Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Achtes Kapitel

Allzu pomphaft sah es nicht aus, als Innocenz Lorum seinen Auszug aus der Universitätsstadt bewerkstelligte. Vorm Hause hielt in feuchtem Schnee eine im Biedermeierstil gezimmerte Droschke. Vor ihr ein wahres Ecce homo-Bild von einem Pferd, das den Kopf hängen ließ und mit Besorgnis die wenigen Wagenspuren zählte, die der Fuhrwerksverkehr in den Neuschnee gezeichnet hatte. Auf dem Bock saß neben einem Schließkorb in verdrießlicher Enge ein Klumpen schwarzer Schafwolle, aus dem eine rote Säufernase mißvergnügt und naß in den kalten Morgennebel starrte.

»So kann's denn losgehn!« rief eine kräftige Männerstimme, während eine elastische Gestalt sich in die Kutsche drängte und die Glasscheibe hochzog. Und es ging auch los, aber wie! Der Wagen schlug und schotterte, als ob er über sämtliche Knittelverse gezogen würde, die jemals im Simplizissimus und anderen Witzblättern gestanden haben. Die Wagentür schlotterte und übersah hochherzig, daß kleine Windstöße den Schnee vom Boden aufhoben und ihn wie durch ein Mehlsieb auf die Schenkel des Fahrgastes streuten. Von unten herauf kam durch weite Ritzen ein belebender Luftzug, der die Beine wie beim Orgelspiel zu musikalischen Leistungen zwang, wenn die Zehen nicht erfrieren sollten. Mein Gott, so hatte sich Innocenz Lorum seinen Einzug ins Land der Philister nicht vorgestellt. Was bietet nicht die Kirche dem, der sich dem Altare geweiht, an Kerzenschimmer, Weihrauchwolken, Pracht der Gewänder und Hallelujagesängen, und was hatte er, der Arzt? Nicht einmal das ›Bemooster Bursche zieh' ich aus‹ tönte hinter ihm her. Mit der Romantik war's vorbei. Wäre es nicht am Ende klüger gewesen, seine Kraft in den Dienst der Seelen zu stellen als der Leiber? Innocenz war sehr nachdenklich geworden, und trübe Gedankennebel legten sich melancholisch über seine Zukunft.

Endlos zog sich der Weg hinein in die weiße Öde. Die Straße stieg. Der Schnee wurde trockener und weinte unter den Radreifen ein Klagelied, wie es selbst Jeremias auf den Mauern des zerstörten Jerusalem nicht herzbeweglicher jammern konnte. Innocenz verfiel zuletzt in einen Halbschlummer träumerischer Erinnerungen, aus deren fahlem Zwielicht nur zuweilen schärfer gezeichnete Gestalten heraustraten: seine Eltern, der magere Jesuitenpater, die Mutter Gottes aus der Nikolauskapelle und etwas zaghaft Käthchen Sommertag.

In dies kalt verschwommene Wogen blutloser Phantome hinein tönte plötzlich das »Pink«, »Pink« der Kleinhämmer, das aus einer Schmiede zu kommen schien. Innocenz rappelte sich auf, zumal da er noch aus der Schafswolle auf dem Kutschersitz eine Stimme rufen hörte: »Das wäre es wohl, das pestverfluchte Eskimodorf? Renntiere sollte der haben, der hierher muß, und nicht einen zarthäutigen Vollblut-Trakehner, wie der hier in der Scherendeichsel.«

Einige Männer, die unter dem Vordach der Schmiede standen, lachten und riefen dem Kutscher zu: »Häng' deinen Araber nur gleich an den Fleischhaken eines Metzgers oder doch an einen Flaschenzug, damit er nicht irgendeinem auf die Hühneraugen fällt,« und ein Schmiedgeselle kam näher, legte die Hände an die Hinterbacken des Rosses und schob das Knochengestell barmherzig unter das Vordach.

»Paß auf!« rief der Kutscher gereizt, »wenn der dir die Nas' putzt, brauchst du im Leben kein Sacktuch mehr, und kein Knochenfranzel flickt dir deine Eselskinnbacken wieder so zusammen, daß sie zwischen deine zwei gekochten Schweinsohren hereinpassen.«

Während diese höfischen Redensarten ausgetauscht wurden, stieg der Fuhrmann vom Bock, holte den Schließkorb herunter und sagte: »Alles in Ordnung, Herr Doktor, bis aufs Bezahlen!« Und er streckte Innocenz eine Hand entgegen, die in einem Fausthandschuh versteckt war. Der Fahrgast suchte mit steifen Fingern in seinem Geldbeutel herum und bezahlte, während seine Füße mehr wie eifrig den Lehmboden der Schmiede stampften.

Derweilen war der Notabeneoja zu der Gruppe getreten und faßte den Henkel des Korbes, auf dem der Kutscher saß. »Auf!« sagte er, »du Faultier, und sorge, daß der Gaul was zu fressen kriegt, ihm hängt vor Hunger die Zunge zum Maul heraus.«

»Hab' keine Sorg'. Den Mucker kennst du nicht, das ist Frömmigkeit von dem. Siehst du nicht, daß er vorne seine Hosen durchgekniet hat?«

Zwei rußige Gesellen, die hinten um die Glut der Esse standen, lachten und zeigten weiße Zähne in den schwarzen Gesichtern. Der eine aber nahm ein rotglühendes Eisen aus dem Feuer und tat so, als ob er damit ein großes Loch in den Rosselenker hineinbrennen wolle. Da gab der Klumpen nach und erhob sich. Pankraz griff zu, warf den Korb auf die Schulter und schritt durch den Schnee einem wettergebleichten Hause zu, das die Dienstwohnung des Arztes vorstellte. Innocenz folgte ihm. Bald standen die beiden in einem Zimmer, das an Komfort der Ausstattung und an molliger Behaglichkeit den Vergleich mit dem Zeugenzimmer eines königlich preußischen Amtsgerichts verwegen aufnehmen konnte, selbst dann noch, als der Schließkorb breit in seiner Mitte stand. Innocenz fröstelte in dieser Öde und fuhr zusammen, als ob er aus seinen Kleidern fallen wollte.

»Nur Geduld,« sagte Pankraz, »ich gehe nach Holz. Wenn erst die Scheite im Ofen singen und auf dem Tische eine Schüssel dampft, dann ist das Schlimmste überstanden.« Und er ging und kam wieder, und die Frucht dieser Gänge war bald ein lichter Schein, der aus dem Ofenloche drang und beweglich auf der Diele spielte. »Nun etwas, um dem Magen einzuheizen,« warf der Bursche leicht hin und eilte nach einem Imbiß ins Dorf.

Innocenz, verfroren wie er war, genoß den ersten Bissen mit Andacht und vertiefte sich dann mit Gründlichkeit in den Inhalt mehrerer Schüsseln, bis er überall den Boden sah. Pankraz machte den müßigen Zuschauer, verstieg sich aber nebenbei ungefragt zu allerlei kostbaren Bemerkungen, für die er nicht bezahlt wurde. »Kochen kann sie, und Kochkunst allein macht das Sakrament der Ehe genießbar. Vielleicht, vielleicht solltet Ihr es doch versuchen, sie dem Windhund abzujagen, und wenn Ihr einmal einen Brautführer nötig habt, ich und mein Halbzylinder stehen zur Verfügung.«

»Von wem redest du?« fragte Innocenz.

»Ihr seid zu klug, als daß man es Euch sagen müßte. Wenn Ihr es aber doch wissen wollt, so betrachtet nur den Löffelstiel.« Pankraz ging. Innocenz aber folgte seinem Rat und fand den Namen ›Käthchen Sommertag‹ ins Silber geschnitten.

Der Abend verging unter Richten und Scheuern. Der junge Arzt kam sich vor wie Robinson Crusoe, wie einer, der, vom Schicksal in die Einöde verschlagen, die ganze kulturelle Entwicklung der Menschheit vom Feuerstein bis zum Streichholz qualvoll selber durchzukosten hat. Aber es ging, und mehrere Stunden zuvor, ehe der Sonntag den Samstag verdrängte, war sogar die Petroleumlampe ausgepackt und füllte das Zimmer mit erträglichem Glanze. Durch die halb erblindeten Scheiben drang der Schein ins Freie und zeichnete auf die weiße Schneedecke ein großes, helles Prisma, über das ein jeder hinwegmußte, der seinen Samstagsrausch nach Hause trug. So konnte die Anwesenheit des ›Neuen‹ nicht verborgen bleiben, und Innocenz durfte getrost auf baldigen Zuspruch in seinem Laden hoffen.

Neu gestärkt und voller Hoffnung war Lorum am nächsten Morgen erwacht und fing mit Befriedigung an, die unziemliche Nacktheit seiner Wände mit Postkarten zu überkleben, als ein plumpes Klopfen vor der Tür seine Aufmerksamkeit erregte. Leicht war es, zu erraten, daß draußen einer stehe, der die Stiefel wider die Türbekleidung stoße, um sauber und trocken im Zimmer erscheinen zu können. Wennschon dies Tun an sich wohlgemeint und löblich war, so war es doch derartig nachhaltig und intensiv, daß Innocenz fürchtete, es möchte ihm das Wandmuster von der Mauer fallen. Er entschloß sich, die Zeremonie abzukürzen und öffnete die Tür. Ihm gegenüber stand einer, der nicht nach dem Senkblei gebaut war, das sah man deutlich, obwohl er mehr wie die Hälfte seines Rumpfes mit einer indigoblauen Schürze verwickelt hatte.

›Der erste Patient,‹ jubelte es im Innern des jungen Arztes, während sein Äußeres in virtuoser Weise zu katzenbuckeln begann. All diese Gelenkigkeit machte aber auf ihn, dem diese Ehrungen galten, keinen sichtlichen Eindruck, denn er blieb steif, behielt den Hut auf dem Kopfe und legte stumm seine Faust neben seine Nase ins Gesicht.

»Wollen Sie nicht gefälligst eintreten?« unterbrach Innocenz die Pantomime. Der Angeredete war dazu bereit, fing aber zuvor noch einmal an, seine Bügeleisenschuhe energisch wider die Türpfosten zu schleudern.

›Du wirst geschoben sein wollen wie eine Sandkarre‹ dachte Innocenz, faßte den Mann rücklings an der Schulter und erlebte die Genugtuung, seinen ersten Kranken bald darauf neben seinem Ofen, inmitten eines kleinen Sees, der aus den umgekrempelten Hosenbeinen herausgelaufen war, sitzen zu sehen.

»Ihr kommt von weit her?« begann Innocenz, nach einer Einleitung suchend.

»Nicht doch, ich wohne nebenan,« sagte der Angeredete, »aber ich bin schon seit Stunden durchs ganze Dorf gerannt, von einem Wirtshaus ins andere, immer hinter dem Knochenfranzel her und kann ihn nirgends auftreiben. Möchten doch die Schmerzen, die in meinem Kiefer nagen und bohren, dieser Saufeule zwischen die Rippen fahren. Doch was ist zu machen, da ich ihn nicht auftreiben kann, so will ich es ins Teufels Namen einmal bei Euch probieren.«

Obwohl der junge Arzt keinen Grund hatte, sich durch so viel Vertrauen geschmeichelt zu fühlen, so sagte er doch: »Daran haben Sie wohl getan!« und schritt über den See hinüber, um seinem Klienten in den Mund zu sehen, während er eine meterlange Zahnzange in seinem rechten Rockärmel zu verbergen suchte. Der Mann auf dem Stuhle sah ihn mit bangem Mißtrauen gefährlich näher rücken, sprang auf, und bevor Innocenz noch ganz bei ihm war, hatte er dessen beide Hände mitsamt der Zahnzange krampfhaft umklammert.

»Raus soll er?« fragte er mit verzweiflungsvollem Blick. »Können Sie mir nicht in anderer Weise helfen, dann schon lieber zum Knochenfranzel!« Und mit energischen Schritten ging er der Türe zu.

Innocenz war in seiner Würde gekränkt und warf die Zange auf den Tisch. Der Abgehende drehte sich um und sah dem Arzt bekümmert ins Gesicht. »So was darf Sie nicht verdrießen, Herr Doktor, Sie sind Anfänger und ich trage Ihnen auch sicher nichts nach. Ich möcht' im Gegenteil mit Ihnen auf dem besten Fuß leben, und wenn Sie ein Paar Stiefel zu sohlen haben oder neue brauchen, so finden Sie den Schusterseppel gleich nebenan, zwei Häuser von Ihnen. Also wie gesagt, ich trage Ihnen nichts nach, und loben Sie mein Handwerk, so will ich Ihres preisen.« Damit hatte er die Klinke in die Hand genommen und war hinter der Türe verschwunden.

Der Medikus hätte vor Ärger in die Lüfte fahren mögen, aber er tat es doch nicht. Er bückte sich vielmehr und trocknete mit Sackleinwand den See auf, den der Schuster vor seinem Ofen zurückgelassen, als erstes, was ihm seine ärztliche Tätigkeit eingetragen hatte. – Die Alltäglichkeit mit ihren unverschämten Forderungen war an der Arbeit, eine freie Seele unter das Joch der Notwendigkeit zu beugen. Was tat Innocenz mit den leuchtenden Vorbildern aus der Geschichte Roms und Athens? Der Unterricht eines Dienstmädchens im Scheuern und Kaffeekochen hätte ihn mehr gefördert als die überspannte Weisheit aller Gymnasiallehrer mit Einschluß des Oberschulrats. Er war ja nicht berufen, von der Rostra des Forums eine Rede zu halten an die Quinten, noch die Schiffe zu ordnen zur männermordenden Schlacht. Wozu die Gesetze der Rhetorik und der Strategie? Was er hätte brauchen können, war etwas Talent zum Schauspielern und die Kenntnis kleiner, schmutziger Geschäftskniffe, und die hatte er bei Herodot und Xenophon nicht gelernt. Um von sich die schweren Gedanken zu schütteln, ging Innocenz ans Fenster, kratzte mit dem Fingernagel aus den Eisblumen der Scheiben ein Loch und vergrößerte es durch den warmen Hauch seines Mundes.

Draußen huschten die Menschen vorüber, die aus der Kirche kamen, verfrorene, wuselige Gestalten, denen die Füße eingeschlafen waren, während die Ohren dem Worte Gottes lauschten. Die hatten's gut. Zwei Mahlzeiten nacheinander, eine für den Geist und die andere für den Körper, und jedesmal das Menü vorher bekannt, so daß man tagelang an der Vorfreude sich ergötzen konnte. ›Wenn Ihr nicht werdet wie die Einfältigen,‹ dachte Innocenz und hatte damit nachträglich noch den Text gefunden für die Sonntagspredigt, die er sich selbst seit einer Stunde gehalten.

Inzwischen ging wieder einmal die Tür auf, und Pankraz Überdies trat ein und schürte das Feuer. »Der Schusterseppel war da,« sagte er, vorm Ofen knieend, »und ist zum Knochenfranzel gegangen. Viel haben Sie an seiner Kundschaft nicht verloren. Die Untugend des Bezahlens hat er sich abgewöhnt, aber die Schuhe hätte er Ihnen zweifellos gut gesohlt und einem anderen für neu verkauft. In der Art schlägt er sich schlecht und gerecht durchs Leben und hat den Gerichtsvollzieher zum Narren. Der liebe Herrgott hat vielerlei Kostgänger.« –

Das taktfeste Geläute eines Schlittens, das näher und näher kam, unterbrach seine Rede. Pankraz stand auf und ging der Bequemlichkeit halber an das Loch, das der Arzt in die Scheibe gehaucht hatte, und sah hinaus. »Ich hätt' mir's denken können, daß es der Windhund ist. Da jagt er die Pferde ab, damit sie seine Fratze an allen Fenstern vorbei durchs Dorf tragen, und dann läßt er die abgerackerten Tiere ohne Decken vor der Wirtschaft stehen, bis sie steif sind. Mit diesem Balduin Hebenstreit haben wir zwei noch eine kleine Rechnung zu begleichen, bei welcher Gelegenheit wir ihm mit ungebrannter Asche das Gebot: ›Du sollst kein falsches Zeugnis geben‹ aufs Fell schreiben. Läuft das Großmaul hier in den Häusern herum und erzählt: ›Der junge Doktor wäre auch nur so so durchs Examen gekommen, und wenn nicht einer von den Professoren gewesen wäre, bei dessen Wiege des Doktors Großmutter als Schenkamme gesessen, so wäre er wohl gänzlich durchgefallen,‹ und dabei zuckt er mit den Achseln und zieht das Maul in Fransen, als ob es das Ende einer Leberwurst wäre.«

Weiter kam Pankraz nicht. Er klopfte etwas Sägemehl von seinen Hosen und ließ den jungen Arzt allein mit einem Gefühl, als ob er in einen Haufen Disteln gefallen wäre. Überall fühlte er kleine, beißende Stiche, gegen die man sich nicht mit Faustschlägen wehren konnte, die man aber auch nicht kratzen durfte, weil sie dann nur um so heftiger brannten. Dieses plötzliche ganz auf sich selbst Gestelltsein, ohne den Rat und die wohlwollende Führung eines erfahrenen Vorgesetzten, hatte – das fühlte Innocenz zum ersten Male mit Bitterkeit – seine bedenkliche Seite. Gleich im ersten Kapitel seines aufgeschlagenen Lebensbuches ging es bunt genug her. Was würde sich in den Fortsetzungen noch alles finden!


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