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XXIX

»Aus Melhut, Kličov, Tilmitschau und Hochwartl werden je vier, aus Putzeried, Medaken, Meigelshof und Possigkau je sechs, acht aus Klenč und je zehn aus Trasinau und Aujezdl nach Pilsen gehen, um die Strafe dieses Rebellen Kozina zu sehen. Jeder nehme seine Kinder, Knaben und Mädchen mit, die das, was sie in Pilsen sehen werden, bis an ihr Lebensende im Gedächtnisse behalten könnten.«

So lautete der Befehl des Herrn von Albenreuth, womit allen Erbrichtern strenge aufgetragen wurde, diese Massregel in ihren Dörfern pünktlich auszuführen, damit sich die Choden und ihre Kinder wohl merken und den späten Geschlechtern erzählen können, wie der Widerstand und die Rebellion gegen die Obrigkeit von Chodenschloss bestraft wurden.

Lamminger zögerte ein wenig, bevor er diesen grausamen Befehl erliess. Jetzt, da eine lange Reihe von Chodenwagen durch das finstere Tor in Pilsen ankam, war es jedermann klar, wie sehr er ihnen den Gehorsam beigebracht hat. Wie er es angeordnet hatte, versammelten sich alle in Taus und traten von hier bald nach Mitternacht, von Beamten von Kauth und Chodenschloss begleitet, den traurigen Weg nach Pilsen an. Es war ein düsterer eiskalter Nachmittag, als sie die Kreisstadt erreichten; aus allen Häusern liefen die Leute auf die mit Neugierigen ohnedies schon überfüllte Gasse, um die herkommandierten unfreiwilligen Zeugen, deren Ankunft das Gerücht bereits angesagt, zu sehen. Neugierig, hie und da auch mitleidsvoll sah man sich die stattlichen Choden in ihren Pelzen, Mänteln und Schafpelzröcken an. Sie sassen finster und stumm auf ihren Wagen, ihre Kinder, Knaben und Mädchen mitführend. Die aus den entfernten Gebirgsdörfern stammenden Kinder betrachteten voll Verwunderung die ihnen so ungewohnten Dinge um sie, die prächtigen Häuser, die versammelte bunte Volksmenge, die mit den Fingern nach ihnen wies.

Der Chodenschlosser Herr konnte zufrieden sein. Hätte er aber die Reden gehört, die in allen Chodenhöfen und Hütten nach der Verkündigung seines Befehles geführt wurden, hätte er die Flüche und Verwünschungen vernommen! Könnte er jetzt diesen auf den Wagen sitzenden Bauern in die Seelen blicken und in denselben lesen, was sie sich von ihm denken! Sie fuhren wohl, doch im Geiste wussten sie nichts von seinem Befehle. Sie fuhren, um den wackeren Verteidiger ihrer Rechte noch einmal zu sehen, um von diesem Märtyrer Abschied zu nehmen. Würde so Lamminger gewusst haben, dass man den ganzen Weg hindurch von niemand anderem als von Kozina sprach, wie man ihn bedauerte, hochpries und bewunderte! Der Verwalter von Kauth und der Burggraf, den sie einst gefangen hielten, merkten dies wohl; sobald sie aber mit ihrem Pferde knapp zu den Wagen einlenkten, verstummte jedes Gespräch und die Choden blickten stumm und finster zur Erde, ohne sich nach den Beamten umzusehen.

Auf dem letzten Wagen, wo der alte Šerlovský mit Pajdar sass, gedachte man auch des Syka, des jungen Šerlovský, des wilden Brychta und des lustigen Čtverák, denen es in diesem Augenblicke, trotz ihrer Eisenketten, besser erging, als allen übrigen. Pajdar sprach diesen Gedanken aus und der alte Šerlovský ergänzte ihn durch die Bemerkung, am besten habe es Matthias Přibek.

In Pilsen gab es ein überaus reges Leben. Von allen Seiten strömten zu Wagen und zu Fusse grosse Volksmengen zusammen, um der in Prag und in allen Kreisstädten des Königreiches Böhmen kundgemachten Hinrichtung des Chodenbauers, die jetzt erfolgen sollte, beizuwohnen. Die Gassen wimmelten von Leuten und in der Menge blitzten die Waffen und schimmerten die lichten Waffenröcke der die Stadt durchziehenden Soldaten.

Lammingers Beamten führten die Choden in das für sie bereits bestellte Gasthaus. Der alte Šerlovský wollte, nachdem er etwas zu sich genommen hatte, in die Stadt gehen, kehrte aber sofort ganz erregt mit der Nachricht zurück, dass man ihn nicht fortgelassen habe und dass sie von Soldaten bewacht seien.

Als er sodann mit Pajdar und einigen Schöppen den Kauther Verwalter Koš ersuchte, man möge ihnen den Ausgang gestatten, da sie sich gerne den Zutritt in den Kerker erbitten möchten, um Kozina das letzte Lebewohl zu sagen, fuhr sie Koš heftig an:

»Morgen werdet ihr ihn schon sehen. Zu ihm dürft ihr nicht. Das wäre so etwas für euch! Damit er euch zu guter Letzt noch eine Predigt hält und euch mit seiner Rede erst recht den Kopf verdreht, wie er es ohnedies schon tat. Habt ihr noch nicht genug? Wollt ihr noch einmal anfangen und euch noch mehr heimleuchten? Ihr dürft nicht fort, so ist mir's befohlen worden.«

Sie waren im Innern empört. Da sassen sie jetzt mit blossen Fäusten in einem Käfig! Sie schwiegen, finster vor sich blickend, und sprachen sodann wieder über Kozina, sein Weib und seine Mutter. Ob man wohl diese Ärmsten zu ihm lasse?

Die hatten den traurigen Weg früher, vor drei Tagen schon, angetreten. Jiskra Řehůřek spannte ein von Kozina selbst gezüchtetes Paar schöner Braunen ein und die unglückliche Bauernfamilie bestieg mit Dorla den Wagen. Der alte Wolf lief ihnen nach und wurde der treue Wächter über Bitte des kleinen Paul auch in den Wagen genommen.

»Er hatte ihn lieb,« sprach Jiskra und machte dem alten langhaarigen Wachhunde, der noch der guten Rasse der Chodischen Wächterhunde entstammte, neben sich ein Plätzchen. Hinter dem Wagen der Kozinas verliess noch ein zweiter Aujezdl; es sassen darin einige älteren Nachbarinnen, die wie Hančí und die alte Kozina mit Trauerröcken und weissen Trauertüchern bekleidet waren. Sie fuhren nur aus dem Grunde, damit Kozinas Weib und Mutter in diesen schrecklichen Augenblicken nicht verlassen seien. Auf demselben Wagen sass auch der alte Přibek, der Vater des seligen Matthias, den Manka vergebens zu Hause zurückzuhalten sich bemühte.

Als nun eben Šerlovský und Pajdar mit den übrigen in Pilsen von ihnen sprachen, trat plötzlich Řehůřek Jiskra unter sie. Sie sahen ihn ungemein gerne und drängten sich sofort an ihn heran. Vorsichtig um sich blickend, erzählte er, es sei ihm nur sehr schwer gefallen, herzukommen, er hätte den draussen stehenden Soldaten durch sein Chodenkleid getäuscht. Er teilte ihnen mit, Hančí dürfte jetzt mit den Kindern und der Mutter zweimal des Tages in den Kerker und er sei mit ihnen auch schon dort gewesen. Auch erzählte er, dass Kozina jetzt ruhig sei und noch Weib und Mutter tröste.

»Und wie er seine Kinder liebt! Tränen steigen einem in die Augen, wenn man hört, wie er mit ihnen spricht, wie er sie streichelt und küsst und wie er Hančí ermahnt, sie rechtschaffen zu erziehen und sie auch an den Vater zu erinnern, damit sie seiner nicht vergessen – damit aus dem kleinen Paul ein echter Chode werde.«

Alle waren ergriffen und der Dudelsackpfeifer fuhr nach einer kleinen Pause fort:

»Er sprach von euch und bittet euch, sollte er jemandem wehgetan haben, ihr möget ihm verzeihen. Auch sollt ihr stets euerer alten Chodenrechte eingedenk bleiben. Er fragte auch, ob Lomikar in der Stadt sei, und als ich ihm erwiderte, dass er vorgestern so wie wir ankam, sprach er zu sich: »Er kam, um mich anzuschauen. Lieber Gott, verleihe mir morgen Kraft, auf dass mich dieser nicht noch verhöhnt!«

Bei dieser Gelegenheit erinnerte der Dudelsackpfeifer an eine Begebenheit, die sich vorgestern, als sie sich Pilsen näherten, ereignete. Er erzählte, wie sie knapp am Stadttore mit Lamminger, der gleichfalls dort ankam, zusammentrafen. Als der alte Přibek erfuhr, wer da in der Nähe sei, sprang er plötzlich im Wagen wie ein Jüngling auf und, Lamminger mit geballter Faust drohend, brach er in Schmähungen aus. Manka und die Weiber hatten ihre liebe Mühe, um den Alten zurückzuhalten und ihn zu beschwichtigen; es sei noch ein Glück, dass es dieser Chodenschlosser Henker nicht bemerkt hat.

Der erregte Dudelsackpfeifer erzählte auch, wie sie in Kozinas Kerker kamen und der alte Wolf seinen Herrn sofort erkante.

»Ihr hättet ihn sehen sollen, wie er vor Freude schnurrte, herumsprang und Kozina leckte; als wir sodann fortgingen, konnten wir das Tier gar nicht wegbringen, er wollte durchaus nicht hinaus – und so blieb er denn dort.«

»Gehst du noch einmal in den Arrest?« fragte Šerlovský. Jiskra bejahte, er werde sicher noch hineinkommen. Da baten ihn alle wie um die Wette, er möge von jedem Grüsse ausrichten und hervorheben, wie es ihnen weh tut, dass sie von ihm nicht Abschied nehmen können. –

 

Die Abenddämmerung eines Novembertages hüllte die königliche Stadt Pilsen in ihre Schleier ein. Es war ein frostiger Abend und von Zeit zu Zeit pfiff der Wind. Der Ringplatz war wie ausgestorben, überall war es still und öde. Draussen war nirgends ein Licht; die Häuser, das dunkle, hohe Rathaus, ihm gegenüber die imposante, mitten auf dem Ringplatze stehende Kirche, alles war von schwarzen Schatten überflutet. Durch die gotischen Kirchenfenster drang wehmutsvoll der flackernde Schein des ewigen Lichtes. Vor dem Rathause ging ein im Mantel gehüllter Wachtposten auf und ab. Seitwärts standen einige Weiber in grauen Chodenpelzen. Schweigend und fast unbeweglich blickten sie gegen die Kirche, deren schwarzer spitzer Turm sich in der dichten Finsternis verlor. Plötzlich wandten sie sich, wie auf ein gegebenes Zeichen, nach rechts zum Rathause, wo das Tor knarrte. Es traten hier zwei Frauenspersonen, von denen jede ein Kind trug, heraus. Die Chodinnen, unter denen auch Manka Přibek war, schritten ihnen – Hančí und der alten Kozina – direkt entgegen. Beide kehrten aus dem Kerker, in dem sie heute beim Vater und Sohn den letzten Abend verbrachten, zurück. Den letzten Abend! Und nie wieder! Nie mehr kehren die Abende wieder, an denen alle hübsch beisammen sassen, Hančí an der Hängewiege sang, Jan mit dem kleinen Paul schäkerte, und alle so zufrieden und glücklich waren!

Hančí sah die Weiber ganz verstört an. Es wäre wahrlich kein Wunder, dachte die alte Buršík bei sich, wenn Kozinas Weib und seine Mutter wahnsinnig würden!

Die Chodenweiber umringten sie, um sie in ihre Wohnung zu führen und die Kinder tragen zu helfen, die ihnen auf den Armen eingeschlummert waren. Hančí wollte nicht in die Wohnung gehen, sie halte es dort vor banger Angst nicht aus, es falle dort alles auf sie. Vergebens wurde ihr zugesprochen, endlich mussten sie doch zwei Frauen unter den Armen fassen, um sie fortzuführen. Als sie an der Kirche vorbei kamen, entriss sich ihnen plötzlich die alte Kozina, warf sich beim Kirchentor auf die Knie und begann zu weinen und zu beten. Hančí kniete neben ihr nieder und die traurig und mitleidsvoll über ihnen stehenden Chodenweiber beteten im Geiste inbrünstig, Gott möge ihnen Trost spenden.

Um diese Zeit herrschte in der vom Scheine zweier Wachskerzen, die auf einem bedeckten Tische neben dem Krucifixe brannten, beleuchteten Kerkerzelle Stille. An den Kerkerwänden bewegte sich der Schatten des Jan Kozina, der in Gedanken versunken auf und abging. Er war blass, aber ruhig. Er hatte von den getroffenen Vorbereitungen gehört, er wusste von der Teilnahme seiner Landsleute, über die ihm Jiskra durch Vermittlung seiner Mutter berichtet hatte. In dieser Teilnahme fand er Trost. Er fühlte, dass Lamminger keinen durchschlagenden Sieg errungen habe und dass ihm auch der morgige Tag diesen Sieg nicht bringen werde, trotzdem er sein Ziel – Kozinas Tod – erreicht hat.

Wie wird es aber fortan im Chodengau zugehen? Was wird mit seiner Familie geschehen?

Das waren zwei schwerwiegende Fragen, auf die er keine Antwort fand. – Er faltete die Hände und vertiefte sich in das Gebet. Dann liess er sich am Bette nieder. Nach kurzer Zeit stellte sich jedoch Ermüdung ein. Eine Ermüdung, die die Folge des angestrengten Denkens, der mächtigen Eindrücke und der tiefen Erschütterung war. Er neigte den Kopf und schlief sofort ein. Sein guter. Schlaf währte bis zur Morgendämmerung, bei der er sofort erwachte, als er im Schlosse den Schlüssel knarren hörte.

Man brachte ihm ein Frühstück, es war besser als sonst. Er berührte es kaum und nippte nur an dem Wein.

Sodann fanden sich – die Mutter, das Weib mit den Kindern und Jiskra ein. Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er sie erblickte. Das letztemal! Als sie in den letzten Tagen seinen Kerker zu verlassen pflegten, konnte er sich noch mit dem Gedanken trösten: sie werden ja nachmittags, morgen und dann morgen noch einmal wiederkommen. Jetzt gab es für ihn kein morgen mehr. Als er jedoch das blasse, bestürzte Antlitz, seiner Mutter und das seines Weibes sah, ermannte er sich.

»So Gott will, sterbe ich nicht vergebens – beim menschlichen Gerichte hat Lomikar seinen Prozess gewonnen, aber dort vor dem göttlichen Richterstuhle werde ich siegen – denn unsere Sache ist gerecht und ich muss schuldlos in den Tod gehen«

Die alte Mutter rang die Hände.

»Und ich trage an alledem allein die Schuld – Hančí hat recht, ich bin schuld an allem – hätte ich diese Majestätsbriefe nicht verwahrt – O, mein Sohn, verzeihe mir und auch du, Tochter!«

Jedermann, der diese unbeugsame Greisin kannte, hätte dieser Ausbruch des verzweiflungsvollen Schmerzes, dieser Aufschrei des gebrochenen Mutterherzens tief erschüttert. Rasch trat der Sohn zur Mutter und tröstete sie, sodann wandte er sich seinem Weibe zu und sprach mit bewegter Stimme:

»Sollte dies, Hančí, deine Ansicht sein, so bitte ich dich, dies nicht zu glauben und es der Mutter nicht zu verargen. Sie ist vollkommen schuldlos. – Was ich tat, hätte ich auch ohne sie getan; du weisst ja, dass ich es mir längst früher schon vorgenommen habe.«

Abermals beugte er sich zu den Kindern herab, sprach zu ihnen und streichelte sie. Dann, als hätte er sich erinnert, wandte er sich der Mutter zu und bat sowohl sie, als auch sein Weib um Verzeihung, weil er ihnen so grosses Leid zugefügt habe.

»Gott vergelt' euch all' euere Liebe – und hier nehme, Hančí« – er nahm die roten Schleifen von seinem, jetzt schon herabgekommenen Hochzeitsrocke. »Ich habe sie stets getragen und als einziges Andenken an unser Heim, an euch, aufbewahrt. – Die Gatten pflegen sie bei uns in das Grab mitzunehmen, aber hier dürfen sie nicht unter den –« Er sprach den Gedanken, dieses teuere Andenken und liebe Geschenk nicht zum Schafott tragen und es dadurch profanieren zu wollen, nicht aus.

Die Tür ging auf, es erschien der Kerkermeister von zwei vom Scheitel bis zur Zehe bewaffneten Soldaten gefolgt. Beim Anblicke derselben brachen die Weiber in Klagerufe und Weinen aus; Hančí war der Ohnmacht nahe. Kozina fing sie auf, umarmte sie, sodann die Mutter und die Kinder; diese behielt er am längsten in den Armen. Er liebkoste sie, segnete sie mit einigen wenigen Worten, die er mit zitternder Stimme sprach.

Auf dem Ringplatze hatte sich eine unzählbare Volksmenge angesammelt; da war Kopf an Kopf gestaut, man konnte sich nicht rühren und jeder war dort, wo er stand, wie in die Erde eingekeilt und konnte kaum Atem schöpfen. Die Fenster, die Giebel waren überall überfüllt, ja selbst auf die Dächer sind viele Neugierige hinaufgekrochen. Am ärgsten ging es vor dem Rathause zu, wo das Militär mit knapper Mühe die sich zum Tore drängende Volksmenge, die den Verurteilten sehen wollte, zurückzudrängen vermochte. Nächst des Tores stand vor dem Militär eine Gruppe von Choden. Achtundsechzig meistens hohe, stattliche, junge und alte Männer harrten hier, ohne Čakanen, ernst und finster vor sich blickend, der Ereignisse, die da kommen sollten. Aller Blicke galten ihnen, den von ihnen an den Händen gehaltenen kleinen und grösseren Kindern und einigen traurigen Chodenweibern in langen Pelzen. Die Leute zeigten mit den Fingern auf sie, sprachen von ihnen; doch die Blicke der Choden waren nur auf den Rathausflur gerichtet.

Da fuhren sie plötzlich zusammen. Man vernahm aus dem Rathause ein dumpfes Geräusch und Wehklagen. Gemessenen Schrittes traten Soldaten heraus und ihnen folgte – er! Kozina! Ihre Herzen pressten sich zusammen. Dies ist jener stattliche Mann, der von frischer Gesundheit nur strotzte. Wie abgehärmt, wie blass er ist! Aber wie fest ist sein Schritt, wie ist sein Haupt stolz erhoben! Alle hatten einen und denselben Gedanken, alle Choden traten vor, um ihn zu begrüssen, ihm noch einmal, zum letztenmale die Hand zu drücken. Die Soldaten drängten sie aber zurück, sie durften sich nicht rühren. Nur das konnten sie wahrnehmen, dass Kozina, als er sie sah, ihnen zulächelte. Die Eskorte blieb knapp vor dem Rathause stehen. Die Blicke des Gefangenen schweiften auf dem so lange vermissten Himmel herum. Dieser war klar und blau. Der Kerkermeister ermahnte nun Hančí und die alte Kozina zur Ruhe, da das Urteil verlesen werden soll.

Die Blicke aller auf dem Ringplatze Versammelten richteten sich zum Rathausbalkon empor, den einige Beamten betraten, von denen einer nochmals das Urteil des Halsgerichtes vorlas, damit es allen hier Versammelten klar sei, was der Verurteilte verbrochen hat.

Nach der Verlesung setzte sich auf ein gegebenes Zeichen der traurige Zug in Bewegung. In diesem Momente nahm einer der Choden, es war der alte Přibek, seine Pelzmütze ab, winkte mit der Hand in der Richtung gegen Kozina zu und rief:

»Lebe wohl, du unser Märtyrer!«

Seine Worte verklangen jedoch im Geräusche und Lärm der Menge und nur die nächsten haben des Greises Stimme vernommen. Auch Kozina hatte sie gehört, denn er sah sich in der Richtung, woher sie kam, um und winkte noch einmal – das letztemal – mit dem Kopfe den Choden zu. Sodann schritt er mutig ohne ein Zeichen von Todesangst durch die gaffende Menge. An seiner Seite war der Priester und in der Nähe die alte Mutter und das Weib, welches den kleinen Pavlík und Hanálka bei den Händen führte. Ihnen folgten Choden und Chodinnen; in der nächsten Nähe der alten Kozina ging Řehůřek Jiskra. Rechts und links das die Volksmassen zurückdrängende Militär. Wohl niemand aus der Menge, der den Verurteilten, seine Mutter und das im stummen Schmerze mit ihren unschuldigen kleinen Kindlein fortwankende Weib erblickte, behielt die Kraft, Tränen zu unterdrücken.

Nur langsam kam der Zug nach vorwärts. An der Spitze desselben marschierte eine Abteilung Soldaten, die durch die Menge die Bahn brach. Von hier aus hörte man die dumpfen Töne der bedeckten Trommel. Der Zug bewegte sich vom Rathause in die Prager Strasse. Vom Kirchturm erklangen die traurigen Töne des Sterbeglöckleins. Bei ihren ersten Klängen rang Hančí und die alte Kozina die Hände. Was um sie vorging, wussten sie nicht.

Hančí sah ringsum nur Nebel. In diesem Nebel löste sich alles auf und aus demselben drang an ihr Ohr nur ein wirres Geräusch und dumpfe Wirbel; nur die schrecklichen Töne der Sterbeglocke, die sie verfolgten, hörte sie klar. Ihr Herz drohte zu brechen, Krämpfe pressten ihr die Brust zusammen, weinen vermochte sie nicht mehr. Sodann begannen unter ihr die Füsse zu schwanken, die Knie zitterten und eine schwere Ohnmacht begann ihre Sinne zu umhüllen. Die Chodischen Nachbarinnen merkten es wohl, wie sie taumelte.

Kozina hielt inne und mit ihm machte der ganze Zug halt. Man war eben in der Prager Gasse. Alles sah sich um, was da eigentlich vorgehe; es verlautete allgemein in der nächsten Umgebung und teilte sich dann auch der weiteren Menge mit, die Bäuerin sei der Ohnmacht nahe. Alle, sowohl die Umgebung als auch die Bürger in den Fenstern, bedauerten sie. In diesem Momente flog ein Silberstück durch die Luft, ihm folgte ein zweites Goldstück, sodann ein drittes und hernach erglänzte eine Goldmünze, die mit anderen Hančí, die man auf eine Steinbank vor einem Hause gebracht hatte, in den Schoss fiel. Wollte man der Bäuerin auf diese Weise das Mitleid bekunden oder der Ärmsten eine Entschädigung bieten? Heftig griff sie nach dem Gelde und warf es, als ob es glühende Kohle oder ein hässliches Insekt wäre, von sich und rief:

»Gebt mir meinen Mann wieder!«

Man trachtete sie zu bewegen, sie möge zurückbleiben. Aber geradezu, als wenn sie plötzlich neue Kräfte geschöpft hätte, erhob sie sich und setzte den traurigen Weg fort. Der Zug passierte das Prager Tor und bewegte sich über die jetzige Vorstadt, die damals fast nur aus Gärten bestand. Es war ein klarer, kalter Tag. Als der immense Volkszug sich freier ausbreiten konnte, ergoss er sich in die Breite und viele eilten auf die Anhöhe, auf der der Galgen aufgerichtet war, voraus. Den Richtplatz umstellte hier das Militär, ein Karree bildend. In diesem Viereck nahmen an der Spitze der Militärabteilung gegenüber dem Galgen die Ratsherren, die Beamten, die berittenen Offiziere, darunter auch der Kreishauptmann Hora, Aufstellung. Neben den Kreishauptmann postierte sich Herr Lamminger Freiherr von Albenreuth. Der in einen dunkelgrauen Mantel gehüllte Edelmann konversierte mit dem Kreishauptmanne. Das sommersprossige Gesicht des Chodenschlosser Herrn war, wie immer, ziemlich blass, doch ruhig. Als jedoch der Verurteilte das Karree betrat, blinzelten seine lichten Augenwimpern rasch.

Lamminger beobachtete ihn scharf und liess von ihm die Augen nicht ab. Kozina schreitet fest, vollkommen ungebrochen – welch' ein Dickschädel! Ruhig vernahm er das nochmals vorgelesene Urteil. Der Augenblick des Scheidens war gekommen. Er umarmt das Weib, die Mutter, die Kinder, küsst sie – Lamminger betrachtete diese herzbrechende Szene, er sah den Schmerz der Chodenweiber und das Weinen dieser kleinen Kinder drang bis an sein Ohr, doch auch nicht eine Muskel seines Gesichtes verzog sich dabei.

Er beachtete nur Kozina, mit scharfem Blicke verfolgte er ihn, als er sich von seiner Familie losriss und dem Galgen entgegen schritt. Der Schritt ist fest, er wankt nicht, mannhaft und emporgehobenen Hauptes geht er vor, und jetzt, nachdem er das ihm vom Priester dargereichte Kreuz geküsst, steigt er ungebeugt mit festem Fusse die Leiter empor – dort erwartet ihn der Henker und der Tod. Rund umher trat tiefe Todesstille ein. Tausende von Menschen blickten voll Spannung, fast atemlos dahin. Es wehte ein kalter Wind herüber, die Federbüsche der Herrenhüte flatterten heftig in der Luft, durch die der Wind plötzlich aus jener Richtung, wo zwei Bäuerinnen Kozinas Kinder wegtrugen, einen herzzerreissenden Aufschrei überbrachte. Die alte Mutter droht der Ohnmacht zu erliegen. Doch plötzlich richtet sich die Greisin empor, als wenn sie neue Kräfte geschöpft hätte und blickt dorthin.

Der Verurteilte, welcher unter dem Galgen stehen blieb, sah um sich, blickte nach der Stadt hinunter, sein Blick streifte die ferne Gegend, verweilte auf den ungeheueren Volksmassen, die wie ein lebendiger See den traurigen Hügel umfluteten. Er bemerkte im Militärkarree seine betrübten Landsleute; so mancher von ihnen ballte die Fäuste, allen standen Tränen in den Augen und einige, wie Jiskra Řehůřek, schluchzten laut. Er sah sie alle, er sah auch sein Weib, die Mutter, doch jetzt – er blickt hinüber zu den Herren – Er erkennt dort den auf dem Rappen, er erkennt Lamminger, der die Augen von der Leiter nicht abwenden kann. Kozina richtete sich stramm empor, blickte ihm scharf, wie damals bei Sykas Erbrichterei, in die Augen – Und hört! Alle fuhren zusammen, die Herren, der Henker, alle sind wie betäubt.

»Lomikar!« rief Kozina mit mächtiger, vor letzter tiefer Erregung bebender und in diesem Augenblicke schrecklich klarer Stimme. Noch einmal schoss Röte in seine blassen Wangen, noch einmal flammten seine Augen auf.

»Lomikar! Von heute über ein Jahr werden wir mitsammen vor dem Richterstuhle Gottes stehen, da wird es entschieden werden, wer von uns beiden–«

In diesem Augenblicke gewann der kommandierende Offizier seine Fassung wieder. Sein gezückter Degen erglänzte durch die Luft, der Henker zog die Schlinge an und Kozinas beredter Mund verstummte. Jan Sladký, genannt Kozina, war nicht mehr.

Der über das Vorgefallene ganz empörte Kreishauptmann sprach etwas zu Lamminger. Dieser hörte zwar totenbleich zu, wusste aber kaum etwas davon, was ihm der Hauptmann erzählte. Auf seinen Lippen schwebte ein unsicheres Lächeln. Erst als ihn der Kreishauptmann darauf aufmerksam machte, dass das gesamte Volk sie beobachte, fand er seine Fassung wieder.

Sein Blick fiel auf den Galgen.

»Er hängt,« sprach er und atmete erleichtert auf; sodann wendete er das Pferd. Rings herum knieten Tausende und beteten mit dem Priester für den Toten.

Nicht allein im Karree, in dem die Landsleute des Hingerichteten waren, sondern auch in der grossen Menge konnte man ein heftiges Weinen und Schluchzen vernehmen. Als die Herren sodann durch die Volksmassen in die Stadt rückkehrten, bekam Lamminger sonderbare Dinge zu hören. Er hörte und sah, wie man auf ihn deutete und wie aus der Menge Rufe ertönten:

»Das ist er! Das ist dieser Henker! Der hat ihn hinrichten lassen!«

»Wie es wohl mit ihm dorten ausfallen wird, wohin ihn Kozina vorgeladen hat!«

»In Jahr und Tag von heute an! Habet ihr gehört? Von heute in einem Jahr, hochgeborener Herr!«

Unwillkürlich trieben die Herren ihre Pferde zum Trabe an.


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