Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Sechstes Kapitel

In den Räumen des Spitals und seiner Adnexen bis zum Holzstall herunter hatte sich der Ruhm des Innocenz Lorum ausgebreitet. Ja, er hatte sogar die Straße überschritten und war in die Entbindungsanstalt eingedrungen, die schämig zurückgezogen in einem Garten hinter weitgeästeten Kastanien stand.

»Zur Stunde ist leider Mangel an Material,« sagte die Oberwärterin ehrfurchtsvoll zum Kandidaten Lorum, »doch ist zu hoffen, daß die Aussaat der vergangenen Fastenzeit demnächst zur Ernte wird, Herr Musterkandidat!« und sie lachte ein wenig, und Innocenz lachte auch, so wie man lacht, wenn man eine überlegene Weltkenntnis besitzt und sich über nichts mehr zu wundern braucht.

»Abwarten, Schwester Agathe!« entgegnete Innocenz in kollegialem Ton, »noch hat der Himmel die bestimmte Zahl seiner Heiligen nicht, und bis dies erfüllt sein wird, muß er sich die Entbindungsanstalten als seine Lieferanten gefallen lassen.« Beide lächelten, sie über seinen Witz und er über den ihrigen.

»Sie sehen übrigens entzückend aus in der blitzblanken Lappenschürze, Schwester Agathe, fast verlockend. Sie sollten im zweiten Stock des Café ›Reichsadler‹ bedienen, wo's lustig zugeht, und nicht hier, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht,« so führte der Kandidat die Unterhaltung weiter, während er seine Handschuhe mühsam von den Fingern zog.

»So schäkern im Augenblicke der Gefahr kann nur einer, der wie Herr Lorum seiner Sache sicher ist,« bemerkte die Schwester mit einem verbindlichen Knix nach dem Kandidaten hin.

In diesem Moment sah man durch das offene Tor zwischen den mächtigen Stämmen der Kastanien eine voluminöse Gestalt einherschreiten, verschlossen und in sich gekehrt wie das Haus, dem sie zuschritt, und wie das Handwerk, dem sie diente.

»Der Alte!« flüsterte mit verschlagenem Blicke die Oberwärterin. »Viel Glück, Herr Lorum!« und mit glatten Schlangenbewegungen ihrer Hüften war sie wie eine Eidechse unter dem Aufbau der Freitreppe verschwunden. Der kurzsichtige ›Alte‹ kam schwankend mit einer Schlagseite nach rechts in den dunklen Treppenraum und lief wider den Kandidaten.

»Pardon!« stieß er hervor, als ob er sich entschuldigen wollte. Als er aber sah, daß er nur wider einen Examenskandidaten gelaufen war, wurde der Klang seiner Stimme härter.

»Sie sind zu dreien bestellt,« brummte er unwirsch, »wo bleiben die andern?«

»Ich will nach ihnen sehen,« erwiderte Innocenz dienstbereit und lief, während der Geheimrat weiter schwankte, nach dem Tore der Umfassungsmauer. Er sah die Straße hinauf und hinab, ohne etwas anderes zu bemerken als einen Bauer, der mit drei Schweinen unten in den Winkel einbog. ›Schweine bedeuten Glück!‹ dachte Innocenz, ›ich will sie an mir vorbeiziehen lassen,‹ und er lehnte sich nachlässig an einen der Türpfosten. Der Schweinetreiber kam langsam näher und lüftete grüßend einen zerknitterten Zylinder, der dem Kandidaten bekannt vorkam.

»Guten Morgen, Herr Lorum!« begann der Fremde die Unterhaltung, »haben Sie Ihre Knochen wieder soweit beieinand, daß Sie allein stehen können? Das freut mich! Einen andern hätt' das schon so geschlaucht, daß er gut und gern drei Wochen in einem Gestühle gewackelt wäre wie eine Armesünderglocke.«

Innocenz sah genauer zu und erkannte den Notabeneoja.

»Gott zum Gruß, Pankraz!« sagte er heiter. »Wohin mit den Karpfenschweinen?«

»Viel was Feineres, ›Yorkshire‹, Herr Doktor! Doch dabei können wir nicht stehen bleiben, wir müssen uns weiter entwickeln zu ›Berkshire‹. Wehe dem, der sich heutzutage nicht das Höchste zum Ziele setzt. Die Konkurrenz zermalmt ihn. Ihr müßt nämlich wissen, daß ich in der Firma Käthchen Sommertag Teilhaber geworden bin. Am Tage nach dem Scharmützel im Hohlweg von Birkenried hat mich der giftige Windhund, der Baldachin, aus dem Holderhofe gejagt. Notabene, seitdem bin ich in der Taubhausmühle das Faktotum, trage Euern Zylinder auf und füttere die Schweine. Kommt morgen abend zum Wirt Vierheller an der Bohnesmühlgasse, und Ihr könnt erproben, daß unsere Firma leistungsfähig ist und ein wahres Konfekt von Schweinefleisch liefert.«

Damit wandte er sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal auf dem Absatz herum wie einer, der etwas vergessen hat, faßte einen Westenknopf des Mediziners und flüsterte zutraulich: »Notabene, wäret Ihr nicht bereit, in die Firma einzutreten? Ihr könnt ja das Kurieren so nebenher betreiben. Der alte Kreispfiffikus Wackernagel hat, wie mir scheint, das letzte Heu auf der Raufe. Das Hornfleisch hinter den Ohren ist ihm eingefallen, und seine Nase ist so spitz, daß man sie zum Pfeifenräumer brauchen könnte. Sein Gaul wäre mir lieber wie er. Es ist ein williges Tier unter einer guten Hand, Herr Lorum. Eine Kokarde am Zylinder und ich wäre ein Herrschaftskutscher, der vor des Teufels Majestät auf dem Bock sitzen könnte.«

»Häng' die Sperrkette an das Rad deiner eingebildeten Kutsche!« mahnte Innocenz, mit dem Finger drohend, »soweit sind wir noch nicht. Erst muß ich noch durch das Wursthorn eines Examens gedrückt sein.«

»Wohl wahr!« seufzte Pankraz, »so will ich derweilen meine Schweine zu Vierheller treiben und sehen, ob was zu trinken für mich abfällt.« Und er sammelte die in der Straße verlaufenen Borstenträger und trottete hinter ihnen her das Pflaster hinauf.

Innocenz sah ihm nach und bemerkte, wie von oben herab eiligen Schrittes zwei Herren kamen, ein dicker und ein dünner, bei der Begegnung mit den Schweinen einen Augenblick stille hielten, sich mit einem Augurenschmunzeln ins Gesicht sahen und eiligst weiterzogen.

›Das sind meine Schicksalsgenossen,‹ dachte der Kandidat, und er hatte sich nicht getäuscht.

»Sie sind der Dritte im Bunde?« redete der Dicke den Wartenden an. »Ist der alte Wehevater schon oben?«

»Ja, aber nicht sehr gnädig gelaunt. Er hat es offenbar übel vermerkt, daß die Herren noch nicht da waren.«

»Hat er in seinen Jahren und in seinem Berufe das Warten noch nicht gelernt, dann verdient er nicht, daß er uns examiniert,« polterte der Fettwanst los. »Muß nicht jede Schwangere neun Monate warten, und müssen wir nicht warten, bis es ihm gefällig ist, uns bestehen zu lassen?« Mit diesen Worten trat er ins Haus, warf der Oberwärterin vor der Treppe seine Gummischuhe entgegen und tat überhaupt so wie einer, der sich nicht imponieren läßt. Die Aussicht, ein praktischer Arzt zu werden, schien für ihn wenig Verlockendes zu haben. Selbst dem examinierenden Geheimrat gegenüber blieb er kühl wie eine Hundsnase.

Er antwortete wie ein gelehrter Starmatz, der auf jede Frage ein und dieselbe Melodie pfeift, bis der Professor ärgerlich wurde und ihm ins Gesicht schleuderte: »Wenn Ihr Handeln von den Kenntnissen, die Sie hier entwickelt haben, geleitet wird, so brauchen Sie am Kreisbett nur dem Kindsvater die Zange auf den Kopf zu schlagen und Sie haben jedesmal eine Familie ausgerottet. Einmal sind Sie schon durchgefallen, denken Sie, daß ich Lust habe, ein drittes Mal für Sie zu schwitzen? Sie sind bestanden. Mag die Menschheit sehen, wie sie mit Ihnen fertig wird. Den andern Herren gratuliere ich von Herzen.« Mit diesen Worten erhob sich der alte Kliniker und ging aus dem Saale, in dem er während mehrerer Stunden Herz und Nieren der Kandidaten erforscht hatte.

»So waren die drei Schweine doch von guter Vorbedeutung,« sagte Innocenz aufatmend, als der Alte verschwunden war.

»Für Sie vielleicht,« entgegnete der Dicke, »was aber soll ich mit dem Dreifaltigkeitstitel: Praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer anfangen? Laufen kann ich nicht, ein Pferd zieht meinen Kadaver nicht vom Fleck, und für zwei habe ich kein Geld. Wenn ich irgendwo hinter einem Büfett einen Stuhl hätte, von dem aus ich Radieschen verkaufen könnte und geselchte Würste, ich glaube, dies wäre eine meiner Befähigung angepaßte Beschäftigung; für solch einen Heldenberuf könnte ich mich begeistern.«

Innocenz machte, daß er dem fetten Zyniker entkam und lief eiligen Schrittes die stille Straße hinauf.

So war er denn also fertig und ihm war die Frucht, die während eines neunjährigen Gymnasial- und sechsjährigen Universitätsstudiums gereift war, in den Schoß gefallen. Ob man ihm seine neue Würde wohl ansah? Es schien nicht so, denn die paar Straßenkehrer, die mit ihren Besen da herumhantierten, suchten unbeirrt von seiner hohen Gegenwart nach Zigarrenstummeln und hatten die Augen an der Erde wie gestern und vorgestern, als Innocenz noch Student war. Und drüben auf dem Fahrdamm der Italiener riß Tüten von seinem Lattengestell und packte für seine Kunden heiße Maronen hinein wie alle Tage. Da war niemand, der bei der jauchzenden Kunde: ›Innocenz Lorum hat sein Examen bestanden,‹ etwas anderes gesagt hätte als: ›Was geht das mich an, mag der Narr sehen, was er nun anfängt.‹ Je mehr Menschen an dem neugebackenen Arzte achtlos vorbei eilten, um so klarer wurde es ihm, daß sein großer Erfolg für diese alle keine Bedeutung habe, und was vordem erhaben schien, verlor selbst in seinen Augen an Wert. Ihm war es wie einem Kinde, welches in seinem Forscherdrang seine Puppe zerbrach und nun mit Enttäuschung sieht, daß in dem lieben Kleinen, das so holdselig blickte und die Augen öffnen und schließen konnte, nichts steckt als ein Häufchen Sägemehl. Ja, wenn jemand da gewesen wäre, der sich mit ihm gefreut hätte, dann hätte er vielleicht selber an die Realität seines Glückes glauben können.

Innocenz dachte schmerzlich bewegt an seine Eltern. In vielen bösen Tagen seines Lebens hatte er sie nicht so vermißt, wie heute an dem einen guten. Sein Triumph wäre ja auch der ihre gewesen, seine Freude die ihre. Jetzt, wo erreicht war, was sie entbehrungsvoll vorbereitet hatten, lagen sie draußen, keiner Freude fähig, in ihren Gräbern. Das Leben wollte ihm ein Fest geben, und er saß einsam am gedeckten Tische.

Einen Augenblick dachte er daran, zur Mutter Gutbrod zu gehen und da zu Nacht zu essen. Die freundliche Alte hätte gewiß ein Wort des Lobes oder einen Glückwunsch für ihn übrig gehabt. Allein, wer konnte es erraten? Vielleicht hatte ein Kellner aus einer Zigarrenkiste genascht, oder war mit einer Suppenschüssel über die Schwelle ins Zimmer gefallen, dann konnte der Anspruchsvollste von der Guten kein freundliches Wort verlangen. Innocenz unterdrückte mit der Sehnsucht nach einem anerkennenden Zuspruch sogar noch ein recht prosaisches Hungergefühl und ging zu Bett.

Am nächsten Morgen genau um fünf Uhr fing der Wecker, zur Pünktlichkeit erzogen, auf dem Nachttisch zu lärmen an. War der über den Gang der Dinge schlecht unterrichtet! Was sollte der neugebackene Arzt so früh aufstehen und über schweinsledernen Folianten Licht verbrennen? Die Zeit, wo die Bücher ihm Führer waren, lag hinter dem ausgewachsenen Mann. Jetzt galt es, das Gelernte in reale Werte umzusetzen zum Wohle der Menschheit und zum eignen. Doch dazu war vor der Hand keine Gelegenheit. Innocenz hielt also den Kopf in dem Spalt zwischen Kissen und Zudecke, zog die Waden an die Schenkel herauf und döste gelangweilt in die erwachende Tageshelle hinein. Der Wecker zählte noch ein paarmal halbe und ganze Stunden her, aber nur bescheiden, ohne zu trommeln. Er hatte das Seine getan. Wer nach dem polternden Gelärm auf sein stilles Zureden nicht hören wollte, mochte es bleiben lassen. Er war Mahner, nicht Gerichtsvollzieher. Als er neunmal mit dem Hämmerchen auf die Glocke tupfte, erhob sich Innocenz zum ersten Male als Arzt und trat vor seinen Waschtisch. Ihm war zumute, wie an einem hohen Feiertage. Wie vor einem solchen und wie vor dem Tage, der ihn auf die Mensur stellte, begann er an sich selber ein großes Reinigungsgeschäft. Das Hemd war bis zur Taille hinabgesunken. Was tausend Sprüche in den Haremsbauten der Frau des Moslim von Mohammeds Körper preisend rühmen, besaß er und selbst das weiche Schaumhaar über dem Brustbein fehlte nicht. Wenn der Arm sich regte, spielten über den Rippen kräftige Muskellager, deren Bewegungen eine weiche, elastische Haut folgte und sie in zarte Wellenlinien auflöste. In der Tat, Innocenz war ein edles Wild, nach dem auch eine verwöhnte Diana, die nach Männern jagen ging, den Jagdspeer werfen konnte. Schönheit und Kraft hatten gemeinsam diesen Apollo gemeißelt, und selbst die Narben, die von den Klingen seiner Gegner in dieses Götterbild gezogen waren, taten dem ästhetischen Empfinden des Beschauers keinen Abtrag.

Innocenz selber war sich seiner Schönheit nicht bewußt. Von seinem Körper kannte er nur die Backen, die er mit dem Rasiermesser vor einem Handspiegel zu mißhandeln pflegte. Aber die Luft und das Wasser kannten ihn ganz. Sie mischten sich, verliebt in ihn, zu weißen glänzenden Schaumperlen und liefen schmeichelnd an ihm nieder. Eine feuchte, mollige Wärme stellte sich ein und verwandelte die Alabasterweiße in ein zartes Rosa wie vom Blatte der wilden Rose. Rasch lief ihm das Blut durch die Adern. Mut und Lebensfreude wurden wach. Er fühlte sich wohl wie ein Wiesel. Aber als er sich ankleidete, kamen wieder traurige Gedanken. Ihm war es, als ob das Feierkleid des Herrenmenschen nun nicht mehr für ihn da sei, als ob er in die Schuppjacke des Arbeitssklaven steigen müsse, dem keine andere Wahl bleibt, als zu schuften oder zu hungern. Das Ideal seines Berufes, das all die Jahre her, wo er weit von ihm weg war, so lockend auf ihn herniedergeschaut hatte, sah ihn heute, wo er ihm nahe stand, so leichenkalt und unerbittlich an, wie ein Bild von Sascha Schneider. Selbst der Gedanke an Käthchen Sommertag hatte heute nichts Erhebendes und nichts Befreiendes, denn neben ihm stand als kategorischer Imperativ das »Muß« und wies höhnend auf ganze Kamelslasten, die Innocenz schleppen sollte. Der Gedanke, daß er heute, wo er doch nichts mehr zu tun hatte, einmal nach Birkenried gehen könne, kam dem jungen Manne wohl, aber er drängte ihn zurück. Er war froh, daß seine Beziehungen zu dem schönen Kinde noch lose waren, denn noch hatte die vorschnelle Zunge in die Liebeserklärungen der Augen und Hände kein verpflichtendes Wörtchen dareingeredet.


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