dem Haupt, eine Sonnenblume im Knopfloch, betrat er am Sonntag vor Fastnacht den Ballsaal der vereinigten Turner und Sänger.

Welch ein Umschwung der öffentlichen Meinung bei seinem Erscheinen! Der Feuerwehrkommandant erhob sich, ging ihm bis zur Tür entgegen, knickste wie ein halb durchgebrochener Peitschenstiel und versicherte, daß er die Ehre zu schätzen wisse, die der Gesellschaft durch das Erscheinen des Arztes zuteil werde. Den ersten Redner löste der Turnwart ab. Er gab dem Arzt die Hand, drehte sich dann um und ließ die Augen durch den Saal gleiten. Dieser prüfende Blick aus so hervorragendem Antlitz veranlaßte ein großes Stuhlrücken an allen Tischen. Jeder Mann und jede Frau gab sich den Anschein, als ob es ihnen eine große Ehre wäre, den Arzt neben sich zu wissen. Die Weiber rafften ihre Röcke um die Unterschenkel, die Männer hoben die Rockzipfel und setzten sich darauf. Alle, alle wollten sie dem Ehrengast einen Sitz verschaffen.

Frau Immergrün löste geschickt die Platzfrage und setzte den Doktor mitten hinein in einen Blumengarten von Kameliendamen, alle aus ihrem Treibhause. Bald kamen edle Herren, die durch die Kunst der Frau Emerentia Ritter geworden waren, und es begann ein hölzernes Verneigen herüber und hinüber, bis die Musik einen Walzer intonierte, der über den Text geschmiedet war:

Durch das viele Schubkargfoahrn
Ist die Lene bucklig woarn.

Schon die ersten Takte schufen ein sinnverwirrendes Durcheinander.

Eisbären walzten um Königinnen der Nacht und Schmetterlinge um Windhunde. Es war ein Stoßen und Drängen wie in der Arche Noah. Da flog ein wirbelndes Paar den Mauerblümchen in den Schoß, dort kollidierte eins mit dem Ofen, daß das Rohr aus der Wand flog und seinen schwarzen Puder über die Köpfe streute. Da griff eine Herzogin hinter sich und suchte von dem hängen gebliebenen Schleier zu retten, was noch zu retten war, dort wickelte eine Prinzessin die Beine eines Edelknaben aus den Spitzen ihres Unterrockes.

Als die erste Tour beendet war, kamen all die stolzen Erscheinungen an die Tische zurück, wie eine vom Sturm gepeitschte Fischerflottille an den Strand. Da fehlte was am Hintersteven des Schiffes, dort am Bugspriet. Hier schlug ein halb zerrissenes Segel den Mast, dort hing von einer fremden Galere ein Signalfetzen in den Raaen.

Die Leute waren übrigens nicht unglücklich über diese Verwüstungen, im Gegenteil, sie freuten sich derselben fast. Der Zwang der Rolle war ihnen etwas Unnatürliches; sie waren wie erlöst, daß sie ihre Stimme nicht mehr zu verstellen, daß sie nicht mehr in gewählten Sätzen zu reden brauchten. Sie waren wieder Menschen geworden und konnten nach ihren Bauernmanieren essen und trinken.

Mit der Steigerung der physischen Genüsse sank der hochgeschraubte Tenor der Veranstaltung trotz des Frackes des Singvereinsdirektors immer tiefer. Gläser werden auf den Tisch geschlagen, und in der Ecke, wo die Veteranen ihren Medaillenstand aufgeschlagen hatten, fängt man an zu singen. Nicht gar lange und man sieht den ersten Betrunkenen sein Schifflein durch das Treibeis der Tanzenden steuern. Es gab Arme, die sich hoben, um zu zeigen, wie man in der Achselhöhle schwitze. So ungeniert war man bereits, als sich von einem Tische in der Nähe des Uhrkastens ein schallendes Gelächter erhob. Eine von den männlichen Masken war vom Stuhl gefallen und lag hilflos am Boden. Dem Feuerwehrkommandanten kam der Gedanke, daß das etwas sei, worüber sich die Gesellschaft schämen müsse. Er drängte die Gaffer auseinander und stand vor dem Schandfleck des Abendfestes.

»Mannschaft her!« kommandierte er. Und einige Männer griffen zu und hoben den Menschen vom Boden auf. Wie lappig, wie ganz ohne Zusammenhang war er doch! Leichter hätte man einen Schneemann transportieren können als ihn. Man mußte fürchten, daß er einem unter den Fingern zerbreche. Was war das für ein Gaudium an allen den Tischen, an denen das Jammergebilde vorübergetragen wurde!

Man drückte die Tür nach dem Gange auf und sah dem Zuge nach auf den Korridor. Daß der Verunglückte gar so still war, das war den Leuten nicht so recht nach dem Geschmack. Man hätte gerne gelacht, und deshalb erwartete man mit Spannung eine grobe Bemerkung oder eine Gewalttätigkeit, wie sie bei Trunkenen vorkommen. Aber beides kam nicht.

Als es nichts mehr zu sehen gab, versenkte man sich in abgrundtiefe theoretische Betrachtungen. Daß Wein und Blutwurst sich nicht miteinander vertragen, darüber war man einig und man brauchte nicht das Obergutachten eines Sachverständigen einzuholen. Daß aber Weingenuß an sich den Menschen kräftige, dies Dogma war angesichts des gebrechlichen Zustandes des Hinausgetragenen stark ins Schwanken gekommen. Man wandte sich mit allerlei Fragen an Innocenz. Als dieser beharrlich schwieg, schlug der Hintersteiner mit der Faust vor ihn auf den Tisch und schrie: »Er lasse sich nichts mehr weismachen. Ihm könne einer sagen, was er wolle, er wisse doch, was er vom Wein zu halten habe, und wenn der Wein dem Körper Kraft gäbe, dann müßte er der stärkste Mensch auf Erden sein.«

Über diese Beweisführung lachten die zwei zunächst stehenden Tische und drei weitere, die etwas ferner standen. Die Leute aber am sechsten und siebenten Tische griffen denen vom vierten und fünften mit den Fäusten in das Rückenstück der Überröcke und bearbeiteten sie so lange, bis die Geschüttelten den Witz des Hintersteiners von sich gaben, und minutenlang füllte verspätetes Lachen wie fernes Echo den Saal.

Innocenz hatte das Gefühl, daß der Hintersteiner Händel suche, und erhob sich, um nach Hause zu gehen. Der Appetit war ihm vergangen, ehe noch das Mahl ganz serviert war. Im Hausgange nahm ihn eine Zigeunerin am Ärmel und zog ihn in eine kleine Kammer, die von einer Rüböllampe dürftig genug erhellt war. Auf den zerknitterten Kissen eines Bettes lag im schläfrigen Halbdunkel der schlaffe Körper des jungen Mannes, den man vor einer Viertelstunde aus dem Saal getragen hatte. In das bleiche Antlitz herein hingen einige verirrte Haarsträhne und griffen mit ihren Ringeln nach dem blonden Flaum, der sich als schüchternes Zeichen der Mannbarkeit auf die Oberlippe gewagt hatte. Die Augen waren geschlossen. Die Lider waren in den dunklen Schatten der Augenhöhlen wie in einen Schacht versenkt. Zwischen den hochgespannten Brauen aber, da thronte etwas Unheimliches, das den jungen Arzt erschauern ließ bis in die Grundfesten seiner Seele hinein. Der Engel des Todes war's, der hier seinen Thron aufgeschlagen hatte. Das Unglaubliche war geschehen. Mitten hinein in die Freuden der Menschen hatte das Verhängnis seine fleischlosen Arme gestreckt und ein junges Menschenleben erwürgt.

Um das Schreckliche ganz glauben zu können, durfte Innocenz seinen Augen allein nicht trauen. Er trat vom Fußende an die Seite des Bettes. Dabei schob er den Knochenfranzel, der mit schwerer Junge bombastische Reden führte, in eine Ecke und sah sich den schreckhaft fragenden Augen der kleinen Zigeunerin gegenüber. Silberne Schellchen, die um ihren Kopfputz tanzten, klingelten noch immer die Melodie des Faschings, aber was sie läuteten, bildete eine scharfe Dissonanz zu dem, was das arme Herz fühlte und das bleiche Antlitz beichtete. Wie auf ein Marterl am Wege war die Kunde eines großen Unglücks in dies Gesicht geschrieben.

Der Arzt sah das Mädchen traurig an, dann beugte er das Haupt zu dem Jüngling nieder und lauschte, ob noch das Herz die Sprache des Lebens rede. Es war alles still. Die Zirkulation der Säfte hatte aufgehört. Es begann die Flucht der Atome ins Weite. Keine Erinnerung an Gewesenes geht mit. Das unklare Streben, sich irgendeinem Werdenden anzuschließen, leitet die Moleküle.

Mit den lauernden Augen eines Luchses war das Mädchen jeder Bewegung des Arztes gefolgt, und als er sich umdrehte und mit der Schulter zuckte, da durchschnitt ein Schrei wie der Knall eines Geschosses die Luft und alarmierte den benachbarten Tanzsaal.

Im Nu war der Rahmen der Tür zu eng. Wie ein Wildbach, der sich über ein Stauwehr wälzt, flutete der Schwarm der Gaffer in die Kammer. In der vordersten Reihe lehnten die Oberkörper über das Fußende des Bettgestelles, die zweite und dritte Reihe über den Rücken ihrer Vordermänner, und alle rissen mit den Augen noch die Mäuler auf, gafften, schüttelten den Kopf und gafften wieder. Wenige, die sich satt gesehen hatten, gingen. Andere kamen an die leer gewordenen Plätze.

Jetzt erschien auf der Türschwelle ein Harlekin mit der Pritsche. Ein unklares Gerücht hatte ihn aus dem Saal gelockt. Seine Augen blinkerten neugierig durch die Löcher seiner Maske und sein spitzer Hut mit roten Knöpfen tanzte trunken auf dem kahlen Schädel. Mit Pritschenschlägen, die er auf die Häupter der Menge niederregnen ließ, bahnte er sich einen Weg zu der kleinen Zigeunerin, die ihr Gesichtchen in die Hände vergraben hatte und am Bette des Toten saß. Der Narr stieß mit dem Knie an das weinende Kind, und sie hob das traurige Antlitz aus der Tränenschale der Hände.

Da plötzlich wurde der Zudringliche verlegen und fragte unsicher: »Liesel, was ist los?«

»Gestorben!« schrie das Mädchen. »Mein Bruder ist gestorben!«

»Gestorben?« wiederholte zweifelnd der Harlekin. »Ist ihm das schon oft passiert?«

»Nein, es ist zum ersten Male!« gab die Angeredete gedankenlos zurück.

Nach diesen Worten schüttelte ein inneres, konvulsivisches Lachen den Schwarm der Gaffer, und es entstand ein heftiges Drängen nach der Tür. Wer seine Stimmung nicht beherrschen konnte, suchte auf den Gang zu kommen, um sich den Kitzel aus dem Halse zu lachen. Ein einziges unüberlegtes Wort hatte das Tragische der Situation verwischt und das Komische nach oben gekehrt. So labil ist das Gleichgewicht der menschlichen Gefühlslage, daß ein unbedachter Satz das Unterste nach oben kehren kann.

Wer übrigens jetzt noch nicht aus dem Zimmer war, dem wurde das Abschiednehmen von dem Toten leicht gemacht. Die kräftigen Fäuste des Arztes hakten sich in die Rockkragen der Gaffer, und ehe man sich recht besonnen hatte, was das bedeuten solle, lagen einige Fettwänste wie Kaffeesäcke übereinander auf dem Vorplatz. Innocenz führte das weinende Mädchen über die Treppe, nachdem er die Tür zur Kammer des Toten verschlossen hatte. Eine Viertelstunde später war die Leiche aus dem Hause geschafft.

Die Störung, die der Abgang eines Menschen aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit hervorgerufen hatte, war keine allzugroße und manchem sogar nicht unerwünscht. Die Musikanten zum Beispiel hatten die Pause allgemeiner Überraschung benutzt und hatten die halbgeleerten Gläser der Gäste über ihre Nasen erhoben, bis der letzte Tropfen Wein in ihren Gurgeln war. Der Wirt hatte die angebrochenen Flaschen durch ganze ersetzt und hantierte mit der Kreide wie ein Schnellmaler am schwarzen Brett herum. Bald fing die Musik aufs neue an. Eine Fliege war in einem Weinglas ertrunken und herausgeworfen worden. Wer läßt sich durch Kleinigkeiten den Appetit verderben?

Innocenz war einer von jenen Empfindsamen, die kratzen müssen, auch wenn sie nicht gebissen werden. Er hatte eine schlaflose Nacht, in der er sich klar wurde, daß er hier unter Larven eine fühlende Brust sei. Die Menschen seiner Umgebung waren ihm unverständlich, wie er ihnen. Er hatte sie in ihren Leiden kennen gelernt und hatte sie nun aufgesucht in ihren Freuden. Mitten im Tumult hatte er sich einsam gefühlt und unverstanden. Das Mignonlied der Frau Emerentia Immergrün lockte in andere Länder und zu anderen Gesellen. Warum sollte er hier sitzen bleiben, wo die Alltäglichkeit mit ihren unersättlichen Mäusezähnen unerbittlich seinen Schatz von Idealen fraß? Daß man ihm beim Abschied nicht den Rock zerreißen werde, das war ihm klar. Außer dem Pankraz und Käthchen Sommertag würde ihm niemand mit feuchtem Auge nachsehen.

Ja, Käthchen Sommertag, die vielleicht? Nein, nicht vielleicht, die gewiß. War sie doch selber hier wie eine vom Sturm in die Sandwüste verschlagene Möwe, die mit müden Flügeln über den Disteln schwebt und mit bangen Klagetönen ihr Heimweh in die Lüfte weint. Warum war sie doch gestern nicht da, wo doch alle Welt war? Hält sie sich zu gut für diese Gesellschaft? Freute sie sich der Stille ihres Sauses an einem Abend, wo die Herde einmal auf einer anderen Weide graste? Innocenz sah das Mädchen in der leeren Stube, das Kinn auf die Hand gestützt, das Haupt über ein Buch gebeugt, sah die Wangen von der Farbe der wilden Rose, die feingeschnittenen Lippen, die Stirne, von der aus ein frommer Schein das zarte Oval des Gesichtes beleuchtete. Unnahbar, eine Königin für alle, und doch für einen ein erreichbar menschlich Wesen, eine liebende Braut, eine zärtliche Gattin. Von allen fordere ich Respekt, von einem Liebe!

Innocenz wußte, daß er der eine sei, und der Gedanke war sein Glück, aber er belastete doch auch wieder sein Freigepäck mit starker Überfracht. Wenn Käthchen der Kompaß war, nach dem er seinen Kurs segelte, dann mußte über kurz oder lang die Reise wieder in Birkenried enden. Das war keine schöne Perspektive. Doch die Welt war ja so groß. Irgendwo mußte es doch einen Fliederstrauch geben, in den ein Vogelpaar sein Nestchen bauen konnte. Noch waren nicht alle Pfade abgeschritten. Noch hatten sie eine Zukunft. Er war ja noch jung. Warum sollte er nicht den Wanderstab in die Hand nehmen? Wenn die Frühlingssonne die Wege getrocknet hatte, dann sollte es sein. Dann sollte der Wind in seinen Mantel blasen und ihn vorwärts treiben, dem Glück entgegen. Käthchen Sommertag kam später nach, und alles wendete sich zum Guten. Solches oder Ähnliches wollte er mit dem Kinde besprechen, bevor er abreiste. Das war der Vorsatz, der aus der Saat grübelnder Gedanken gereift war.

Frisch sprang er aus seinem Bett, denn es war auch schon die Sonne da und wollte ihm leuchten zu einem neuen Tagewerk. Die Dorfgasse war heute für diese Morgenstunde auffällig leer. Der Krämer zog unter Gähnen seinen Rolladen in die Höhe, und der Hufschmied ging mit kollerndem Schurzfell nach seiner rußigen Werkstätte, als die Uhr vom Kirchturm die neunte Stunde schlug. Still war's, denn noch ruhten alle Hämmer, die sonst am Amboß so eifrig klopften, noch ruhte das Schifflein auf dem Webstuhl des Leinewebers. Kein Rad schlug noch in der Nabe, kein Hufeisen auf dem holprigen Pflaster. Man hörte das Plaudern eines Starenpaares und das Gezänke einer Spatzensippschaft. An einem andern Tage hätte dies Volk vergeblich versucht, sich bemerklich zu machen, heute hatten sie das Ohr von jedermann, bis ein Disput aus einem Wirtshausfenster sie übertrumpfte.

»Wirst du nach Hause gehen, Lump versoffener, und den Haussegen pinseln! Der Zimmerstoffel wartet drauf. Ohne Haussegen kein Rüstfest, ohne Rüstfest kein Geld. Was sollen deine Kinder essen? Der Bäcker borgt nicht mehr!« schrie ein hoher Diskant, dem bald darauf ein verschleimter Baß antwortete:

»Scher' dich zum Teufel, du Vettel! Wenn ich dich erst beim Halstuchzipfel zu fassen kriege, dann schweigt deine Gänsegurgel für immer!«

»Komm' nur her, Eindarm! Glaubst du, daß ich mich vor dir Erbärmel fürchte? Wie einem Maikäfer reiße ich dir die Beine heraus, daß du lernst vor mir auf dem Bauche rutschen wie ein Ochsenfrosch!« war die Antwort.

Innocenz hatte genug von diesem gottgefälligen Ehegespräch gehört und ging weiter. Unterwegs fragte er sich, ob wohl in den Herzen dieses Paares vorzeiten ähnliche Flammen geglüht haben möchten, wie in dem seinen? Und wenn sie glühten, wie konnten sie verlöschen? Kann der Magen mit der Trivialität seiner Forderungen die Stimme des Herzens überschreien? Gedeiht die Liebe nur im gutgedüngten Mistbeet einer fetten bürgerlichen Existenz? Innocenz trug schwer ringend diesen Gedanken bis zu einer offenen Haustür.

›Hier werden die Leute wach sein!‹ dachte er und ging hinein. An der Schwelle maunzte eine Katze und wollte ins Zimmer zu dem Topf, der ihr Frühstück enthalten sollte. Das hatte sie mit Recht zu fordern, und wohlgemut turnte sie über die Füße des Arztes zum Ofen hin. Als sie nichts fand, gab es einen kläglichen Protest. Er wurde nicht gehört, obwohl ein Vertreter des Rechtes zur Hand war, denn eine Majestät atmete nebenan.

Im Bette neben der kranken Mutter lag unter einer schmutzigen Zudecke eine »indische Königstochter« vom gestrigen Abend. Ihr im Haare hingen noch einige matte Confettisterne, und eine Milchstraße von Stanniol lief von einem Ohr zum andern durch die zerzauste Frisur. Die schlummernde Hoheit schnarchte recht vernehmlich und träumte vermutlich von einem Siegeszug durch Männerherzen, während sie weder der Katze noch dem einen Manne, der sie so mit weit geöffnetem Munde liegen sah, begehrenswert vorkam.

Innocenz redete leise mit der Kranken, und diese gab mit gedämpfter Stimme Antwort, um die Schlafende zu schonen. Hinter dem Rücken des Arztes aber erhob sich ein weniger rücksichtsvolles, plätscherndes Geräusch und forderte Beachtung.

Da stand mit nacktem Oberkörper ein magerer Jüngling über eine Waschschüssel gebeugt und scheuerte sich den fetten Nubierglanz von Hals und Wangen. Er war gestern noch ein abessinischer Prinz und hatte wie alles, was weit her ist, vielen Anklang gefunden, aber heute hatte er unter seiner Würde und seiner Farbe viel zu leiden. »Man muß schon den Kopf wie ein rostiges Beil wider den Schleifstein drücken, wenn man wieder ein Mensch werden will,« sagte er ärgerlich. »Ein andermal setz' ich Hörner auf und stell' einen Germanen vor. Man kann die Schmierseif' sparen.«

Der Arzt war fertig und ging ein Haus weiter. Hier lag der Vater im Bett, die Mutter war in der Küche, und die »Kleopatra« vom Maskenball saß, einen Melkeimer zwischen den Knieen, im Stall unter der Kuh. Kleine Geschwister von ihr hatten sich in ihre Schleier gewickelt und schritten mit nackten Füßen voll königlicher Grandezza über die Diele, während ein junger Hund sich die Sache bequem machte und sich in der unbezahlbaren und annoch unbezahlten Schleppe nachziehen ließ.

Welch tiefer Fall von himmelhohen Illusionen herunter in eine Wirklichkeit, die nach Armut roch und Kuhstall. Dank dir, du Allerbarmer, daß du uns Farbe gegeben hast, unsere Gebrechlichkeit zu übertünchen, und die Nacht, um unsere Schande zu bedecken. Nur die Täuschung ist das Leben. Glücklich sind die Blinden. Wehe denen, die Augen haben und damit sehen!

Innocenz war einer von den Sehenden und einer von denen, die an den Kontrasten zwischen Sein und Schein ihre Weltverachtung wetzen, für die Masse ungenießbar werden und dem Alleinsein verfallen. Mit heißem Bemühen hatte er versucht, sich an die Herde zu gewöhnen, ihre Lasten zu tragen, ihre Genüsse zu teilen. Mitten im Schwarm war er auf sich gestellt und einsam geblieben. Es konnte keine Rede davon sein, daß er den Versuch fortsetzte. Hinaus in die Welt! war die Devise geworden. Käthchen Sommertag stand noch im Frühmorgen ihres Lebenstages. Bis die Sonne kam und sie ganz zur Jungfrau reifte, konnte der Tauber, der heute suchend aus der Arche aufstieg, heimkehren und die Kunde bringen, daß endlich ein trockenes Plätzchen gefunden sei.


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